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Befreiung und Flucht, Stigma und Tabu

Suizid. Let´s talk about it!
Ausstellung im Museum für Sepulkralkultur
vom 10. September 2021 bis 03. April 2022

Es ist ein kalter, aber sonniger Tag an diesem 02. März und auf dem Dach der in unmittelbarer Nachbarschaft gelegenen Grimmwelt tummelt sich ein verliebtes Pärchen; daneben sitzt ein Mann mit einem Buch in der Hand und eine Gruppe Jugendlicher stehen mit Energy-Drinks am Rand des Daches und blicken über die Kasseler Südstadt. Leise wehen Fetzen von deutschem Sprechgesang hinüber zum Eingang des Sepulkralmuseums, Azads „Blocktränen, die ich weine“. Die Melancholie des Songs ist ein passender Begleiter zu der Sonderausstellung
„Suizid. Let´s talk about it“.

Selbsttötung im persönlichen Kontext

Am 24. Janu­ar 1992 eröff­ne­te die­ses ein­zig­ar­ti­ge Muse­um auf dem Wein­berg, wel­ches sich unab­hän­gig und aus­schließ­lich nach kul­tu­rel­len und wis­sen­schaft­li­chen Maß­stä­ben mit dem gesam­ten Spek­trum von Ster­ben und Tod beschäf­tigt. Am Anfang wur­de aus­schließ­lich über die Geschich­te der Sepul­kral­kul­tur berich­tet, das änder­te sich aber mit der Aus­stel­lung „Last Minu­te – Eine Aus­stel­lung zu Ster­ben und Tod“ im Jahr 2000, mit der ein Para­dig­men­wech­sel ein­ge­läu­tet wur­de. „Last Minu­te“ beschäf­tig­te sich mit dem Ster­ben aus der Sicht der heu­te Leben­den. Und jetzt, im 30. Jahr nach sei­ner Grün­dung, wid­met sich das Muse­um einem The­ma, das immer noch mit Stig­ma behaf­tet und am Liebs­ten tabui­siert wird: Wie wird mit Selbst­tö­tung im gesell­schaft­li­chen und per­sön­li­chen Kon­text umgegangen?

Schon beim Ein­ritt fängt einen die Archi­tek­tur Wil­helm Kückers ein. Der luf­ti­ge Glas- und Beton­bau mit sei­nen vie­len ver­schie­de­nen Ebe­nen, der das Über­bleib­sel der alten denk­mal­ge­schüt­zen Hen­schel-Anla­ge mit dem „Eidech­sen­gang“ berührt, lässt alt und neu mit­ein­an­der verschmelzen.

Die Aus­stel­lung ist in sechs Tei­le und damit Räu­me geglie­dert. Der ers­te Raum zeigt mit dem The­ma „Schwei­gen“ die gan­ze Hilf­lo­sig­keit und Über­for­de­rung der Gesell­schaft mit dem The­ma Sui­zid. Das Schwei­gen als aggres­si­ve Form der Kom­mu­ni­ka­ti­on, es wird sug­ge­riert, dass die­se Art der Pro­ble­me für die Ange­hö­ri­gen nicht der Rede wert sind. „Tot­schwei­gen“ bekommt da eine völ­lig neue Bedeu­tung. Berüh­ren­de Abschieds­brie­fe fin­den sich neben Todes­an­zei­gen, die die Unfä­hig­keit, sich mit die­ser Pro­ble­ma­tik aus­ein­an­der­zu­set­zen, zu Tage fördert.

Religion versus Lebenswirklichkeit

Die „kul­tu­rel­le Dimen­si­on“, The­ma des zwei­ten Rau­mes, fußt vor allen Din­gen auf den Struk­tu­ren des sozia­len Lebens und reli­giö­sen Glau­bens. Vie­le Reli­gi­ons­ge­mein­schaf­ten beleg­ten bis weit in die Moder­ne hin­ein der­ar­ti­ge Ver­su­che mit dras­ti­schen Stra­fen; mal wie­der ein Beleg für die Abwe­sen­heit von Reli­gi­on in der Lebens­wirk­lich­keit. In Japan dage­gen wur­de einst im Kon­text des Seppu­ku-Kults die Wie­der­her­stel­lung der Ehre garan­tiert. Auch hier fehlt jeg­li­cher Realitätsbezug.

 Wil­son Bigaud, Zom­bies 1953, Öl auf Masonit

Men­schen erfah­ren sich zum einen selbst und wer­den durch ande­re aus unter­schied­li­chen Blick­win­keln wahr­ge­nom­men. Fremd­bild und „Selbst­bild“, das Leit­bild des nächs­ten Raums, stim­men oft nicht über­ein. In der Kunst wer­den die Prot­ago­nis­tin­nen und Prot­ago­nis­ten oft hel­den­haft über­zeich­net dar­ge­stellt, was zum tat­säch­li­chen inne­ren Zustand dia­me­tral läuft.
Der vier­te Raum befasst sich mit der Not­wen­dig­keit des „Ver­mit­telns“ nach der Kata­stro­phe. Doch durch die Stig­ma­ti­sie­rung ist dies durch Spra­che oft nicht mög­lich und alles kol­lek­tiv ver­dräng­te fin­det sei­nen Aus­druck in den Küns­ten. Dabei hilft das mit­ein­an­der Kom­mu­ni­zie­ren beim Ver­ar­bei­ten die­ser Trau­ma­ta den Betrof­fe­nen, sich aus die­ser Iso­la­ti­on zu befreien.

Schwindel und Starre

Uner­war­te­te Ereig­nis­se im Leben kön­nen uns aus der Bahn wer­fen, ver­set­zen uns in einen Zustand von „Schwin­del und Star­re“, wir fal­len psy­chisch ins Boden­lo­se, trau­ma­ti­siert, scho­ckiert oder ein­fach fas­sungs­los. Wenn es nicht gelingt, die­sen inne­ren frei­en Fall zu stop­pen, kommt oft der Frei­tod als ein­zi­ge Lösung in Betracht. In die­sem 5. Kapi­tel der Aus­stel­lung schwankt der Betrof­fe­ne zwi­schen dem ersehn­ten Ende von Allem oder dem Neu­an­fang ohne die Gefüh­le des erlit­te­nen Schmer­zes. Man fühlt sich erin­nert an selbst erleb­te schwe­re Stun­den im Leben und die Beklom­men­heit, die einen schon wäh­rend des gesam­ten Besuchs die­ser Aus­stel­lung beglei­tet, stei­gert sich weiter.

Kopie nach Gui­do Cagnac­ci,
Der Selbst­mord der Lucre­tia 1640–1645, Öl auf Leinwand

Die „Ambi­va­lenz“, wie es auf der Schau­ta­fel des letz­ten Rau­mes steht, ist die Grund­vor­aus­set­zung des mensch­li­chen Daseins. Sie kann aber auch inner­lich zer­rei­ßen, als letz­ten Aus­weg aus die­ser Lage wird dann nur die Selbst­tö­tung gese­hen, zum Bei­spiel das Gefühl, einem Men­schen sehr ver­bun­den, aber von die­sem ele­men­tar ver­letzt wor­den zu sein.

Unbe­kannt, Lín­con­nue de la Sei­ne ca. 1920,
Toten­mas­ke aus Keramik

Hier gelingt den Kura­tie­ren­den ein schö­ner Kniff: In die­sem letz­ten Raum fin­den sich auch Leih­ga­ben der Cari­ca­tu­ra, und die­se Kari­ka­tu­ren hel­fen ein wenig, den inne­ren Kno­ten, der sich wäh­rend des Besu­ches der Aus­stel­lung in einem immer fes­ter zusam­men gezo­gen hat, zu lösen.

Adam Trep­c­zyn­ski, Papa nervt

Katha­ri­na Gre­ve, Wäsche aufhängen

Beglei­tend zu der Aus­stel­lung ist das Gesprächs- und Bera­tungs­an­ge­bot „Dar­über reden hier und jetzt“. Frei­tag, Sams­tag und Sonn­tag gibt es die Mög­lich­keit, mit Stu­die­ren­den der Sozia­len Arbeit an der Uni­ver­si­tät Kas­sel ein Gespräch in einem geschütz­ten Bera­tungs­raum über The­men rund um Sui­zid zu füh­ren.
In den unte­ren Räu­men des Muse­ums ist die Gra­phic Novel „Fürcht­e­tal“ von Illus­tra­tor Mar­kus Fär­ber und sei­ner Schwes­ter, die Autorin Chris­ti­ne Fär­ber, zu sehen, die sich mit dem Sui­zid des Vaters aus­ein­an­der­set­zen. Trau­er und Ver­lust, aber auch schö­ne Erin­ne­run­gen wer­den in einer Sym­bio­se aus sur­rea­len Bil­dern und meta­pho­ri­schen Tex­ten dar­ge­stellt. Die Gra­phic Novel ist im Kas­se­ler Roto­pol-Ver­lag erschienen.

Wer möch­te, kann die Aus­stel­lung vir­tu­ell besu­chen, unter: https://www.sepulkralmuseum.de/ausstellungen/sonderausstellungen/suizid–lets-talk-about-it fin­det man die­se fas­zi­nie­ren­de Mög­lich­keit. Dafür hat das Muse­um den Aus­stel­lungs­preis 2021 der digi­ta­len Platt­form „Muse­um Vir­tu­ell“ gewonnen.

[Ger­rit Bräu­ti­gam | Redaktion]

Wein­berg­stra­ße 25–27 | 34117 Kassel

Öff­nungs­zei­ten:
Diens­tag bis Sonn­tag 10.00 – 17.00 Uhr
Mitt­woch 10.00 – 20.00 Uhr
Mon­tag geschlossen

Fon: 0561 91893–0 | E‑Mail: info@sepulkralmuseum.de |  www.sepulkralmuseum.de