Die Menschen des Kasseler Kulturbetriebs sind hier in der Minderheit. Erfrischend unkonventionell geht es zu, die Stimmung ist gelöst und im Gegensatz zu vielen anderen Ausstellungseröffnungen hat man hier nicht das Gefühl von fast sakraler und erhabener Attitüden. Man genießt die gemeinsame Zeit mit allerhand verbalen Nichtigkeiten und Flachsereien und hat Freude an der Komischen Kunst, die im elitären Kunstbetrieb immer noch nicht richtig ernst genommen wird. Warum eigentlich nicht?
„Im Rahmenprogramm unserer Ausstellung gibt es auch dieses Jahr wieder die documenta zu sehen“, wie Sonntag in seiner Eröffnungsrede bemerkt. Tatsächlich hat die Caricatura dieses Jahr wieder groß aufgefahren und auf dem Rainer-Dierichs-Platz eine temporäre Ausstellungshalle errichtet. Auf 450 Quadratmetern geben Künstlerinnen und Künstler weltpolitische Empfehlungen der Komischen Kunst ab. „Wer schon mal ein Carport gebaut hat, weiß, was so ein Bau bedeutet“, so Martin Sonntag weiter.
Vor fünf Jahren präsentierte die Caricatura bereits Cartoons zur Schieflage der Welt, nichtsahnend, dass dies erst der Anfang und nicht der Höhepunkt des Irrsinns in der Welt war. Der rasant fortschreitende Klimawandel, das Erstarken rechter Kräfte auf der ganzen Welt und zu allem Übel ein wahnsinniger Despot, der einen Angriffskrieg in Europa führt; die Zielstrebigkeit, in der die Menschheit ihre eigene Vernichtung vorantreibt, ist bemerkenswert. Die Corona-Krise wirkte für all das als Brandbeschleuniger und zeigte, wie schnell funktionierende Systeme ins Wanken geraten können.
Der Krieg war auch der Auslöser für ein „Ukraine spezial“, das man bereits seit März digital besuchen kann. Im Timeline-Format zeichnen sie die Geschehnisse unter www.caricatura.de/systemfehlerhoch2/ukraine-spezial nach. Die digitale Sammlung zielt dabei nicht auf unangemessene Lacher ab, sondern spielt andere Stärken der Komischen Kunst aus: die Fähigkeit zur Analyse, zum Kommentar und zur Kritik. Nun sind viele der Werke auch Teil der Ausstellung.
Die offizielle Eröffnungsrede blieb dem Satiriker und ehemaligen Chefredakteur der Titanic Oliver Maria Schmitt vorbehalten: „Die gute Nachricht gleich mal vorneweg: Donald Trump und Wladimir Putin werden noch in diesem Winter heimlich in Rom heiraten, Luisa Neubauer und der Papst furzen dazu den Hochzeitsmarsch, und alle zusammen sind dabei live auf Instagram und auf Crack. Das bedeutet vor allem eines: Vorfreude total!…Wenn angebliche ‚alternative Wahrheiten‘, die von Regierungssprechern allen Ernstes verbreitet werden, ganz offenkundig schlecht ausgedachte Witze sind, dann sollten gut ausgedachte Witze und noch besser gezeichnete Cartoons ab jetzt nur noch eines zeigen: die reine, schöne und unverstellte Wahrheit“.
Er entlarvte mit gut gesetzten verbalen Peitschenhieben die Scheinheiligkeit der politischen Granden und uns aller. (siehe unten)
Die Ausstellung macht deutlich, dass die Komische Kunst ein gutes Mittel ist, das Leben zu erklären, uns allen einen Spiegel vorzuhalten und, wenn es richtig gut läuft, Ressentiments gegenüber allem Fremden abzubauen und aktiv aufzuklären.
[ Gerrit Bräutigam | Redaktion ]
Offizielle Eröffnungsrede des Satirikers und ehemaligen Chefredakteurs der Titanic, Oliver Maria Schmitt.
Null Systemfehlertoleranz!
Warum Liebe, Bier und hochkomplexe Pointendatenbanken völlig unlustig sind.
Die gute Nachricht gleich mal vorneweg: Donald Trump und Wladimir Putin werden noch in diesem Winter heimlich in Rom heiraten, Luisa Neubauer und der Papst furzen dazu den Hochzeitsmarsch, und alle zusammen sind dabei live auf Instagram und auf Crack. Das bedeutet vor allem eines: Vorfreude total!
Schade nur, dass sich diese vielversprechende Meldung gerade nicht verifizieren lässt. Dabei hat der Chatbot, der sie ausgespuckt hat, hoch und heilig versichert, dass die Meldung ausschließlich auf seriösen und validen Fakten beruhe. Also was nun – glauben wir das? Oder ist das Ganze nur ein Witz? Nur lächerlich, aber nicht lustig?
In der sehr nahen Zukunft, das haben Experten zuverlässig ausgerechnet, wird Komik nicht mehr von Menschen gemacht, sondern von Sprachprogrammen generiert werden, von Bots und Künstlichen Intelligenzen (KI). Schon jetzt können Hochleistungscomputer auf Befehl lustige Bilder produzieren. Hochkomplexe Algorithmen erstellen hochkomische Bilder, die beispielsweise einen Stuhl mit einer Gurke drauf zeigen oder eine politische Karikatur in der „Süddeutschen Zeitung“ oder einfach nur ein Foto von Guido Cantz.
Auch die rechnergestützte Verfertigung semantischer Scherze ist bereits möglich. Einer der besten rechnerbasierten Oneliner geht so: „Neulich sagte ich zu meiner KI, dass ich Bier liebe.
Darauf fragte sie: ‚Was ist das?‘
Und ich so: ‚Bier, das ist ein alkoholisches Erfrischungsgetränk auf Getreidebasis.‘
Und die KI: ‚Nein, was ist Liebe?‘“
Für den Anfang gar nicht so schlecht, möchte man meinen. Doch lässt man den Computer mal die ungeheuren Pointendatenbanken der verstorbenen Witzereißerlegende Fips Asmussen durchforsten, dann kommen sofort sehr viele sehr ähnliche Gags zum Vorschein, sie treten zutage und zunacht. Und die hat Asmussen schon vor Jahrzehnten ganz allein errechnet, nur mit semikünstlicher oder auch gar keiner Intelligenz – mit dem sprechenden Kopf, der unter seinem dem Minipli appliziert war, ganz allein, ohne Computer.
Was aber wird geschehen, wenn die KI mal versagt? Wenn sich ein Programmierfehler ins System einschleicht, wenn das Pointenprogramm sich aufhängt und plötzlich einen Guido Crantz ausspuckt, der mit einer Gurke auf einem Stuhl sitzt und dabei aus der Süddeutschen vorliest?
Wie bitte? Das sieht dann aus wie das ganz normale Fernsehprogramm an einem Samstagabend? Nun gut, das ist wahrlich erschreckend. So zeigt dann allein schon dieses fürchterliche Gedankenexperiment, warum man Systemfehler unbedingt vermeiden sollte.
Dennoch hat die vollautomatisierte Pointenproduktion einen gewaltigen Vorteil: Riesige Mengen unguter Witze können auch sofort wieder gelöscht werden, wie etwa den von dem alternden Kabarettisten, der auf die Bühne geht, um darüber zu jammern, dass man „nichts mehr“ sagen könne und keine Witze mehr über die eigene hässliche Frau, über begriffsstutzige Ausländer, über „Zigeunerschnitzel“ oder gar „Negerküsse“ machen dürfe. Wirklich schlimm. So wie sich unsere Gesellschaft jedoch verändert, so ändern sich auch ihre Witze. Wäre noch schlimmer, wenn das nicht so wäre. Keiner will doch wirklich werden oder bleiben wie Dieter Nuhr jetzt schon ist.
Solche Witzemacher haben ebenso wenig eine Zukunftschance wie die humoristischen Auslaufmodelle Wladimir Trump und Donald Putin. Beide beendeten ihre Karriere mit extrem schlechten Witzen: Der eine ließ das Kapitol stürmen, der andere die Ukraine – im Despotenranking also ein klares Unentschieden, beide scheiden sofort aus und müssen nun in der Strafecke auf ihren Prozess warten.
Derlei komplexe Zusammenhänge werden einer heranwichsenden Jugend immer seltener durch Zeitungsseiten oder Nachrichtensprecher vermittelt, dafür aber immer häufiger durch Komiker.
Es war der amerikanische TV-Mann Jon Stewart, der Mitte der Zehnerjahre erstmals für eine Mehrheit der US-Jugendlichen zur wichtigsten Nachrichtenquelle geworden war. Und bei uns wandelte der Fernsehsatiriker Jan Böhmermann sein wöchentliches „ZDF Magazin Royale“ von der Stand-up-Internetshow zur tief recherchierten monothematischen Aufklärungssendung.
Ist ja aber auch kein Wunder. Wenn angebliche „alternative Wahrheiten“, die von Regierungssprechern allen Ernstes verbreitet werden, ganz offenkundig schlecht ausgedachte Witze sind, dann sollten gut ausgedachte Witze und noch besser gezeichnete Cartoons ab jetzt nur noch eines zeigen: die reine, schöne und unverstellte Wahrheit.
Die haben wir uns nämlich auch redlich verdient. Denn sind wir Deutsche nicht, wie Nietzsche schon mutmaßte, zutiefst „ironische Thiere“? Durchaus entgegen der landläufigen Meinung ist nämlich gerade das deutsche ein „Volk von Humoristen“ (J. Habermas), das sich für einen nachhaltigen Lacher noch nie zu schade war – selbst wenn’s auf eigene Kosten geht. Wer ohne mit der Wimper zu zucken zwei Weltkriege vom Zaun bricht, ohne auch nur einen einzigen zu gewinnen, der und die muss schon ein recht sonniges, ja unerschütterliches Gemüt haben.
Nicht nur strauchelnde Politiker und zu kleine Hunde sind lächerlich, sondern auch Prophezeiungen. Daher soll hier zu schlechter Letzt noch eine gemacht sein: Sie werden sich glücklich schätzen, dass praktisch ausnahmslos alle Cartoons in dieser Ausstellung von echten Menschen stammen. Die meisten jedenfalls. Nur einige sehr schlechte (ich darf hier leider keine Namen nennen!) musste das Caricatura-Team aus Kostengründen von indonesischen Jokebots generieren lassen. Die sind dann ab nächster Woche hier über die ganze Stadt verteilt.
Denn dann bittet der internationale Humorstandort Deutschland die Welt zum größten Witz überhaupt: zur documenta 15. Sie wird in diesem Jahr offiziell „documenta fifteen“ heißen, denn das ist international und wird sogar in Fulda verstanden oder von den indonesischen Communities in Hessisch Sibirien, also in den traditionellen Elendsgebieten zwischen Bad Wildungen und Bad Zwesten.
Und eine weitere Neuerung: Wegen des großen Misserfolges vor fünf Jahren wird die Documenta erstmals nicht wieder in Athen stattfinden. Sondern als internationales WG-Bastel- und Reisscheunenfestival über alle Zeitzonen dieser Erde verteilt sein.
Jetzt fragen sich natürlich viele hier: „Documenta – wer oder was ist das?“ Das sind die Menschen, die immer nur die Caricatura besuchen, wenn sie nach Kassel reisen. Nun, die weltberühmte Documenta ist eine Art mit Kunst aufgepimpter Bundesgartenschau von einzigartigem Rang. Für den Zeitraum von hundert Tagen wird sich die stolze Pökelfleischsstadt Kassel in das „Museum der 100 Tage“ verwandeln.
Wegen der Inflation kostet das Tagesticket schlappe 27 Euro, und wenn die Inflation weiter krass ansteigt, dann wird aus dem Tages- ein Ein-Stundenticket. Dafür gibt es dann aber eine riesige Auswahl phantastischer Kunstwerke zu sehen, von denen man einige ausdrücklich berühren darf, andere hingegen nicht. Viele Künstler*innennamen wird man noch nie gehört haben, aber das macht nichts, denn das Zeug wird hinterher sowieso weggeschmissen.
Insgesamt, so schätzen Experten jetzt schon, wird im Kasselanischen „Museum der 100 Tage“ Kunst im Wert von mindestens 228 Millionen Euro zu sehen sein. Voraussichtlich werden groß- und mittelformatige Bilder und unförmige, längliche Plastiken aus Verbundwerkstoffen zu sehen sein, Flachbildschirme mit verwackelten Videos, wo einer schreit oder zittert,
auch Klangskulpturen scheppern und quietschen vor sich hin,
ferner erwarten uns von globalisierungsgebeutelten Sweatshophäftlingen zusammengeleimte Mobiles mit rätselhaften Motiven, zentnerschwere Raumverbraucher aus nordamerikanischer Fertigung, eine begehbare Schrottskulptur, eine barrierefreie Behindertentoilette, die aber gar keine Toilette ist, sondern eine täuschend echte Replik, wo man dann seinen eigenen Standort hinterfragen muß,
außerdem sehen wir verstörende Assemblagen, Collagen und Potpourris aus von ihrer ursprünglichen Funktion beraubten Gebrauchsgegenständen, einen schlafenden Museumswärter aus glasfaserverstärktem Kunststoff,
ein Tryptichon mit zwei fehlenden Bildern zum Preis von einem, ein herausgemeißeltes Graffito, das von einem sozialen Brennpunkt dieser Erde stammt, eine indonesische Reistafel, ein Farbfernseher, eine Trockenhaube und ein Fragezeichen, und dann noch ein Fabergé-Ei mit Straßstein-Intarsien von Franklin Mint mit einer süßen Katze drauf, es ist hochwertig verarbeitet, ein bleibender Wert, man kann jederzeit Verwandte und Freunde damit beeindrucken.
Das Zauberwort der diesjährigen Saison lautet jedenfalls: Skulptur, gern auch als soziale – und, falls sie im Internet gepostet wird – auch asoziale Plastik. Die ist nämlich absolut im Kommen! Diese ganzen konkret gemalten Bilder von isolierten Menschen sind ja mittlerweile viel zu teuer. Und längst ist die Skulptur nicht mehr „das, worüber man stolpert, wenn man von einem Gemälde zurücktritt“, wie es der amerikanische Maler Ad Reinhardt einmal formulierte, sondern das, was man kauft, wenn alle anderen es auch halbwegs preiswert kaufen, bevor es dann zu teuer wird.
Da jedoch traditionell pro Documenta mindestens ein Großkunstwerk im Kataster Kassels verbleibt, befürchtet man schon jetzt die anschließende baurechtliche Übernahme des Überraschungskunstwerkes mit dem schönen Namen „Komposthaufen“. Darauf soll dann alles geworfen werden dürfen, was in Kassel Rang und Namen hat, und das ist zum Glück nicht wirklich viel.
Also: Nur noch ganz wenige Male aufwachen, dann dreht sich die Kunstwelt nicht mehr um Basel, Venedig oder New York, denn dann öffnet die weltweit bedeutendste Ausstellung gutaussehender, moderner und leider auch teurer Kunst ihre Pforten: Vom 20. bis 25. September ist in Hannover die IAA Transportation Messe, die Internationale Automobil Ausstellung für Brummis, Laster und LKW – ich kann Ihnen das wirklich nur empfehlen und ans Herz legen. Natürlich hat diese Veranstaltung einen hohen Preis – Sie müssen dafür nach Hannover reisen. Aber ich finde: wer aus Kassel kommt, dem gefällt’s überall, und woanders ist es sowieso mindestens immer genau so beschissen wie zuhause.
Ob die fifteente Kasselinische Documenta ein voller Erfolg wird, ein Debakel oder nur ein Etappensieg auf dem Weg vom Haufen zum Kompost – das ist also unsicher wie der Nachtisch in der indonesischen Lumbunghütte. Sicher ist nur: Am Sonntag, dem 25. September ist Schluß. Und am Montag, dem 26. September – auch das eine Neuerung – werden sämtliche Werke, die keinen Abnehmer gefunden haben, zum halben Preis verramscht. Schnäppchenjäger also aufgepasst!
In der Zwischenzeit können Sie sich aber auch jederzeit unterhalten und belehren lassen, und dafür ist seit kurz nach dem zweiten Weltkrieg immer noch die Caricatura in Kassel zuständig. Die arbeitet nämlich immer mit den neuesten Joke- und Witzprogrammen, und die arbeiten zuverlässig mit den allerneuesten Betriebssystemfehlern direkt aus der Cloud oder der nordhessischen Tundra.
Und die sind, wir hörten’s eingangs schon, gar nicht mal soooo unterkomplex, obwohl sie strenggenommen nur ein einziges Witzmuster generieren können: Das fängt meistens an mit Donald Trump und Wladimir Putin, mit der Neubauer und dem Papst… aber, naja, das hatten wir ja schon.
So komme ich zum Ende meiner Eröffnungsrede, obwohl es noch hell draußen ist. Aber das haben wir mit Absicht so geplant, damit alle hier Versammelten noch die Chance haben, Kassel bei Tageslicht zu verlassen. Und sich vorher natürlich die Ausstellung anzuschauen. Und die eröffne ich mit den seit der Eröffnung der ersten Ausstellung der Welt in Kassel mit den Worten: „Die Ausstellung ist eröffnet!“
Mahlzeit.
Caricatura – Galerie für Komische Kunst
KulturBahnhof
Rainer-Dierichs-Platz 1 | 34117 Kassel
Öffnungszeiten:
Dienstag – Samstag 12 – 19 Uhr
Sonntag und Feiertage 10 – 19 Uhr
E‑Mail: info@caricatura.de
www.caricatura.de