Nur mal so …
Von Willie Ditzel
Üblicherweise gab es bisher zwischen zwei documenta-Ausstellungen in Kassel das documentaarchiv, das die Erinnerungen an vergangene Ausstellungen präsent hält und die Besichtigung der Außenkunstwerke, zu denen auch regelmäßige Führungen angeboten werden. Wenige Tage vor Eröffnung der jeweils nächsten Welt-Kunstschau tat sich dann an verschiedenen Stellen der Stadt etwas, das aber mit Bemerkungen wie „ist ein Teil der documenta“ bis zum Tag ihrer Eröffnung nicht weiter von den Beteiligten erläutert wurde.
Doch diesmal ist alles anders. Das Kuratorenteam ruangrupa aus Indonesien hat zur documenta fifteen – so die offizielle Schreib- und Sprechweise – in einem ehemaligen vierstöckigen Sportfachgeschäft an der Ecke Treppenstraße / Obere Königsstraße mit Blick auf den Hauptaustragungsort Fridericianum sein Quartier bezogen und das ist ganz schön „durchsichtig“. Oben sind die Büroräume des Teams und der Mitarbeiter, von draußen gut einsehbar ist bereits der Bereich, in dem künftig Vorträge und Diskussionen stattfinden werden, natürlich wird es „spaces“ für Künstler geben und irgendwann werden auch das Info- und Pressebüro hier einziehen.
Anfang September 2020 hatte das Kollektiv zu vier Tagen der offenen Tür eingeladen und mögliche Konzeptionen der weiteren Entwicklung vorgestellt und diskutiert. So viel Offenheit und Publikumsnähe zwei Jahre vor der eigentlichen Kunstschau (18. Juni — 25.September 2022) gab es noch nie.
„Hier könnte sich noch viel mehr abspielen“, sagt uns Reza Afisina von ruangrupa, „aber das Corona-Virus hat bisher die konkrete Planung von öffentlichen Ausstellungen und Symposien verhindert.“ Trotzdem teilen ruangrupa über die großen Glasfensterscheiben der ehemaligen Sportarena sehr viel von ihrer Arbeitsweise mit und fordern nicht nur Kasseler sondern auch auswärtige Besucher der Stadt auf, sich einzubringen. Ein Wort, dass dabei mehrmals prominent ins Auge fällt, lautet „lumbung“. Gegoogelt erfährt man darüber dass „lumbung“ eine Reisscheune in den ländlichen Gebieten Indonesiens ist, ein von der Bevölkerung kollektiv genutzter Bau, in dem die Ernte einer Gemeinde zusammengetragen, gelagert und nach gemeinsam bestimmten Kriterien verteilt wird.
„Das ruruhacs ist also eine Art lumbung, in dem Ideen, Geschichten, und andere Ressourcen für die documenta fifteen und Kassel gesammelt werden, die nicht nur Künstler hier einbringen können“, sagt Iswanto Hartono aus Djakarta. „Wir möchten etwas schaffen, dass nicht im September 2022 zu Ende geht, sondern Impulse setzt, die hoffentlich weltweit neue Wege zeigen, wie aus kollektiv geteilten Ressourcen Arbeits- und Nachhaltigkeitsmodelle und neue künstlerische Praktiken erwachsen.“ Es sieht also danach aus, als würde sich die documenta fifteen nicht nur der bildenden Kunst, sondern auch der Kunst, in Zukunft verantwortungsvollerzu leben, widmen. Das klingt doch recht vielversprechend.
Übrigens: Sollten Sie Mitgliedern des ruangrupa-Kollektivs, die sich oft in der Öffentlichkeit zeigen und am Leben in Kassel teilnehmen, begegnen, müssen Sie nicht vor Ehrfurcht auf die Knie fallen, sondern können alle jederzeit freundlich ansprechen. „Wir freuen uns immer, neue Menschen und Freunde kennenzulernen“, sagt Reza Afisina.
Reza Afisina
Reza Afisina is a new media artist who utilizes performance art in his practice. Some of his exhibitions include L’Archipel Secret (Palais de Tokyo, Paris, 2015), World Reversed, 20th Asiatopia International Performance Art 2018 (Bangkok Art and Culture Center), Negotiating the Future, 2017 Asian Art Biennial – The National Taiwan Museum of Fine Arts (Taichung), Ataraxia, Salon Suisse 2017 for the Swiss Arts Council (Venice), and No Country: Contemporary Art for South and Southeast Asia (Salomon R. Guggenheim Museum, New York, 2013). He is serving Asia Pacific Triennale 2018 as an interlocutor. Joined ruangrupa since 2003, he was the collective’s program coordinator until 2007. Since 2008, he has been the director ruangrupa’s ArtLab. He co-curated TRANSaction: Sonsbeek 2016 in Arnhem, NL. With his partner-in-crime, also in ruangrupa’s ArtLab, Iswanto Hartono, he established a conceptual duo: RAIH.