Die kennen uns jetzt in Jakarta“

Zu Besuch bei Sil­via und Lutz Freyer

Es ist Frühlingsanfang und wie bestellt strahlt die Sonne am wolkenlosen Himmel, als wir am Jungfernkopf an der nördlichen Stadtgrenze Kassels ankommen. Und da steht sie bereits und begrüßt uns mit ihrer zurückhaltenden, aber offenen Art: Silvia Freyer, Kuratorin, Organisatorin und das eigentliche Herz des 2012 zur documenta 13 reaktivierten Hugenottenhauses in Kassel.
Wir gehen mit ihr in den verwunschenen Garten, mehrere Teiche gibt es hier und mächtige Bäume werfen ihre Schatten auf das unkonventionell umgebaute Wohnhaus. Ein Refugium zum Wohlfühlen – Silvia schüttelt hier die „Irritationen, welche die ganzen Corona-Maßnahmen hervorbringen“ und die für sie „bis tief in den Körper reingehen“, ab und der Garten helfe ihr, wieder Fuß zu fassen und auch innerlich zur Normalität zurückzukehren.

Beuys und die Freyers

Im Haus kommt dann auch Lutz Frey­er dazu und gemein­sam beginnt ange­sichts von „40 Jah­re 7000 Eichen“ eine rege Dis­kus­si­on zum The­ma Beuys und wie aktu­ell sei­ne Visio­nen heu­te noch sind. Hel­mut Pla­te merkt an, dass sei­ne Inhal­te aktu­el­ler denn je sei­en, aber das Inter­es­se sei­tens der Stadt gegen null ten­die­re. (https://welt-kunst-kassel.de/100-stimmen-zu-beuys/). Das Erken­nen der Bedeu­tung von Bäu­men für Kli­ma­schutz und Lebens­qua­li­tät in den Städ­ten war vor 40 Jah­ren in ande­ren städ­te­bau­li­chen Kon­zep­ten kein The­ma, und auch heu­te ist Stadt­ver­wal­dung und weni­ger Ver­wal­tung wei­ter­hin gefragt.
Nah an Beuys „Sozia­ler Plas­tik“ sind auch die Arbei­ten von Sil­via und Lutz, denn ihre Kunst wirkt raum­be­zo­gen in die Stadt. Vor 20 Jah­ren gab es die Idee eines „Stadt­teil­mu­se­ums“, einem Obe­lis­ken in der Grö­ße einer Tele­fon­zel­le. Ver­se­hen mit vier Glas­schei­ben, die die aus­ge­stell­ten Objek­te aus allen vier Him­mels­rich­tun­gen sicht­bar macht. Die­se soll­ten in den Kas­se­ler Stadt­tei­len auf­ge­baut wer­den und jeden Monat wür­den die so gewon­ne­nen öffent­li­chen Aus­stel­lungs­flä­chen von den Bür­gern neu bespielt. Lei­der konn­te das Pro­jekt nie umge­setzt wer­den, aber das par­ti­zi­pa­ti­ve und inter­ak­ti­ve Ele­ment ist ein Grund­ge­dan­ke in den Arbei­ten von Sil­via und Lutz.

erste hilfe – first aid

Nach die­sem lau­ni­gen Ein­stieg kom­men wir aber schnell zum eigent­li­chen Grund unse­res Besuchs: Die Aus­stel­lung „ers­te hil­fe – first aid“, die vom 18.Juni bis 25. Sep­tem­ber 2022 im Huge­not­ten­haus die docu­men­ta fif­teen begleitet.

Wie kam es zu der Idee von ers­te hil­fe? Das Pro­jekt, das war den bei­den klar, soll­te zum docu­men­ta-Jahr „15“ hei­ßen. Da hagel­te es bereits Kri­tik aus dem docu­men­ta-Forum, deren Vor­stands­mit­glied Lutz Frey­er war. Als ob man ein allei­ni­ges Recht auf die Zahl „15“ in Anspruch neh­men könn­te. Sil­via stand gera­de am Herd und Lutz durch­stö­ber­te das Web nach Kon­no­ta­tio­nen zu „15“, um die Wogen zu glät­ten, und stieß auf „first aid“. Ein Lächeln von Sil­via, und das Mot­to der Aus­stel­lung war gebo­ren, in dem Ernst­haf­tig­keit und Humor mit­schwin­gen, und schnell kamen Dut­zen­de von Asso­zia­tio­nen und Ideen: Das Huge­not­ten­haus in sei­nem täg­li­chen Kampf ums Über­le­ben braucht ers­te Hil­fe, das Welt­kli­ma, Geflüch­te­te, die Stadt­po­li­tik und ganz aktu­ell die Ukrai­ne. Aber auch abseits des Glo­ba­len kann jeder Ein­zel­ne bei sei­nem indi­vi­du­el­lem Pro­blem­feld ers­te Hil­fe zur Bewäl­ti­gung von Schwie­rig­kei­ten gebrauchen. 

Da die­ses Aus­stel­lungs­pro­jekt (das betont Sil­via Frey­er: „Wir machen Aus­stel­lungs­pro­jek­te und kei­ne Aus­stel­lun­gen!“) bereits das vier­te im Huge­not­ten­haus ist, für wel­ches das Kura­to­ren­team und Lie­bes­paar sich ver­ant­wort­lich zeigt, haben die bei­den ein gro­ßes Netz­werk und sich einen excel­len­ten Ruf erar­bei­tet. An Zusa­gen von hoch­ka­rä­ti­gen Künst­le­rin­nen und Künst­lern man­gelt es wie­der nicht. Die­se ver­trau­en den Bei­den im Hin­blick auf die Kon­zep­ti­on – per­sön­li­che Eitel­kei­ten blei­ben außen vor. Neid­voll dürf­ten die Kura­to­ren der gro­ßen Insti­tu­tio­nen auf Sil­via und Lutz bli­cken: Frei und unab­hän­gig zu arbei­ten und die Mög­lich­keit der Ent­fal­tung und Ver­wirk­li­chung von Ideen und Wün­schen umzu­set­zen, ist unter dem Insti­tu­tio­nen­kor­sett so nicht möglich.

Was kann Kunst leisten?

Mit dem Aus­stel­lungs­pro­jekt ers­te hil­fe – first aid wird das Spek­trum aus­ge­lo­tet, wie sich Künstler:innen den viel­fäl­ti­gen For­men von Not zuwen­den und dar­auf frei mit künst­le­ri­schen Mit­teln ant­wor­ten. Was kann Kunst leis­ten?
Man­che Künst­ler haben sich sogar ange­bo­ten, Ers­te Hil­fe zu geben: Eva und Ade­le mel­de­ten sich und nach einem gemein­sa­men Tele­fo­nat war klar, die­ses unkom­pli­zier­te und offe­ne Künst­ler­paar ein­zu­la­den, sich an dem Pro­jekt zu betei­li­gen.
Auch Tho­mas Schüt­te war nach einer Visi­te durch die Räu­me des Huge­not­ten­hau­ses begeis­tert von den Mög­lich­kei­ten und hat sei­ne Teil­nah­me zuge­sagt. Von ihm gibt es, aus­ge­sucht von Sil­via Frey­er, den „Gene­ral“ zu sehen – eine etwas gebro­chen wir­ken­de Skulp­tur, von einem Hemd wie von einer Zwangs­ja­cke umwi­ckelt. Sie wirkt gru­se­lig und der Titel irri­tiert den Betrachter.

100 Menschen – 100 Tage

Beglei­tend zu der Aus­stel­lung initi­iert Lutz Frey­er das Film­pro­jekt 100 Men­schen –
100 Tage, in dem jeden Tag eine Per­son die Mög­lich­keit hat, in drei Minu­ten sei­ne per­sön­li­che Erfah­rung, sein prä­gen­des Erleb­nis zum The­ma Ers­te Hil­fe zu erzäh­len. Dabei geht es nicht zwin­gend um erleb­te Unfäl­le: Ein schö­nes Bei­spiel ist die Geschich­te eines Jugend­li­chen, der sich um die „Emde­ner Gans“ küm­mert, von der es nur noch 300 Exem­pla­re gibt, und dort muss ers­te Hil­fe zum Erhalt die­ser Geflü­gel­art geleis­tet wer­den. Es wird vie­le ver­schie­de­ne Geschich­ten geben und es soll zu Gesprä­chen ani­miert wer­den. Der Zusam­men­schnitt der 300 Minu­ten wird ein inte­gra­les Ele­ment des Aus­stel­lungs­pro­jek­tes sein.

Die kennen uns jetzt in Jakarta“

Nach­dem das Huge­not­ten­haus zur docu­men­ta 13 offi­zi­el­ler Aus­stel­lungs­ort, aber zur docu­men­ta 14 kei­ne Rol­le spiel­te, stellt man sich die Fra­ge, wie­so nun wie­der eine Koope­ra­ti­on statt­fin­det. Da kommt die inhalt­li­che Nähe der Frey­ers zu dem Kon­zept der Künst­ler­grup­pe ruan­grupa aus Indo­ne­si­en ins Spiel: Das Kol­lek­ti­ve und Par­ti­zi­pa­ti­ve an der Kunst her­aus­zu­stel­len und kei­ne Kunst­markt-Kunst im Sinn zu haben, hat schnell eine gegen­sei­ti­ge Wert­schät­zung und Begeis­te­rung hervorgerufen.

Als dann Frau Dr. Sabi­ne Schor­mann, Gene­ral­di­rek­to­rin der docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH, die aus Jakar­ta, der Haupt­stadt Indo­ne­si­ens, zurück nach Kas­sel kam und ver­kün­de­te, ruan­grupa wer­de die dies­jäh­ri­ge docu­men­ta kura­tie­ren und sie das Huge­not­ten­haus in Indo­ne­si­en aus­drück­lich lob­te, bemerkt Lutz Frey­er „Die ken­nen uns jetzt in Jakar­ta“.
Das Huge­not­ten­haus ist zwar kein offi­zi­el­ler Aus­stel­lungs­ort der docu­men­ta fif­teen und mone­tä­re Zuwen­dun­gen blie­ben auch aus, aber sie sind im guten Aus­tausch und ein paar gemein­sa­me Ver­an­stal­tun­gen gab es bereits und sind auch noch geplant.

Untouchable – Kunst zum Anfassen

Was kommt nach der docu­men­ta, was pas­siert 2023 im Huge­not­ten­haus? Sil­via und Lutz zucken mit den Ach­seln: „Wir machen das, was uns in der jewei­li­gen Lebens­si­tua­ti­on bewegt, was für uns in die­sem Moment Rele­vanz hat“. Es gibt Ideen wie „film­reif“, ein rei­ne Video- und Film­aus­stel­lung oder „untoucha­ble“, alle Kunst­wer­ke dür­fen und sol­len ange­fasst wer­den. Aber da kommt wie­der die Frei­heit zum Tra­gen, die Sil­via und Lutz Frey­er bei Ihrer Arbeit genie­ßen dür­fen: „Lass uns die­ses Jahr mit die­sen Impres­sio­nen des Lebens abschlie­ßen, nächs­tes Jahr wis­sen wir, was uns dann bewe­gen wird“. Beneidenswert.

[ Ger­rit Bräu­ti­gam | Redaktion ]