Interview mit
Andreas Hoffmann 

zur

Zukunft der documenta

© docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH: Andre­as Hoff­mann, Kas­sel, 2023, Foto: Nico­las Wefers

Ambi­gui­täts­to­le­ranz
ist der Leit­ge­dan­ke des neu­en Geschäfts­füh­rers der documenta

Am Abend des 8. Mai 2023 hat­te das docu­men­ta forum den neu­en Geschäfts­füh­rer der docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH,  Andre­as Hoff­mann, dazu ein­ge­la­den, am Jour Fixe teil­zu­neh­men und sich den Mit­glie­dern des Ver­eins vor­zu­stel­len. Das docu­men­ta forum e.V., das 1972 von Arnold Bode als Freun­des- und Unter­stüt­zers­kreis der docu­men­ta gegrün­det wur­de und sich dazu ver­pflich­tet, Bodes Aus­stel­lungs­idee zu wah­ren und zu deren Wei­ter­ent­wick­lung bei­zu­tra­gen, ver­an­stal­tet regel­mä­ßig einen Jour Fixe, lädt Per­sön­lich­kei­ten mit Bezug zur docu­men­ta ein und beglei­tet mit kul­tur­po­li­ti­schen Stel­lung­nah­men, Gesprä­chen und Ver­an­stal­tun­gen die aktu­el­len Dis­kus­sio­nen um Kunst und Kul­tur. Andre­as Hoff­mann hat­te aus die­sem Anlass einen Input mit dem Titel „12 The­sen zur Zukunft der docu­men­ta“ vor­be­rei­tet, als Aus­gangs­ba­sis für die Gesprächs­run­de, die nach die­ser Ein­lei­tung stattfand. 

The­sen“, also kei­ne sta­ti­schen Grund­sät­ze von all­ge­mei­ner Gel­tung, son­dern Aspek­te, die als Dis­kus­si­ons­grund­la­ge für wei­te­re Gesprä­che die­nen kön­nen. Ansich­ten, die, in ihrer dia­lek­ti­schen Argu­men­ta­ti­on, einer Anti­the­se gegen­über­ge­stellt wer­den kön­nen, um in der Syn­the­se aller Posi­tio­nen eine Erkennt­nis höhe­rer Art gewin­nen zu können. 

Hier zeigt sich, Andre­as Hoff­mann nahm das docu­men­ta forum, als „Forum“ ernst, indem er Dia­log anbot, ein mit­ein­an­der denken.

Welt.Kunst.Kassel. spürt im Inter­view aus­ge­wähl­ten The­sen nach und spricht mit Andre­as Hoff­mann über die Zukunft der docu­men­ta und sei­ne Vor­ha­ben als Geschäfts­füh­rung der docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH.

W.K.K.: Herr Hoff­mann, Sie sind seit dem 1. Mai neu­er Geschäfts­füh­rer der docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH. Die docu­men­ta als welt­weit bedeu­tends­te Aus­stel­lung zeit­ge­nös­si­scher Kunst ist eine Akteu­rin des Wan­dels, sie beschäf­tigt sich mit zen­tra­len The­men der Mensch­heit, lenkt die Auf­merk­sam­keit auf Kri­sen und Kon­flik­te unse­rer Welt und stellt mit­tels der Kunst drän­gen­de Fra­gen, die eben­so not­wen­dig sind wie die mög­li­chen Ant­wor­ten. Kei­ne leich­te Aus­gangs­po­si­ti­on, auch nicht für einen ehr­gei­zi­gen und opti­mis­ti­schen Geschäftsführer.

Aber wo steht die docu­men­ta, nach den Ereig­nis­sen der docu­men­ta fif­teen, heu­te? Wel­che Plä­ne und Zie­le hat nun die docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH?

 

A.H.:  Wir müs­sen die Ereig­nis­se des ver­gan­ge­nen Som­mers scho­nungs­los auf­ar­bei­ten. Es geht um eine Wei­chen­stel­lung für die Zukunft der docu­men­ta in Kassel.

Ohne Zwei­fel: Auf das Anti­se­mi­tis­mus-Pro­blem wur­de zu spät reagiert, es wur­de nicht opti­mal kom­mu­ni­ziert und es wur­de nicht kon­se­quent kon­tex­tua­li­siert. Wäh­rend die künst­le­ri­sche Lei­tung, das Künstler*Innen Kol­lek­tiv ruan­grupa, sei­ne Ver­ant­wor­tung für die Aus­stel­lung dazu nutz­te, kri­ti­sche Kon­tex­tua­li­sie­run­gen oder wei­te­re Ent­fer­nun­gen von Wer­ken abzu­weh­ren, ver­trat die Geschäfts­füh­rung, so der Vor­wurf, ein rein pas­si­ves Ver­ständ­nis ihrer Rol­le, das der Letzt­ver­ant­wor­tung der öffent­li­chen Hand für die docu­men­ta nicht gerecht wur­de. Die Docu­men­ta geriet immer wei­ter ins Rut­schen. Meron Men­del warf als Anti­se­mi­tis­mus-Bera­ter hin, bevor er sei­ne Arbeit begon­nen hat­te, Hito Stey­erl zog sogar ihre Wer­ke zurück.

Clau­dia Roth sprach von koor­di­nier­ter Ver­ant­wor­tungs­lo­sig­keit, bei der plötz­lich gar nie­mand mehr ver­ant­wort­lich ist. Die zöger­li­che Reak­ti­on der docu­men­ta auf Fäl­le von Anti­se­mi­tis­mus war für vie­le jüdi­sche Bürger*innen und Orga­ni­sa­tio­nen verstörend. 

Für die Gesell­schaf­ter, den Auf­sichts­rat und mich als neu­en Geschäfts­füh­rer und das Team der docu­men­ta gilt es, Kon­se­quen­zen aus den Anti­se­mi­tis­mus­vor­fäl­len zu zie­hen. Es geht um eine Wei­chen­stel­lung für die Zukunft der docu­men­ta in Kas­sel und ganz kon­kret um 4 Punkte: 

 

  • Ers­tens um die Ver­stän­di­gung auf Stan­dards im Umgang mit der Kunst­frei­heit und ihren Grenzen;
  • Zwei­tens um den Umgang mit jeg­li­cher grup­pen­spe­zi­fi­schen Form der Men­schen­feind­lich­keit wie Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus und Anti­zi­ga­nis­mus, die auf kei­ner docu­men­ta auch nur ansatz­wei­se einen Platz fin­den dürfen;
  • Drit­tens um die Anpas­sung der Orga­ni­sa­ti­ons- und Gre­mi­en­struk­tu­ren sowie 
  • Vier­tens um die Fest­le­gung der Rah­men­be­din­gun­gen, unter denen die Künst­le­ri­sche Lei­tung der docu­men­ta 16 ihre kura­to­ri­sche Ver­ant­wor­tung wahr­nimmt und um die Rol­le, die die Geschäfts­füh­rung in Zukunft ein­neh­men muss.

Seit Ende Janu­ar und Anfang Febru­ar 2023 ste­hen uns für die kon­kre­te Auf­ar­bei­tung der Anti­se­mi­tis­mus­vor­fäl­le des ver­gan­ge­nen Som­mers zwei lang erwar­te­te Gut­ach­ten zur Ver­fü­gung, die uns in den Wir­ren der docu­men­ta fif­teen gefehlt haben.

Das ist zum einen das von Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Clau­dia Roth Ende Janu­ar ver­öf­fent­lich­te Gut­ach­ten des Ber­li­ner Ver­fas­sungs­recht­lers Chris­toph Möl­lers zum The­ma Kunst­frei­heit, das aus­ge­hend von der docu­men­ta fif­teen juris­tisch klä­ren soll­te, wie weit die Kunst­frei­heit reicht.

Das ist zum ande­ren der seit Anfang Febru­ar vor­lie­gen­de Abschluss­be­richt der wis­sen­schaft­li­chen Beglei­tung der docu­men­ta fif­teen unter der Lei­tung von Prof. Dr. Nico­le Dei­tel­hoff, die vom Auf­sichts­rat und den Gesell­schaf­tern der docu­men­ta Ende Juli 2022 ein­ge­setzt wor­den war, der klä­ren soll, wel­che orga­ni­sa­to­ri­schen Kon­se­quen­zen aus dem Skan­dal des ver­gan­ge­nen Som­mers zu zie­hen sind.

Bei­de Gut­ach­ten sind für die docu­men­ta von immenser Bedeu­tung. Bei­de bil­den wich­ti­ge Bau­stei­ne für die von mir zu koor­di­nie­ren­de Orga­ni­sa­ti­ons­un­ter­su­chung der docu­men­ta zu den Struk­tu­ren, Zustän­dig­kei­ten, Ver­ant­wort­lich­kei­ten und Abläu­fen, die zu einer voll­kom­me­nen Neu­auf­stel­lung der Orga­ni­sa­ti­on füh­ren wird. Wir haben die Unter­neh­mens­be­ra­tung, die uns dabei beglei­tet, vor 14 Tagen bereits aus­ge­sucht und die Orga­ni­sa­ti­ons­un­ter­su­chung hat bereits begonnen. 

Ich bin über­zeugt, dass auf die­se Wei­se ein dau­er­haf­ter Scha­den von der docu­men­ta abge­wen­det wer­den und die docu­men­ta zugleich Modell­cha­rak­ter für den Umgang mit jeg­li­cher Form von grup­pen­spe­zi­fi­scher Men­schen­feind­lich­keit in Kunst und Kul­tur erhal­ten kann.

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W.K.K.: Wird der Geschäfts­füh­rer der docu­men­ta, wie im Exper­ten­be­richt ange­deu­tet, nun Ein­grif­fe in die Arbeit der künst­le­ri­schen Lei­tung nehmen?

A.H.: Chris­toph Möl­lers hat in sei­nem Gut­ach­ten für Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Roth eine Tren­nung von künst­le­ri­scher Lei­tung und Ver­wal­tungs­lei­tung in Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen als mög­li­che Lösung für den Spa­gat der Wah­rung der Kunst­frei­heit bei gleich­zei­ti­ger Wah­rung der Kon­trol­le durch die öffent­li­che Hand skiz­ziert. Der Abschluss­be­richt sieht jetzt in der Rol­le des Geschäfts­füh­rers eine „Letzt­ver­ant­wor­tung der öffent­li­chen Hand“. Die Sor­ge in der Kunst­sze­ne ist groß, dass der Geschäfts­füh­rer der docu­men­ta damit zum staat­li­chen Ober­auf­se­her für die Kura­to­ren wird. Ich glau­be, die­se Sor­ge ist unbegründet. 

Sowohl das Gut­ach­ten von Chris­toph Möl­lers als auch der Abschluss­be­richt machen eines ganz klar: Es gibt den künst­le­ri­schen Bereich, die künst­le­ri­sche Lei­tung, die von der Kunst­frei­heit pro­fi­tiert. Und es gibt staat­li­cher­seits die Geschäfts­füh­rung, die die­se Kunst­frei­heit nicht genießt. Es ist gut, die­se Berei­che zu trennen. 

Für jede*n Kurator*In künf­ti­ger docu­men­ta Aus­stel­lun­gen ist die Kunst­frei­heit sicher­ge­stellt, sie ist gera­de mit Blick auf die Ereig­nis­se des Drit­ten Rei­ches (Berufs­ver­bo­te für Künst­ler, die Akti­on Ent­ar­te­te Kunst) eine ganz wesent­li­che Errun­gen­schaft unse­rer Gesell­schaft und ver­fas­sungs­recht­lich geschützt. 

Aber es gibt auch die Ver­wal­tung, die davon nicht pro­fi­tiert. Und die damit auch einen gewis­sen Gegen­part zur künst­le­ri­schen Lei­tung bil­den kann und muss. Das ist ein gutes, wohl­ab­ge­wo­ge­nes Mit- und Gegeneinander. 

Die „Letzt­ver­ant­wor­tung“ der staat­li­chen Kul­tur­ver­wal­tung gibt es, um Grund­rech­te zu sichern – und zu die­sem Pflich­ten­ka­non gehört der Ein­satz gegen Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus. Die­ses Gegen­ge­wicht muss der Geschäfts­füh­rer oder die Geschäfts­füh­re­rin im Zwei­fels­fall ein­neh­men und durch­set­zen – natür­lich in einem inten­si­ven Aus­tausch der unter­schied­li­chen Posi­tio­nen, die bei­de Sei­ten ver­tre­ten müs­sen und sol­len. Beschrie­ben wird also eine sehr akti­ve, kom­mu­ni­ka­ti­ons­ori­en­tier­te Rol­le der Docu­men­ta-Geschäfts­füh­rung, die sogar ihre Pflich­ten ver­letzt, wenn sie ihrer Auf­ga­be zum Schutz vor Dis­kri­mi­nie­rung nicht nach­kommt. Die­ses akti­ve Ver­ständ­nis der Geschäfts­füh­rung ist für die docu­men­ta neu. 

Die aktu­el­le Ent­schei­dung der Staats­an­walt­schaft Kas­sel, die Ein­lei­tung eines Ermitt­lungs­ver­fah­rens wegen des Vor­wurfs der Volks­ver­het­zung bei der docu­men­ta abzu­leh­nen, zeigt die Pro­ble­ma­tik im Kampf gegen Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus im Feld der Kunst, die von der Kunst- und Mei­nungs­frei­heit pro­fi­tiert. Da wird in Rech­nung gestellt, dass die Kunst­wer­ke mit anti­se­mi­ti­schen Codes vor­her bereits in ande­ren Tei­len der Welt gezeigt wur­den,  und da wird in Rech­nung gestellt, dass die Geschäfts­füh­rung der docu­men­ta kei­ne Vor­ab­kon­trol­le der Wer­ke vor­ge­nom­men hat und ein Tat­vor­setz fehlt.

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W.K.K.: Über die Bilanz und die Zukunft der Kunst­schau wird jeden­falls inten­siv gestrit­ten. Vor wel­chen Pro­ble­men und Her­aus­for­de­run­gen steht die docu­men­ta und wie möch­ten Sie die­sen begegnen?

A.H.: Unter­schied­li­che Sym­po­si­en und Tagun­gen haben nach dem Abschluss der docu­men­ta fif­teen ver­sucht, zur Ver­sach­li­chung der Dis­kus­si­on bei­zu­tra­gen. Zum Bei­spiel die For­ma­te der Frank­fur­ter Uni­ver­si­ty of Appli­ed Sci­en­ces, das Ham­bur­ger Insti­tut für Sozi­al­for­schung, das Jüdi­sche Muse­um in Frank­furt und die HFBK in Ham­burg, die mit Reza Afi­si­na und Iswan­to Har­to­no zwei der Kura­to­ren aus dem Kurator*Innen Kol­lek­tiv ruan­grupa in einer geteil­ten DAAD-Gast­pro­fes­sur beschäf­tigt, haben ver­sucht, Dia­logräu­me zu schaffen. 

Alle genann­ten For­ma­te zei­gen dabei auch, wie tief die Grä­ben und Ver­let­zun­gen bei den Betrof­fe­nen sind, die sich Anti­se­mi­tis­mus, Ras­sis­mus und Zen­sur vor­ge­wor­fen haben und wie groß auch die Ver­un­si­che­rung bei vie­len Mitdiskutant*Innen und in der Gesell­schaft ist. 

Zwei fun­da­men­ta­le Posi­tio­nen ste­hen ein­an­der noch immer gegen­über: „Nie wie­der Holo­caust“ und „Nie wie­der Kolo­nia­lis­mus“. Ein ech­ter Dia­log rund um die sehr wich­ti­gen Fra­gen des Anti­se­mi­tis­mus, des Ras­sis­mus und des Post­ko­lo­nia­lis­mus ist nach wie vor schwierig. 

Man darf nicht ver­ges­sen, dass die Erfah­run­gen der Ver­gan­gen­heit auf allen Sei­ten schwer wie­gen, hier die Erfah­rung der Schoa und der Ermor­dung von 6 Mil­lio­nen Juden, dort die Erfah­run­gen der „Nak­ba“ von Besat­zung, Kolo­nia­li­sie­rung, Unter­drü­ckung und Zen­sur. Viel­leicht ist schon viel gewon­nen, wenn den ver­schie­de­nen Posi­tio­nen Dis­kus­si­ons­räu­me, Podi­en und Foren gebo­ten wer­den, um ihre Sicht­wei­sen, ihre Ver­let­zun­gen und Ängs­te zu arti­ku­lie­ren. Viel­leicht ist schon viel gewon­nen, wenn die ver­schie­de­nen Sei­ten ein­an­der zuhö­ren und abwei­chen­de Posi­tio­nen akzeptieren.

Nathan Szna­ider hat in die­sem Zusam­men­hang von allen Sei­ten mehr Ambi­gui­täts­to­le­ranz gefor­dert. Das Kon­zept geht auf die öster­rei­chisch-ame­ri­ka­ni­sche Psy­cho­lo­gin und Psy­cho­ana­ly­ti­ke­rin Else Fren­kel-Bruns­wik zurück und beschreibt die mensch­li­che Fähig­keit, Wider­sprü­che aus­hal­ten zu können.

Die­se Fähig­keit hat es auf der docu­men­ta fif­teen nicht gege­ben. Wie beim „Squash-Spiel“ schnell­ten die Vor­wür­fe des Anti­se­mi­tis­mus und Ras­sis­mus hin- und her. Dabei soll­te es doch gera­de dort um Welt­of­fen­heit – ergo um Ambi­gui­täts­to­le­ranz – gehen. 

Gera­de im Feld der Kunst und Kul­tur müs­sen streit­ba­re Posi­tio­nen sicht­bar blei­ben kön­nen. Ins­be­son­de­re eine Orga­ni­sa­ti­on wie die docu­men­ta muss auch wei­ter­hin offen für die Schaf­fung von Dis­kurs­räu­men bleiben.

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W.K.K.: Die Anti­se­mi­tis­mus-Debat­te hat dem Ruf der docu­men­ta sehr gescha­det. Schon in 2021 hat­te die Aus­stel­lung „docu­men­ta: Kunst und Poli­tik“ im Deut­schen His­to­ri­schen Muse­um (DHM) sich unter ande­rem mit dem Kunst­his­to­ri­ker Wer­ner Haft­mann beschäf­tigt, der nach dem Zwei­ten Welt­krieg mit­ver­ant­wort­lich für die drei ers­ten Aus­ga­ben der docu­men­ta war und zeig­te ihn nach neu­en Recher­chen als Nazi und Kriegs­ver­bre­cher. Muss die Geschich­te der docu­men­ta neu geschrie­ben werden?

A.H.: Wir müs­sen die Auf­ar­bei­tung der docu­men­ta Geschich­te unbe­dingt fort­set­zen und sys­te­ma­ti­scher auf­stel­len. In die­sem Zusam­men­hang wird auch die Auf­ar­bei­tung der eige­nen Geschich­te eine wei­ter­hin prä­gen­de Auf­ga­be für die Zukunft der docu­men­ta sein. Das docu­men­ta Archiv hat bereits die Aus­stel­lung zu den Ursprün­gen der docu­men­ta und Wer­ner Haft­mann im Deut­schen His­to­ri­schen Muse­um unter­stützt und jüngst eine kri­ti­sche Aus­stel­lung zu Emil Nol­de geschlos­sen. Das docu­men­ta Insti­tut betei­ligt sich im For­schungs­pro­jekt zur Auf­ar­bei­tung der docu­men­ta fif­teen Anti­se­mi­tis­mus und post­ko­lo­nia­le Debat­ten am Bei­spiel der docu­men­ta fif­teen und beschäf­tigt eine Wis­sen­schaft­li­che Stel­le, die aus­schließ­lich zu den „kon­ta­mi­nier­ten“ Ursprün­gen der docu­men­ta und der Per­son Haft­manns arbei­tet. All die­se Bestre­bun­gen müs­sen aus­ge­baut wer­den, sie haben nicht nur gro­ße Bedeu­tung für die Zukunft der docu­men­ta selbst, son­dern sie sind aber auch wesent­lich für die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Situa­ti­on und zuneh­men­de Polarisierungen.

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W.K.K.: Wie fan­den Sie per­sön­lich die docu­men­ta fifteen?

A.H.: Wären die Anti­se­mi­tis­mus­vor­fäl­le nicht gewe­sen, wäre die docu­men­ta fif­teen viel­leicht als eine der weg­wei­sends­ten docu­men­ta Aus­stel­lun­gen über­haupt gewer­tet wor­den. Die Anti­se­mi­tis­mus­vor­fäl­le des ver­gan­ge­nen Som­mers las­sen sich nicht weg­dis­ku­tie­ren. Sie lie­gen wie ein Schlei­er über dem ver­gan­ge­nen Som­mer. Anti­se­mi­tis­mus hat auf der docu­men­ta kei­nen Platz.

Und den­noch gilt: Die docu­men­ta fif­teen  mit ihrem Mot­to „Make Fri­ends, not art“ hat mich in gro­ßes Stau­nen ver­setzt. Ruan­grupa hat mit Lum­bung, dem Bild der indo­ne­si­schen Reis­scheu­ne zur Auf­be­wah­rung von Res­sour­cen und ihrer gerech­ten Ver­tei­lung ein star­kes Bild für einen weit in die Zukunft wei­sen­den Blick aus der Per­spek­ti­ve des Glo­ba­len Südens auf The­men wie Kol­lek­ti­vi­tät, Par­ti­zi­pa­ti­on, Nach­hal­tig­keit, Soli­da­ri­tät und den gemein­sa­men Auf­bau von Res­sour­cen gefun­den. Da gab es mit Nongkrong, einer Form des gemein­sa­men Abhän­gens ein neu­es Kon­zept, um Zeit und Wis­sen zu tei­len. Da gab es star­ke Akzen­te im Ver­mitt­lungs­be­reich, mit dem in ein Fri­ds­kul ver­wan­del­ten Fri­de­ri­cia­num, mit den Sobat-Sobat, der Mög­lich­keit sich die docu­men­ta in Beglei­tung gemein­sam auf Augen­hö­he zu erschlie­ßen, da gab es die „ruru-Kids“, einen her­aus­ra­gend gestal­te­ten Ent­de­ckungs­raum für Klein­kin­der und Eltern. 

Auch die Ergeb­nis­se der Besucher*Innen‑Evalua­ti­on der docu­men­ta fif­teen von Prof. Dr. Joan­na Ożga und Prof. i.R. Dr. Gerd-Micha­el Hells­tern von der Hoch­schu­le Ful­da, die auch im docu­men­ta forum bereits vor­ge­stellt wor­den sind, zei­gen die­sel­be Ambi­va­lenz. Die Debat­te um das Ban­ner „People’s Jus­ti­ce“ hat das Publi­kum zwar geprägt, aber es sind haupt­säch­lich die Prak­ti­ken von „lum­bung“ und „Viel­falt der Welt“, die in den Köp­fen der über­wie­gend sehr zufrie­den nach Hau­se zurück­ge­kehr­ten Menschen in Erin­ne­rung geblie­ben sind.

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W.K.K.: Clau­dia Roth for­der­te mehr Ein­fluss des Bun­des bei der docu­men­ta und mein­te, dass die finan­zi­el­le Betei­li­gung auch eine inhalt­li­che bedingt. Wie sind ihre Vor­stel­lun­gen zur Ein­bin­dung des Bun­des in Zukunft?

A.H.: Nach dem Anti­se­mi­tis­mus­vor­komm­nis­sen bei der docu­men­ta fif­teen hat Kul­tur­staats­mi­nis­te­rin Clau­dia Roth Kon­se­quen­zen für die Struk­tur der aus­rich­ten­den docu­men­ta und Muse­um Fri­de­ri­cia­num gGmbH und ihrer Gre­mi­en gefor­dert. Eine finan­zi­el­le För­de­rung des Bunds soll zukünf­tig mit einer unmit­tel­ba­ren Ein­bin­dung in die Struk­tu­ren der docu­men­ta zwin­gend ver­bun­den werden.

Im Abschluss­be­richt der fach­wis­sen­schaft­li­chen Beglei­tung der docu­men­ta fif­teen wird an der Aus­ge­stal­tung des Auf­sichts­rats bemän­gelt, dass er gegen­wär­tig nur aus Vertreter*Innen des Lan­des Hes­sen und der Stadt Kas­sel besteht. Laut Sat­zung sind min­des­tens zwei Plät­ze für Vertreter*Innen der Kul­tur­stif­tung des Bun­des vor­ge­se­hen, die aber seit 2018 (auf­grund begrenz­ter Ein­fluss­nah­me­mög­lich­kei­ten) nicht mehr besetzt sind und somit eine zwar nicht per­so­nen­iden­ti­sche, aber funk­ti­ons­iden­ti­sche Zusam­men­set­zung auf­weist, die die kri­ti­sche und kon­trol­lie­ren­de Funk­ti­on des Gre­mi­ums unterläuft.

Die kon­kre­te Ein­bin­dung der Kul­tur­stif­tung des Bun­des in die zukünf­ti­ge Struk­tur der docu­men­ta soll Gegen­stand der von den Gesell­schaf­tern und vom Auf­sichts­rat initi­ier­ten Orga­ni­sa­ti­ons­un­ter­su­chung sein. Ob und aus wel­cher Posi­ti­on her­aus die Kul­tur­stif­tung des Bun­des an einer zukünf­ti­gen För­de­rung der documen­ta mit­wirkt, wird schon in den kom­men­den Wochen auf ver­schie­de­nen Ebe­nen Gegen­stand inten­si­ver Bera­tun­gen sein. 

Dazu passt gut, dass der Abschluss­be­richt der fach­wis­sen­schaft­li­chen Beglei­tung mehr Exper­ti­se aus Kunst und Kul­tur im Auf­sichts­rat for­dert. Wir brau­chen bei­des, eine star­ke loka­le Ver­an­ke­rung in der Stadt Kas­sel und im Land Hes­sen, dar­über hin­aus aber auch natio­na­le und inter­na­tio­na­le Exper­ti­se, die der Bedeu­tung der docu­men­ta als Kunst­in­sti­tu­ti­on von welt­wei­ter Bedeu­tung gerecht wird. 

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W.K.K.: Nach der docu­men­ta ist vor der docu­men­ta. Wie lau­fen nun die Vor­be­rei­tun­gen für die kom­men­de docu­men­ta 16, die vom 12. Juni bis zum 19. Sep­tem­ber 2027 statt­fin­den soll?

A.H.: Mit Bracha Lich­ten­berg Ettin­ger, Gong Yan, Ran­jit Hosko­té, Simon Nja­mi, Kath­rin Rhom­berg und María Inés Rodrí­guez hat der Auf­sichts­rat in sei­ner Sit­zung am 30.3.2023 die Fin­dungs­kom­mis­si­on der docu­men­ta 16 mit sechs ausgewie­se­ne inter­na­tio­na­le Expert*Innen der zeit­ge­nös­si­schen Kunst gebil­det.  Damit geht die docu­men­ta einen wich­ti­gen Schritt in Rich­tung docu­men­ta 16. Wie sie wis­sen, hat die Fin­dungs­kom­mis­si­on die Auf­ga­be, weg­wei­sen­de Per­sön­lich­kei­ten der zeit­ge­nös­si­schen Kunst ein­zu­la­den, sich für die künst­le­ri­sche Lei­tung der docu­men­ta 16 zu bewer­ben, und aus den prä­sen­tier­ten Kon­zep­ten das viel­ver­spre­chends­te For­mat aus­zu­wäh­len. Die Beru­fung der Künst­le­ri­schen Lei­tung ist für Ende 2023 / Anfang 2024 ange­strebt. Ich bin gemein­sam mit den Gesell­schaf­tern und dem Auf­sichts­rat sehr froh dar­über, dass wir sechs her­aus­ra­gen­de Exper­tin­nen und Exper­ten aus aller Welt gewin­nen konn­ten, die sowohl mit ihren unter­schied­li­chen künst­le­ri­schen, kura­to­ri­schen und kul­tur­theo­re­ti­schen Hin­ter­grün­den als auch als Per­sön­lich­kei­ten gemein­sam für die Moder­ni­tät, die Inter­na­tio­na­li­tät und die Viel­falt der docu­men­ta ste­hen. Die Fin­dungs­kom­mis­si­on hat nun aus­rei­chend Zeit, die bes­ten und inno­va­tivs­ten Kon­zep­te für Kas­sel zu gewinnen.

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W.K.K.: Was wün­schen Sie sich für die Zukunft der documenta?

A.H.: Die docu­men­ta muss mutig blei­ben, wir brau­chen Wider­spruch und Pro­vo­ka­ti­on.

Alle docu­men­ta-Aus­stel­lun­gen waren wich­ti­ge Seis­mo­gra­phen zen­tra­ler Dis­kur­se und Her­aus­for­de­run­gen unse­rer Gesell­schaft im Spie­gel der Kunst. Wie beim Blick in eine Glas­ku­gel und wie in einem Brenn­glas ist es dabei oft gelun­gen, in fast visio­nä­rer Wei­se aktu­ells­te Fra­gen und The­men, die unse­re Gesell­schaft bewe­gen, zu fokus­sie­ren. Ich bin sicher, auch die docu­men­ta 16 wird sich an den exis­ten­ti­el­len Kri­sen unse­rer Gegen­wart und dem Kol­la­bie­ren unse­rer Lebens­wel­ten rei­ben. Sie wird uns, da bin ich ganz sicher, neue unge­ahn­te Pro­ble­me berei­ten. Jede docu­men­ta ist anders. Kei­ne docu­men­ta ver­folgt die Agen­da der vor­her­ge­gan­ge­nen Aus­ga­be. Die docu­men­ta erfin­det sich jedes Mal neu.

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[ Das Inter­view führ­ten: Son­ja Ros­set­ti­ni + Hel­mut Plate ]

Andre­as Hoff­mann freut sich auf die kom­men­de docu­men­ta 16, auf sei­ne neu­en Auf­ga­ben und die Herausforderungen.

Er könn­te uns bei unse­rem Inter­view mit detail­lier­ten Kennt­nis­sen der Geschich­te und Lage der docu­men­ta und mit kla­ren und struk­tu­rier­ten Ant­wor­ten über­zeu­gen. Er war nicht nur sehr gut vor­be­rei­tet und im The­ma, son­dern punk­te­te auch mit Sym­pa­thie und Offen­heit. Ins­be­son­de­re freu­en wir uns dar­über, dass Andre­as Hoff­mann die Bedeu­tung der Kunst­frei­heit betont hat und die­se nicht ein­schrän­ken möch­te. Er beton­te auch sei­ne Skep­sis gegen­über Ver­su­chen, die Struk­tu­ren der docu­men­ta zu ändern und neue, zusätz­li­che Gre­mi­en zu schaf­fen, und ver­si­cher­te, dass die Angst, die docu­men­ta könn­te Kas­sel ver­las­sen, völ­lig unbe­grün­det sei, weil Kas­sel idea­ler Nähr­bo­den der docu­men­ta sei und die docu­men­ta zur Iden­ti­tät der Regi­on bei­getra­gen habe. Ziel von Andre­as Hoff­mann ist es, das Anse­hen der docu­men­ta nicht nur lokal, son­dern auch glo­bal zu stär­ken und Part­ner­schaf­ten mit natio­na­len und inter­na­tio­na­len Orga­ni­sa­tio­nen zu pflegen.

 

Gut oder böse, schwarz oder weiß, Freund oder Feind: So sehen vie­le Men­schen die Welt. Dass die Din­ge oft weni­ger ein­deu­tig sind, hal­ten sie nur schwer aus und das macht sie anfäl­lig für Dog­ma­tis­mus, radi­ka­les Den­ken und Ver­här­tung bis zum Fana­tis­mus.Ins­be­son­de­re glaubt Andre­as Hoff­mann an die hoch­ak­tu­el­le Bedeu­tung der Ambi­gui­täts­to­le­ranz, die er mehr­fach beton­te und die nicht nur die Kunst­welt, son­dern unser gan­zes Zusam­men­le­ben mit ande­ren Men­schen betrifft.

Kunst ist per Defi­ni­ti­on nicht ein­deu­tig: Ein Kunst­werk hat sel­ten eine ein­deu­ti­ge Aus­sa­ge und es kom­men immer ande­re Dimen­sio­nen oder Inter­pre­ta­tio­nen, nicht zuletzt die des Betrach­ters, hin­zu. Mit dem Wis­sen über Ambi­gui­täts­to­le­ranz lässt sich eini­ges im Zusam­men­le­ben erklä­ren und bes­ser machen. Viel­leicht ist genau dies die eigent­li­che Auf­ga­be der docu­men­ta als Insti­tu­ti­on, und zwar nicht nur im Hin­blick auf die zeit­ge­nös­si­sche Kunst. Bei der Ambi­gui­täts­to­le­ranz müs­sen wir anset­zen, um die Chan­ce zu nut­zen, die es uns ermög­licht, auch in der Her­an­ge­hens­wei­se an alle ande­ren Dis­zi­pli­nen einen Qua­li­täts­sprung zu machen. Und das heißt lernen.