„Zeit ist kein Geld“
Interview mit ruangrupa
Kuratorenkollektiv der documenta fifteen

v.l.n.r.: Iswanto Hartono, Sabine Schormann, farid rakun
ruangrupa ist eine Gruppe aus Jakarta, bestehend aus zehn Künstlern, die, als gemeinnützige Organisation, die Verbreitung von Kunstideen im urbanen Kontext und das breite Spektrum der Kultur durch Ausstellungen, Festivals, Kunstlabors, Workshops, Forschungen und Veröffentlichungen von Büchern, Zeitschriften und Online-Zeitschriften fördern.
Welt.Kunst.Kassel. traf die ruangrupa-Mitglieder farid rakun und Iswanto Hartono anlässlich eines Besuchs in Kassel im September 2021 und Dr. Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta und des Museums Fridericianum in Kassel, die bereits intensiv mit der Vorbereitung und Durchführung der documenta 15 befasst sind, sprach mit ihnen über ihre Eindrücke von der Stadt, die Möglichkeiten zeitgenössischer Kunst und die kommende documenta 15.
W.K.K.: Was waren Ihre ersten Eindrücke von Kassel?
farid rakun: Ich bin zum vierten Mal in Kassel. Ich war 2012 in Kassel, um die documenta zu besuchen, dann 2018 und zum dritten Mal im Februar 2019, als die documenta Findungskommission ruangrupa offiziell als neue kuratorischer Leitung der documenta 15 vorstellte. Das erste Mal war ich in Kassel, um die documenta 13 zu besuchen. Das zweite Mal war ich auch wegen der documenta da, aber nicht mehr als
Besucher.
Kassel ist im Sommer während der documenta eine ganz andere Stadt als im Winter ohne die documenta! Aber (er lacht) es war kein Schock, weil ich die Stadt schon kannte. Darüber hinaus sind wir es gewohnt, mit oder in kleinen Städten und im europäischen Kontext zu arbeiten. ruangrupa hat beispielsweise bereits an verschiedenen Ausstellungen in den Niederlanden oder in Dänemark teilgenommen. Als ich 2012 nach Kassel kam, um die von Carolyn Christov-Bakargiev kuratierte documenta 13 zu besuchen, hatte ich gerade mein Kunststudium in den USA abgeschlossen und es war sehr interessant für mich, weil die offizielle zeitgenössische Kunst in den USA ganz anders gesehen wird. Die documenta 13 war für mich nach dem Studium erfrischend und hoffnungsvoll und eine gute Inspiration für den Start in meine Zukunft, denn danach bin ich nach Indonesien zurückgeflogen und habe angefangen, als Künstler zu arbeiten.
Iswanto Hartono: Ich bin zum zweiten Mal in Kassel. Auch kleine Städte sind für Künstler, aber auch für mich persönlich sehr interessant. Es ist interessant, Kassel ohne die documenta zu sehen, um besser zu verstehen, wie die Stadt funktioniert, weil wir eine Zeitlang hier leben werden. Kassel ist eine schöne Stadt, ruhig und friedlich.
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W.K.K.: Sie kennen bereits Deutschland und einige deutsche Städte. Sie waren gerade zu einem Workshop in Berlin und haben bereits Erfahrungen in Düsseldorf gesammelt. Deutschland ist also nichts Neues für Sie. Was ist für Sie ein besonders typisch deutsches Merkmal oder was hat Sie in Deutschland am meisten beeindruckt?
farid rakun: Was an Deutschland wirklich beeindruckt, ist die Geschichte der deutschen Wiedervereinigung. Das ist etwas ganz Besonderes für das Verständnis des Landes und seines West Ost-Hintergrundes und einzigartig in der Geschichte. In Indonesien wurde der Kalte Krieg anders verstanden.
Iswanto Hartono: Deutschland ist aber auch für guten Fußball berühmt!
Deutschland hat viele gute Fußballer, Beckenbauer zum Beispiel oder Klinsmann, Rummenigge oder Schweinsteiger! Als ich ein Kind war, habe ich oft im Fernsehen deutschen Fußball
geschaut!!
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„Genau!“, „Ach so!“
Diese Ausdrücke tauchten immer wieder in Diskussionen auf und
die Leute wiederholten sie unzählige Male.“
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W.K.K.: Was war das erste deutsche Wort, das Sie in Deutschland lernen mussten?
farid rakun: (lachend) „Genau!“ „Ach so!“ Diese Ausdrücke tauchten immer wieder in Diskussionen auf und die Leute wiederholten sie unzählige Male und ich fragte mich immer, was sie bedeuteten! „Ach so! Ach so! … “
Iswanto Hartono: Das erste Wort, das ich auf Deutsch lernen musste, war für mich „Gestalt“! Und es klang so hart!!
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W.K.K.: Kennen Sie schon die Geschichte unserer Stadt Kassel und die Geschichte der documenta?
farid rakun: Ich habe schon Leute nach der Geschichte von Kassel und ihren persönlichen Geschichten gefragt. Vor allem Menschen im Kunstkontext. Zum Beispiel habe ich hier in der Kunsthochschule eine junge Frau getroffen, die als klassische Pianistin angefangen hatte, aber eine Lebenskrise bekam, als Freiwillige bei der documenta 11 gearbeitet hat und dann eine Führungskraft in ihrem Fachgebiet geworden ist. Dies ist nur ein Beispiel dafür, wie Kunst das Leben der Menschen verändern kann und wie die documenta die Menschen beeinflusst hat.
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W.K.K.: In Bezug auf Kunst könnten wir Sie fragen, was Kunst für Sie bedeutet, aber wir nehmen an, dass die Antwort zu lang wäre (wir lachen). Trotzdem haben die Kasseler Bürger große Erwartungen an Sie und die nächste documenta. Geht es in Ihrem Konzept immer noch um Kunst im traditionellen Sinne?
Iswanto Hartono: Für mich ist Kunst eher eine Art Prozess. Bei ruangrupa arbeiten wir als Einzelpersonen, aber auch zusammen, und das ist das Wichtigste, was wir in unserer Gruppe tun. Der Prozess ist das herausragende Merkmal unserer Aktivitäten. Es geht nicht um das Wie, es geht nicht um das Ende oder das Ergebnis. Der wichtigste Teil ist in der Tat, über ein bedeutendes Thema zu sprechen.
farid rakun: Wenn eine Ausstellung eröffnet wird, ist der größte Teil der Arbeit eigentlich bereits erledigt.
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W.K.K.: Sie beschreiben Kunst als einen Prozess. Hat Kunst eine pädagogische Funktion oder sollte Kunst schön sein? Welche weitere Ereignisformen werden Sie neben der Kunstaustellung einbeziehen?
Iswanto Hartono: Für mich, aber ich würde sagen für uns alle in der Gruppe, sind Kunst und unsere Arbeit funktionell, sie verändert sich jedes Mal, sie ist dynamisch. Wir denken nicht wirklich über Schönheit nach. Unsere Mission ist sozialer, denn Kunst sollte natürlich auch eine pädagogische Funktion haben. Wir engagieren uns in einer sozialen Perspektive und versuchen auf aktuelle Probleme zu reagieren und soziale Wunden zu heilen.
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W.K.K.: Wie werden Sie am Kunstprozess arbeiten? Werden Sie sich mehr auf die Initiierung von Aktionen und Aktivitäten oder auf die Künstler konzentrieren?
farid rakun: Sowohl der Kunstprozess als auch die Künstler sind wichtig. Der Prozess, den wir durchlaufen, wird auf die Künstler ausgedehnt, die wir einladen werden. Sie werden an unserer Stelle Teil dieses Prozesses sein, weil wir ihnen nicht sagen werden, was sie zu tun haben. So werden wir arbeiten.
Das „Wie“ gibt die Methode an. „ruangrupa“ heißt auf Indonesisch Raum der Kunst oder auch Raum-Form. „ruang“ bedeutet Raum, Ort und „rupa“ visuell.
Das ist der materielle Faktor. Und wir werden mit der Zeit spielen. Diese drei Komponenten, das visuelle Element, Raum und Zeit, sind die Bestandteile unserer Arbeit. Wir spielen mit ihnen, um Menschen in unsere Einstellung einzubeziehen.
Iswanto Hartono: Wir haben sofort erkannt, dass die documenta wirklich eine besondere Kunstausstellung und in gewisser Weise eine Art Festival ist. Die Leute erwarten, wenn sie nach Kassel kommen, moderne Kunst zu sehen, etwas Schönes, Angenehmes und Ansprechendes. Das ist der Unterschied zwischen der documenta und anderen Kunstausstellungen. Unsere documenta 15 wird sich jedoch sowohl von der letzten als auch von der vorherigen documenta unterscheiden. Wir werden mit den Künstlern zusammenarbeiten, um eine Art inspirierte, geniale Plattform für den Austausch von Erfahrungen und Meinungen zu schaffen.
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„Wir werden mit den Künstlern zusammenarbeiten,
um eine Art
inspirierte, geniale Plattform für den Austausch von Erfahrungen und
Meinungen zu schaffen.“
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W.K.K.: Sie sind beide Künstler und nicht nur Kuratoren. Was bedeutet es für Sie als Künstler, eine Ausstellung zu kuratieren?
farid rakun: Was wir tun, unser Kunstbegriff, kann bereits als kuratorische Aktivität gesehen werden.
Iswanto Hartono: Als Künstler haben Sie einen anderen Ansatz. Wir sind nicht gegen das System, wie sich der Kunstmarkt in der Welt oder in Indonesien entwickelt, aber manchmal versuchen wir, dieses System durch eine andere Denkweise praktisch zu beeinflussen, und als Kuratoren werden wir in diesem Sinne mehr Möglichkeiten haben.
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W.K.K.: Als ruangrupa im Februar 2019 auf der Pressekonferenz in der documenta-Halle vorgestellt wurde, sagten Sie, dass Sie eine experimentellere und partizipativere Ausrichtung planen, dass Ihr kuratorischer Ansatz auf ein kooperatives Modell abzielt und dass Partizipation, also Teilnahme, im Plan der nächste documenta 15 stehen wird. Wie stellen Sie sich vor, die Gesellschaft in Kassel, die Menschen einzubeziehen? Mit welchen Gruppen oder Institutionen möchten Sie zusammenarbeiten?
Iswanto Hartono: Ich werde in wenigen Monaten mit meiner Familie hierher ziehen, um die Situation, die Umstände und die Stadt besser kennenzulernen. Wir werden hier eine Abteilung haben und hierher zu ziehen ist wichtig und notwendig, um in Kassel präsent zu sein, mit der lokalen Realität in Kontakt zu treten und uns in der Gesellschaft zu engagieren. Der Prozess hat also bereits begonnen, ist aber zu diesem Zeitpunkt noch offen.
farid rakun: Praktisch übersetzt, wir werden uns einem partizipativeren Modell nähern, aber wir wissen noch nicht genau wie. Die Details sind noch offen. Alles wird von den Verbindungen abhängig sein, die wir finden werden, den Möglichkeiten, der Realität, die wir hier antreffen werden.
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W.K.K.: ruangrupa ist eine Gruppe von zehn Künstlern. Wie läuft die Arbeit mit einem zehnköpfigen Management ab? Wie wird Ihr kollektives Kuratieren konkret funktionieren? Wie werden die Entscheidungen getroffen
farid rakun: Wir sind es gewohnt zusammenzuarbeiten, aber natürlich haben wir manchmal auch unterschiedliche Meinungen und manchmal funktioniert es auch nicht! (Er lacht). Aber es ist ein Prozess und es ist auch erstaunlich! Wir sind nicht immer voll funktionsfähig. Es geht nicht darum, produktiv zu sein. Es geht darum, „wie“ wir es machen. Zeit ist kein Geld. Wir können sie „verschwenden“, uns gegenseitig Zeit schenken: Zeit ist zum Lernen da. Zeit ist etwas Materielles, aber in der Kunst ist Zeit einfach da, existiert. Wir sollten lernen, Druck abzubauen. Darüber hinaus kennen wir uns in der Gruppe seit mehr als zwanzig Jahren. Viele Leute, die ein Kollektiv aufgebaut haben, sind zusammengekommen, weil sie alle Künstler waren oder die gleichen Fähigkeiten hatten. Für uns ist es anders, weil wir neben unseren Interessen und Berufen bereits Freunde waren. Für mich ist es wie eine Familie.
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W.K.K.: Zum ersten Mal in über 60 Jahren documenta-Geschichte wird ein Künstlerkollektiv die documenta leiten. Die Kasseler haben Fragen und gleichzeitig große Erwartungen an diese Zusammenarbeit, auch im Hinblick auf die letzte documenta 14. Sie sollten darauf vorbereitet sein, Kritik zu bekommen, sich mit unterschiedlichen Meinungen auseinanderzusetzen und mit dem Druck der Medien umgehen zu können. Wie stellen Sie sich vor, auf Kritik zu reagieren?
farid rakun: (lacht wieder) Kritik ist Teil des Jobs! Kritik finde ich gut! Ich mag das! Es ist wichtig, eine Reaktion zu bekommen.
Wir wollen nicht provozieren, sondern nur das tun, was wir in unserer Realität für richtig halten, auch wenn unsere Realität für andere als speziell oder besonders erscheinen mag. Wir haben ein ganz bestimmtes Gefühl und wollen dieses Erlebnis, dieses Gefühl, wieder an andere Menschen weitergeben. Dieser Prozess des Weitergebens von Erfahrungen, des Teilens von Gefühlen und des Bereitstellens von neuem Wissen ist wirklich aufregend. Kritik gehört zu diesem Prozess. Eine negative Reaktion kann immer noch besser sein als keine Reaktion! (Lacht weiter)
Iswanto Hartono: Wir wollen nicht wütend provozieren. Wir haben vielmehr eine Neigung zu Esprit und Humor! Mit Humor und feinfühligem Timing können wir über Dinge lachen, echte Vorteile bieten und zu einer interessanten Diskussion beitragen. Wenn die Leute gelernt haben, unseren Art von Ironie zu verstehen, finden sie unseren Sinn für Humor sehr lustig und verstehen unsere Arbeit besser. Was mich immer wieder inspiriert, ist die Leichtigkeit und der Humor, mit denen wir über alle kulturellen und nationalen Grenzen hinweg kommunizieren können.
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Wir danken farid rakun und Iswanto Hartono für das Interview.
Wir sind zuversichtlich, dass die Wahl von ruangrupa genau das Richtige ist, um der documenta frischen Wind und Schwung zu verleihen. Spannend wird auch die bevorstehende Zusammenarbeit der Künstlergruppe mit der Stadt Kassel. Durch einen bewusst partizipativeren Ansatz und die jahrelange Erfahrung beim Aufbau von Netzwerken könnte ruangrupa dafür sorgen, dass Kunst wieder gelebt und erlebt wird, anstatt sie nur passiv zu betrachten.
[ Interview: Sonja Rossettini und Helmut Plate, Fotos: Harry Soremski ]
Sabine Schormann

Sabine Schormann wurde 1962 in Bad Homburg/Taunus geboren und studierte in Mainz Germanistik, Philosophie und Kunstgeschichte (Promotion über Bettina von Arnim). Anfang der 1990er-Jahre war sie als studentische Hilfskraft für das Goethe-Museum in Frankfurt am Main tätig und arrangierte kleine Ausstellungen. Ab 1992 arbeitete sie in der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit bei der Deutschen Stiftung Denkmalschutz in Bonn und etablierte den bundesweiten Tag des offenen Denkmals. 1996 übernahm sie die Ausstellungsleitung von „Planet of Visions“ und „Das 21. Jahrhundert“ im Themenpark der EXPO 2000 in Hannover. Seit 2000 war Schormann Direktorin der Niedersächsischen Sparkassenstiftung und der VGH-Stiftung in Hannover. Seit dem 1. November 2018 ist sie Generaldirektorin der documenta und des Museums Fridericianum und damit auch für die documenta 15 im Jahr 2022 verantwortlich.
Iswanto Hartono

Iswanto Hartono ist einer der wenigen Künstler für zeitgenössische indonesische Kunst mit Architekturhintergrund. Iswanto, bekannt als Konzeptkünstler, stellt seit den späten 1990er- Jahren aus und zeigt Arbeiten mit starkem sozialen und politischen Inhalt. Iswantos Werke verraten sein Interesse an Geschichte und Erinnerung, Globalisierung und geopolitischen Mächten, postkolonialer Natur sowie Rasse und Identität. Iswanto Hartono interessiert sich besonders für die Teile der indonesischen Geschichte, die absichtlich vergessen wurden. Seine bisherigen Projekte drehten sich um Kolonialisierung und postkoloniale Debatten sowie den heutigen Identitätskampf in Indonesien. Einige seiner jüngsten Ausstellungen waren „Beyond Wonder: Perspective of Utopia“, „Tokyo Wonder Site“, Nagoya (2018), „DAK‘ART 2018“ während der Biennale Dakar 2018 und Europalia Indonesia (2017) in Oudekerk, Amsterdam, wo er mit einer Einzelausstellung vertreten war.
farid rakun

farid rakun ist Ausgebildet als Architekt (B.Arch von der Universitas Indonesia und M.Arch von der Cranbrook Academy of Art). Er trägt je nach Fragesteller unterschiedliche Hüte. Er ist Künstler, Schriftsteller, Herausgeber, Lehrer und Anstifter in Jakarta. Er ist außerdem Teil des Künstlerkollektivs ruangrupa, mit dem er „TRANSaction“: Sonsbeek 2016 in Arnhem, NL, zusammen kuratiert hat, und fungiert derzeit als künstlerischer Leiter des Kollektivs für die documenta 15 (Kassel, 2022).