„Was nehmen Sie aus dieser documenta mit und was möchten Sie an andere documenta Besucher weitergeben?“
Kunst und Kapital
Interview mit Prof. Dr. Mi You vom documenta Institut
Anlässlich der documenta fifteen hat Welt.Kunst.Kassel ein exklusives Interview mit Prof. Dr. Mi You vom documenta Institut über die Rolle des documenta Instituts und die documenta fifteen geführt.
Mi You ist Professorin im Fachgebiet Kunst und Ökonomien an der Universität Kassel sowie beim documenta Institut.
W.K.K.: Prof. Dr. You, Sie hatten am Samstag, den 09. Juli in Kassel die Veranstaltung „Systemrelevant?! – Kunstschaffende, Kulturpolitik und Demokratie“ und haben in der traces-Forschungsstation am Lutherplatz Kulturpolitiker*innen und Wissenschaftler*innen eingeladen, darüber zu diskutieren.
Wie ist die Veranstaltung angekommen? Welche Entwicklungen konnten Sie anstoßen?
You: Ich glaube, dass die Veranstaltung sehr gut lief und ankam. Unsere Überlegungen waren: Wie kann man ein System für eine Finanzierung der Kunst bauen? Oder: Wie kann man Verständnis dafür wecken, damit Investitionen in der Kunst nicht verloren gehen?
Ich denke, dass, aus Sicht der Politiker, egal ob in der Stadtverwaltung oder in einer höheren Verwaltungsebene, dem Land oder dem Bund, man verstehen muss, dass die Kunst immer als nebensächlich betrachtet wird, weil man sich erst einmal mit den größeren Fragen, wie denen der Wirtschaft oder der Bildung, auseinandersetzen muss, und für die Kunst gibt es immer zu wenig Geld. Und das nicht nur in Deutschland, sondern wirklich überall auf der Welt. Unsere Idee war zu sehen, wie wir für mehr Systematisierung und Verständnis für die Kunst argumentieren können, wie Kunst tatsächlich zu all diesen anderen Sektoren beitragen kann und wie wir das erreichen können. Für das Symposium beschäftigten wir uns mehr mit der Frage nach demokratischer Resilenz und wie Kunst mehr Teilhabe an Auseinandersetzungen mit Differenzen fördern kann. Wir haben darüber gesprochen, wie wir in diesem Prozess helfen können, und es war wirklich interessant, Kulturpolitiker zu hören, da sie auch über diese Fragen nachdenken und den Einfluss der politischen Kulturgesellschaft sehen. Es scheint also, dass Kunst keine Art Additiv ist. Man kann also zum Beispiel nicht einfach ein weiteres Museum in einer Stadt eröffnen, sondern man muss überlegen, was man mit allen diesen Museen, Theater- und Kultureinrichtungen macht. Sie sind teilweise vielleicht additiv, aber sie haben dennoch auch unterschiedliche Programme. Doch sollte man vermeiden, viel mehr zu produzieren, als wahrscheinlich konsumiert werden kann. Wir müssen nicht sparen, aber wir müssen uns die internen Abläufe ansehen, ob sie für uns Verschwendung sind, um Kulturgründungen nachhaltiger zu gestalten. Daher denke ich, dass die Basisarbeit auch im Kulturbereich wirklich Nachhaltigkeit ist.
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W.K.K.: Sind Sie auch mit der hiesigen Politik in Kassel in Verbindung? Mit den Fraktionen, die sich um Kultur-Politik kümmern? Oder beteiligen Sie sich an diesen Prozessen, die Sie anstoßen möchten?
You: Ich habe Frau Dr. Susanne Völker während der traces-Veranstaltung persönlich kennengelernt, aber natürlich hatten wir uns schon vorher gesehen. Ich hoffe, dass ich bald die Möglichkeit haben werde, mit ihr zu sprechen und sie wieder zu treffen. Aber meine Arbeit konzentriert sich auf kulturelle Gründungen weltweit. Als Vertreter des documenta Institutes hatte Heinz Bude natürlich oft Kontakt zu ihr, da er sich mehr um die öffentlichen Kontakte kümmert, während ich mich auf die Recherchen konzentriere. Darüber hinaus gibt es einige andere Städte, die für das, was ich mache, interessant sind. Ich war beim Bundesverband Bildender Künstlerinnen und Künstler, auf der BBK-Tagung waren auch Politiker und ich hatte den Eindruck, dass es in Deutschland jetzt an der Zeit ist, über Kunstbeiträge und andere Bereiche der Gesellschaft systematisch nachzudenken.
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W.K.K.: Sie sind mittlerweile schon zehn Jahren in Deutschland. Was hat Sie dazu bewegt, nach Deutschland und insbesondere an das documenta Institut zu kommen?
You: Vor zehn Jahren habe ich ein Stipendium der Alexander-von-Humboldt-Stiftung bekommen, das den witzigen Namen „Bundeskanzlerin Stipendium für zukünftige Führungskräfte“ trägt, ein spezielles Förderprogramm für deutsche Geschäftspartner. Ich habe auch ein Foto mit Angela Merkel! Dank des Stipendiums konnte ich Willkommen-Projekte verfolgen und dies ermöglichte mir, deutsche Partner zu treffen, an Studienreisen in die NATO oder die Europäische Gemeinschaft teilzunehmen, das deutsche Leben zu verstehen und eine Karriere für zukünftige Führungskräfte zu beginnen. Danach entschloss ich mich, in Deutschland zu bleiben und zu studieren und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kunst- und Medienwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien in Köln, Lehrbeauftragte an der Hochschule für Künste Bremen, dann Dozentin an der School of Art, Design and Architecture der Aalto-Universität in Helsinki im Programm Visual Cultures und an der Roaming Academy des Dutch Art Institute. Während meiner Arbeit habe ich nebenbei auch einige Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, Medienkunst, Performance, Theater und anderen Kontexten kuratiert und war froh, nebenbei mehr soziales Engagement eingehen zu können. Ich leite seit zehn Jahren einen internationalen Dialog zwischen europäischen und chinesischen Intellektuellen und Künstlern, der von der EU unterstützt wird. Ich habe auch versucht, ein bisschen in NGOs zu arbeiten, auf sozialer Ebene, um Intellektuelle in den Dialog zu bringen, und ich engagiere mich jetzt immer noch mit einige NGOs in Berlin, um Künstler dazu zu bringen, sich diesem Prozess anzuschließen, nicht unbedingt, um daraus ein Kunstprojekt zu machen, aber um wirklich einige Fähigkeiten übertragen zu können, eine andere Kultur mehr zum Ausdruck zu bringen. Und nach all diesen verschiedenen Projekten, die mich nach Kassel führten, wurden bei der Gründung des documenta Instituts drei Stellen geschaffen und eine davon war Wirtschaft, mit Betonung auf die Pluralform Ökonomien. Ich kannte hier in Kassel niemanden, aber das akademische Profil hat sehr gut auf mich gepasst.
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W.K.K.: Nun haben Sie die Professur „Kunst und Ökonomien“ inne. Um was geht es dabei genau? Welche Themen werden angesprochen? Welche Projekte betreuen Sie zurzeit?
You: Schon Beuys hat mit seinem Konzept „Kunst und Kapital“ einige innere Widersprüche in der Kunst aufgedeckt. Man dachte, Kunst müsse autonom sein, aber eigentlich ist das eine Utopie, weil Kunst Teil des Systems ist. Wenn man an Kunst und Ökonomie denkt, könnte der wichtigste Punkt der Kunstmarkt sein, aber für mich ist es wirklich mehr als das und ich denke, es wäre ziemlich langweilig, nur über den Kunstmarkt zu recherchieren, der eigentlich nur einen kleinen Bruchteil des finanziellen Marktes ausmacht. Mein Interesse ist, über das Wirtschaftssystem anders nachzudenken, über verschiedene Werteformen nachzudenken und zu versuchen, eine Art dunkles Szenario zu beeinflussen, was erstmal wirklich abstrakt klingt. Ich gebe Ihnen vielleicht besser ein Beispiel: Ein Projekt, das ich mit Kollegen entwickle, befasst sich mit einem alternativen sozialen Wertesystem, in dem zwei Personen in einer langjährigen persönlichen Beziehung der Fürsorge stehen, die zu einer Art alternativen Sozialsystem werden kann. Das Problem ist, dass Fürsorge eine sehr knappe Ressource ist und immer knapper wird, weil wir versuchen, jede Art von Fürsorge zu vermarkten; aber Fürsorge ist eigentlich etwas, was wir tun, untereinander, unter Freunden oder wenn Sie einem Freund einen Gefallen tun . Es ist wirklich menschlich und qualitativ, aber all dies wird vermarktet und kommerzialisiert und es wird knapp. Wir versuchen, diese fürsorgliche Beziehung von Mensch zu Mensch herzustellen, zwischen jungen und älteren Menschen. Das nur, um zu erklären, warum diese Art von Social-Engineering-Projekt Kunst ist: Wir wollten es greifbarer und erlebbarer machen und haben ein Spiel entwickelt. In diesem Spiel müssen die Studierenden Erfahrungen sammeln, wie es sich anfühlt, 40 Jahre ihres Lebens in diesem Spiel zu erleben, und herauszufinden, wie eine andere Gesellschaft möglich wäre, wenn die Menschen mehr aufeinander achten würden.
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W.K.K.: Diese Idee scheint dem Ruangrupa-Konzept nahe zu sein.
You: Ja, in gewisser Weise. Ich meine, im ruangrupa-Projekt gibt es auch viel Fürsorge, die nicht monetär ist, sondern eine Art sozialer Überschuss, es geht um Emotionen und Beziehungen der Menschen, aber sie arbeiten unter schwierigen Bedingungen, weil sie nur fünf Jahre Zeit hatten. Aber wie geht es weiter nach der documenta?
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W.K.K.: Was ist das Projekt, das Sie zurzeit betreuen. Welche Aufgabe haben Sie den Studierenden gestellt? Was waren Ihre Vorgaben? Haben Sie bestimmte Vorstellungen, was Sie Ihren Student*innen weitergeben möchten? Was sind die wichtigsten Aspekte, die Sie Ihren Student*innen zu vermitteln versuchen?
You: Ich habe nicht wirklich konkrete, präzise Arbeitsprojekte, aber ich kann Ihnen mehr darüber erzählen, was wir tun. Es ist mir sehr wichtig, dass die Student*innen kritisches Denken lernen und in der Lage sind zu analysieren, wie die sozioökonomischen Bedingungen unserer Gesellschaft sind, warum Fürsorge so eine knappe Ressource geworden ist, aber auch, was wir dagegen tun können, welche Wirtschaftsanalysen sozialer sind und was die konstruktiveren Aspekte sind, dass sie Fantasie und Hoffnungen haben. Es gibt viele Student*innen, die gestresst oder depressiv sind, aber der Stand der Dinge ist in Deutschland nicht so trist, also sollten sie versuchen, Wege für eine schöne gemeinsame Zukunft vorzuschlagen.
Das versuche ich mit meinen Student*innen zu erreichen. Im Wesentlichen versuche ich, die Student*innen zu motivieren, in anderen Richtungen zu denken, auch wenn sie nur ein bestimmtes Fach studieren, visuelle Kommunikation, Bildende Kunst oder Soziologie. Ich versuche ihnen dabei zu helfen, sich immer wieder neue Fähigkeiten aus den anderen Disziplinen anzueignen. Zum Beispiel arbeite ich zusammen mit Angela Frank, ebenfalls neu an der Universität Kassel, an dem Fahrradprojekt „Rad und Kunst“, und versuche, Studierende des Fachbereichs Ingenieurwissenschaften und Studierende der Kunsthochschule zusammenzubringen und zu mehr Fahrradfahren zu motivieren.
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W.K.K.: Sie sind auch selber international als Kuratorin tätig. Wie betrachten Sie aufgrund Ihrer Erfahrung die Arbeit des Künstlerkollektivs ruangrupa?
You: Ich finde das Konzept von ruangrupa und der documenta fifteen sehr wichtig und es geht wirklich um ein Umdenken. Auch wenn lumbung ein Konzept ist, funktioniert es nicht als Konzept, sondern als Prinzip: Reorganisation. Es geht mehr um die Entscheidung, neu zu gestalten, neu zu organisieren, neue Perspektiven für Infrastrukturen schaffen, und das ist sehr wichtig. Die documenta ist keine Biennale, deswegen zeigt diese 5‑jährige Zeitspanne auch am besten diese Art von Entwicklung, die vor sich geht. Aus der kuratorischen Perspektive finde ich es wichtig, ein anderes Verständnis von Kunst zu sehen. Kunst muss nicht nur etwas sein, was der Künstler getan hat, sondern sie kann auch eine Herangehensweise sein, kann aus einem Gemeinschaftsprozess entstehen und vor allem sieht man bei der documenta fifteen viele Probleme, die im globalen Süden entstanden sind. Man kann viele kollektive Initiativen des globalen Südens sehen, wie sie sich in langfristigen sozialen Prozessen entwickeln, und viele von ihnen arbeiten ohne angemessene Infrastrukturen, mit vielen Hindernissen wie Kriegen, feindseligen Regierungen, Materialknappheit usw. Es ist bemerkenswert zu analysieren, wie diese documenta dazu dient, Geld zur Verfügung zur stellen, damit die Kollektive das tun können, was sie tun. Aber wir müssen immer noch fragen, ob es Probleme beim Gedankentransfer zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden gibt, auch im Namen der Entwicklungshilfe. Es ist eine sehr schwierige Beziehung. Für die Kollektive, die Geld aus dem globalen Norden erhalten, ist es eine wirklich große Chance.
Manchmal gestalten NGOs, wenn sie Kollektiven des globalen Südens finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, tatsächlich die Praktiken mit, sodass wir am Ende wissen, dass sich einige der Kollektive anpassen müssen um alle ähnliche erwartete Projekte hervorbringen, um die Finanzierungen auch zu erhalten. Es geht viel um Politik, deshalb denke ich, dass wir genau hinschauen müssen.
Jetzt haben wir die Zeit, um zu sehen, was im Hintergrund vor sich geht. Nach Kassel zu kommen bedeutet für die Kollektive auch Druck, und man spürt ihn, wenn man sich einige Arbeiten der Kollektive ansieht. Wenn die Entscheidung fallen soll, was in einer internationalen Weltausstellung präsentiert werden soll, würde jeder diesen Druck spüren. Was können wir zeigen? Etwas Dramaturgie kann helfen. Ich hätte es anders gemacht, denke ich.
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W.K.K.: Welche Bedeutung hat Ihre Arbeit im Bezug zur aktuellen documenta?
You: Ich möchte auf die Arbeit des documenta Instituts zurückkommen, weil ich denke, dass es hier den Anschein machen könnte, dass es nur um eine enge Definition von Kunst und Ökonomie geht. Aber es gibt auch andere Themen, die wir im Namen des documenta Instituts bearbeiten, zum Beispiel wenn man einen Blick auf die prägende Rolle der documenta wirft. Die Geschichte der documenta muss noch von vielen verschiedenen Kunsthistorikern durchgearbeitet werden, weil wir, meiner Meinung nach, immer noch viele leere Flecken haben. Und viele Kunsthistoriker ist sogar in gewisser Weise selbst ein Produkt der documenta-Geschichte.
Schauen wir zum Beispiel das Goethe-Institut in den 80er und 90er Jahren an. Als Partner der documenta 15 unterstützt das Goethe-Institut insbesondere die Entwicklung des lumbung-Netzwerks. Wir alle wissen, dass das Goethe-Institut heute sehr beliebt und mächtig ist, aber bereits in den 80er und 90er Jahren war das Goethe-Institut im globalen Süden sehr aktiv und knüpfte Verbindungen. Und die Institute taten es auf eine nette Weise, indem sie nicht nur deutsche Künstler schickten, um dort Ausstellungen zu zeigen, sondern sie baten tatsächlich deutsche Künstler, Workshops zu machen. Also gab es einen Wissenstransfer mit dem globalen Süden, an Orten wie Manila, Jakarta, Delhi, Buenos Aires. Es gab viele Workshops. Und wir wissen heute aus diesen Ländern, dass sie tatsächlich Workshops machen, wie zum Beispiel das Raqs Media Collective. Das Delhi Raqs Media Collective hat sich 1991 durch Workshops, die vom Goethe-Instituts unterstützt wurden, entwickelt und einige Jahre später mit der Installation „28f28” N / 77f15” E :: 2001/02″ die allererste Gemeinschaftsarbeit gemacht, die auf der documenta 11 zu sehen war. Das Kollektiv ist auch jetzt am Ökosystem der documenta fifteen beteiligt.
Die Installation war eine Zusammenstellung aus Video, Text, Ton, Druck und Werbegrafik. Aus dokumentarischem und gefundenem Material wurde eine Matrix von Bedeutungen zu urbaner Enteignung und den Zeichen des Gesetzes in der Stadt geschaffen. Neben dem Raum mit der Installation zeigte Raqs Collective eine Software und einen Online-Raum für eine gemeinsame digitale Kreativität. Dabei wurde ein „digitaler öffentlicher Raum“ erstellt und regeneriert, in dem es ebenso um das Hervorbringen eigener Werke ging wie darum, den „Raum“ des Werkes eines jeden anderen zu teilen.
Das meinen wir mit „der prägenden Rolle der documenta“. Ich meine, nicht alle Künstler sollen documenta-Künstler werden, aber es ist sehr interessant zu sehen, dass deutsche Künstler eigentlich schon sehr lange in den globalen Süden integriert waren, aber die documenta selbst viel länger brauchte, um globale Kunst zu zeigen.
Wie also versteht das Goethe-Institut den globalen Süden? Wie können wir seine Arbeit und die deutsche Außenpolitik in dieser Richtung verstehen? Das sind die Fragen an die Kunst, an denen wir zu arbeiten versuchen.
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W.K.K.: Haben Sie auch direkt Kontakt zu ruangrupa?
You:Ja, wir hatten in diesem Jahr viele Kontakte zu ruangrupa. Ich habe mit ihnen auch die Podiumsdiskussion „Wie können wir Ökonomie(n) neu denken?“ für die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen moderiert.
(https://documenta-fifteen.de/mediathek/wie-koennen-wir-oekonomien-neu-denken-kunstsammlung-nordrhein-westfalen/)
Wir sprechen viel miteinander und ich habe viele von ihnen im Ekosistem treffen können. Das Ekosistem, das sie geschaffen haben, ist wirklich eine große Sache.
Eigentlich bin ich auch eine der 1500 Teilnehmerinnen in der größeren Liste des documenta Ekosistems. Ich habe einen Beitrag zum Projekt, das man im Naturkundemuseum sehen kann, geleistet. Ich habe mit einer sozial-ökonomischen Art von Investitionen Landschaften für das landwirtschaftliche Kollektiv namens INLAND in diesem Museum beigetragen.
Die Idee dabei ist, wie man Investitionen veranlassen kann für das, was wir vorschlagen, eine private oder eine kollektive Finanzierungsform.
Im Anschluss an verschiedene Bildungsprojekte, die INLAND in den vergangenen Jahren initiierte, gründete das Kollektiv die INLAND Academy, die auf der documenta mit einer Veranstaltungsreihe und Konferenzen präsent ist. Sie ist in einem größeren Raum im Ottoneum, auf der anderen Eingangsseite. Das ist vielleicht nicht wirklich künstlerisch, aber es geht immer um Kunst und Ökonomie und wie wir mehr Finanzierungen und Möglichkeiten für die Künstler schaffen können, ohne Kompromisse einzugehen. Ich sehe einen praktikablen öffentlich-privaten Finanzierungsmodus für das Kollektiv, das eigentlich Kunst macht, aber auch viel Arbeit in der Entwicklung des ländlichen Raums und der Ausbildung von Menschen zu Hirten leisten.
Und dann gibt es noch eine letzte Sache: Ich arbeite an der Besucher*innen-Befragung, die ein sehr formelles, offizielles Dokument der documenta ist, mit und habe mit einer Frage dazu beigetragen.
Prof. Dr. Joanna Ozga kümmert sich um die Besucher- und Nicht-Besucherforschung im Kontext der Wirkungsforschung der documenta, regionale Herkunft, Attraktivität, Motivation usw. … Die meisten Fragen sind wirklich Standard: Woher kommen Sie? Wie viele Nächte bleiben Sie? Übernachten Sie in einem Hotel? Und so weiter …
Und dann bat sie mich, einen Beitrag zu leisten, und das war für mich interessant. Meine Frage lautet: „Was nehmen Sie aus dieser documenta mit und was möchten Sie an andere documenta-Besucher weitergeben?“
Da steckt die Idee des Geschenks – des Schenkens und Teilens – dahinter. Das bedeutet, über die Idee von lumbung nachzudenken; es geht darum, wie man Wissen und Erfahrungen teilt oder man anders sehen kann, wie man anfangen kann, Werte zu teilen und sich mehr zu kümmern. Die Frage nach dem Schenken macht mich auf die Reaktion der Besucher neugierig und ob die Besucher das Thema registriert haben oder nicht.
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W.K.K.: In der europäischen Kunstgeschichte der Neuzeit wurde Kunst auf einen rein ästhetischen Wert reduziert und Ausstellungsformate wie der „White Cube“ sollten das Kunstwerk möglichst von seinem gesellschaftlichen Kontext trennen, fast wegdrängen. Kunst sollte für sich, allein, einzeln als Ästhetik im Raum stehen. In vielen afrikanischen Kulturen liegt der Wert von Ästhetik jedoch in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Kunst ist sehr mit der Gesellschaft verbunden. Sehen wir im Norden der Welt Kunstwerke Ihrer Meinung nach anders als im Süden der Welt? Ist der Kunstbegriff im Norden völlig anders als im Süden?
You: Zunächst einmal geht es darum, die binären Dichotomien zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden zu definieren. Eine andere Dichotomie ist Art to Art und White Cube versus eine Art Gemeinschaftskunst. Ich muss sagen, dass alle diese Dichotomien eine Art konstruierte Dichotomien sind, sie sind ein bisschen zu „Schwarz oder Weiß“. Eigentlich müssen wir genau hinschauen. Jetzt haben wir zum Beispiel hier in Kassel den globalen Süden, aber es gibt nicht nur soziale Gemeinschaftskunst, sondern dazwischen auch viele verschiedene Positionen oder Situationen. Was mir bei dieser documenta ein bisschen fehlt, ist die Erkenntnis, dass nur weil der (als Code Namen genannte) globale Norden sein eigenes Kunstverständnis auf die Probe stellen muss, das nicht unbedingt bedeutet, dass der globale Süden nur diese Art von Kunst hervorbringt.
Die Künstler möchten auch nicht nur auf ihre Herkunft reduziert werden. Es gibt Künstler, die eine sehr persönliche Handschrift haben. Es ist schwer zu sagen, was traditionell und was zeitgenössisch in der sozialen Entwicklungspolitik dieser Länder ist.
Im globalen Süden arbeiten die Menschen sehr taktisch, weil es keine Infrastrukturen gibt, was bedeutet, dass sie die lokalen Regierungen davon überzeugen müssen, ihre Arbeit zu unterstützen. Und die Regierungen ihrerseits haben kein Kulturbudget, also müssen sie das, was die Künstler tun, entweder wertschätzen oder sie müssen die Nutzung ihre Werken für die Entwicklung der Gemeinschaft bedenken. Aber wenn die Künstler also für Regierungen arbeiten und sie sie finanziell brauchen, kann es zu einem Problem kommen. Das muss man anerkennen. Insbesondere wenn die Akteure nicht ganz politisch korrekt handeln. Das ist auch der Grund unserer Arbeit. Mit einer Lösung für sozial-private Finanzierungen könnte man mögliche Instrumentalisierungen vermeiden.
Wenn man aus einem solchen Umfeld stammt, wo es keine öffentliche Förderungen für Kunst gibt, muss man also zusammenarbeiten. Die Stellung von Kunst scheint von deren Finanzierung abhängig zu sein. Das ist das Motiv, warum ich mich für mehr Finanzierungen für die Kunst einsetze, damit Kunst einen größeren Einfluss auf die Gesellschaft haben kann.
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W.K.K.: Was kann in diesem Kontext das documenta Institut leisten? Welche Rolle kommt in dieser Zeit dem documenta Institut zu und wie kann das Institut dieser gerecht werden?
You:Das documenta Institut bietet mit der Reihe „Vergiftete Verhältnisse“ einen ernsthaften Dialog und Gespräche zur Gegenwartskunst an der Lehr- und Forschungsstation auf dem Lutherplatz in Kassel an. Wir haben sehr prominente Wissenschaftler eingeladen. Kunst, die auf Gegenwart zielt, hat unweigerlich mit den teilweise ziemlich vergifteten Verhältnissen von Kunst, Politik und Gesellschaft zu tun.
Ich denke, dass man in der Debatte auch eine gewisse Distanz braucht. Und das zeigt, warum das documenta Institut so wichtig ist, weil man wirklich eine unabhängige Sicht auf all diese Themen hat.
Ich habe bereits von meinen eigenen Beiträgen zur documenta in Bezug auf die historischen Recherchen, die wir zum Beispiel über das Goethe-Institut machen, gesprochen. Aber es geht auch um die Zukunft und wie wir langfristig Aspekte verschiedener Finanzierungen, Kultur- und Gesellschaftsfragen betrachten oder wie Kunst zur Nachhaltigkeitsdiskussion beitragen kann, wie Kunst Organisationen beeinflussen kann, von der Strukturebene bis zur Politikgestaltung oder auf einer sozialen Ebene. Ich denke, dass wir als documenta Institut viele Möglichkeiten haben.
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W.K.K.: Eine letzte Frage möchten wir Ihnen noch stellen: Und wo würden Sie dann gerne arbeiten? Wo sollte das documenta Institut in Kassel dann sein?
You: (Lachend) Ich habe verstanden, dass das Thema eine riesige Diskussion in der Stadt hervorgerufen hat, aber ich bin nicht über die möglichen Standorte informiert. Ich persönlich finde, dass das Gebäude nicht unbedingt Schönheit repräsentieren muss. Tatsächlich arbeitet das documenta Institut auf vielfältige Weise und mit unterschiedlichen Akteuren. Das ruruHaus wäre vielleicht perfekt, um Informationen mit anderen Institutionen auszutauschen. Vielleicht, aber ich habe keine persönlichen Vorlieben.
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W.K.K.: Prof. Dr. Mi You, wir danken Ihnen für Ihre Zeit, das freundliche Gespräch, die Beantwortung unserer Fragen und Ihre Darlegungen und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg.
[ Das Interview führten Sonja Rossetini und Gerrit Bräutigam ]
Übersetzung: Sonja Rossettini
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Prof. Dr. Mi You
ist Professorin im Fachgebiet Kunst und Ökonomien an der Universität Kassel sowie dem documenta Institut. Davor war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Kunst- und Medienwissenschaften an der Kunsthochschule für Medien in Köln (2014–2021). Sie war als Dozentin an der School of Art, Design and Architecture der Aalto-Universität in Helsinki im Programm Visual Cultures, Curating and Contemporary Art tätig (2019–2020), an der Roaming Academy des Dutch Art Institute (2018–2019) sowie als Lehrbeauftragte an der Hochschule für Künste Bremen (2016–2017).
Forschungsinteressen
2019 wurde sie an der Kunsthochschule für Medien in Köln promoviert. Mi You studierte Medienwissenschaften sowie Science and Technology Studies. Ihre Forschungsinteressen umfassen Neuen und historischen Materialismus, performative Philosophie, sowie die Geschichte, politische Theorie und Philosophie Eurasiens.
Mi You ist international als Kuratorin tätig. Sie arbeitet insbesondere zu dem Thema der Seidenstraße als Denkfigur für alte und neue Netzwerke und Technologien. Dazu hat sie Ausstellungen am Asian Culture Center in Gwangju, Südkorea, dem Ulaanbaatar International Media Art Festival, Mongolei (2016), und am Zarya CCA, Vladivostok (2018) kuratiert. Mit Binna Choi leitet sie seit 2018 gemeinsam das Forschungs- und Kurationsprojekt “Unmapping Eurasia”. Politische Aspekte von Technologie und Zukunft liegen ihren Arbeiten zu “actionable speculations” zugrunde, etwa der Ausstellung “Sci-(no)-Fi”1 an der Akademie der Künste der Welt (2019) oder ihrer Tätigkeit als Vorsitzende des Ausschusses für Medienkunst und Technologie des Common Action Forum.2 Sie ist ferner eine der Kurator_innen der 13. Shanghai Biennale (2020–2021).3
Mitgliedschaften und Aktivitäten
Sie ist Mitbegründerin des von der EU geförderten Projekts “Transnational Dialogues”4, Fellow der Alexander von Humboldt Stiftung, des Zentrums Paul Klee in Bern und der Independent Curators International in New York. Ferner ist sie Mitglied der Akademie der Künste der Welt, Vorstandsmitglied von Arthub5 und im wissenschaftlichen Beirat des Institute for Provocation6 tätig.