Interview
mit
Moritz Wesseler
Direktor des Fridericianums
DAS FRIDERICIANUM SETZT NEUE IMPULSE
Moritz Wesseler, Kassel, 2021 © Albrecht Fuchs, Köln
Das 1779 als erstes öffentliches Museum weltweit eröffnete Fridericianum ist seit 1988 ein zentraler Ort der Gegenwartkunst in Deutschland.
Die Ergebnisse und Entwicklungen der letzten Jahre haben bewirkt, dass Kunstinstitutionen überall auf der Welt neue Prozesse initiiert haben und das Fridericianum, als Ausstellungshaus der Stadt Kassel für internationale Gegenwartkunst und Diskurs, bildet da keine Ausnahme. Es ist also eine aufregende Zeit, um in der Kunst zu arbeiten und zugleich ein Privileg, eine Institution zu leiten, die eine Instanz der zeitgenössischen Kunst ist, in unserer documenta Stadt, in der für die Gesellschaft Kunst und Kultur eine zentrale Rolle spielt.
Moritz Wesseler ist seit 2018 Direktor des Fridericianum in Kassel und wird die Kunsthalle bis zum Jahr 2027 leiten. Der charismatische Bremerhavener spricht im Interview mit Welt.Kunst.Kassel. über die Bedeutung des Standortes Kassel innerhalb der deutschen Kunstszene, erfolgreiche Ausstellungen, die Sichtbarkeit künstlerischer Positionen und seine Träume für die Zukunft
W.K.K.: Herr Wesseler, was bietet Kassel im Vergleich zu anderen Städten in denen Sie gelebt und gearbeitet haben?
M.W.: Kassel ist die documenta Stadt! Die Begeisterung für die bildendenden Künste, aber natürlich auch für viele andere Facetten der Kultur, sind hier überall spürbar. Regelmäßig erlebe ich im Austausch mit den Bürger*innen eine bemerkenswerte Leidenschaft für die Kunst. Beispielsweise haben wir unlängst unter Beteiligung von Kasseler Firmen das neue MIMIKRY-Café von Kerstin Brätsch für die Rotunde des Fridericianum umgesetzt. Das Einfühlungsvermögen und die Hingabe, mit der das Projekt vorangetrieben wurde, hat auch die Künstlerin beeindruckt.
Unabhängig davon bietet Kassel einen fantastischen Kontext, um sich mit Ruhe und Konzentration den künstlerischen Positionen bzw. Entwicklungen zu widmen. Auch erlebe ich in der Stadt einen Rahmen, innerhalb dessen man Experimente wagen kann. Die Menschen sind hier einfach sehr offen.
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W.K.K.: Wie hat sich die Kunsthalle in den letzten Jahren verändert und entwickelt?
M.W.: Vor dem Hintergrund der Pandemie und der damit einhergehenden Schließung von Kultureinrichtung wurde unsere digitale Vermittlungsarbeit und Kommunikation deutlich ausgebaut. So produzieren wir mittlerweile zu jeder Ausstellung Dokumentationsfilme, die durch Interview-Clips mit Künstler*innen oder Expert*innen ergänzt werden. Die inhaltliche Arbeit wird somit nachhaltig intensiviert. Gleichzeitig erhöht sich durch die Erweiterung der Maßnahmen die Sichtbarkeit des Fridericianum.
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W.K.K.: Sie möchten die weitere Einbindung des Fridericianums in die Stadt und in die Region vorantreiben
M.W.: Das ist absolut richtig. Es ist eines der zentralen Ziele, die Vermittlungsarbeit wie auch die Vernetzung in Kassel sowie in der Region zu intensivieren. Wir setzen insofern auf facettenreiche, zielgruppenorientierte Vermittlungsangebote wie auch auf Kooperationen. Diese werden von entsprechenden Kommunikationsmaßnahmen begleitet.
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W.K.K.: Welche Pläne haben Sie, um die Kunsthalle Fridericianum weiter nach vorne zu bringen und auch im Bundesvergleich besser zu positionieren? Oder halten Sie das eher für eine Aufgabe von Kassel Marketing?
M.W.: Das Fridericianum hatte und hat national wie auch international bereits eine große Sichtbarkeit und Wirkung. Beispielsweise werden viele der Ausstellungen und Projekte, die eigens für Kassel entwickelt wurden, für Übernahmen angefragt. So ist etwa die Schau Waters’ Witness von Tarek Atoui, die wir im Oktober 2020, während der der Pandemie eröffnet haben, nach Stationen im Museu de Arte Contemporânea de Serralves in Porto sowie im Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean in Luxemburg in veränderter Form ab September 2023 im Museum of Contemporary Art Australia in Sydney zu erleben. Durch derartige Tourneen ist es nicht nur möglich, künstlerischen Positionen noch effektiver eine Öffentlichkeit zu bieten, sondern auch den Kunst- und Kulturstandort Kassel unabhängig von der documenta im Bewusstsein zu verankern. Insofern werden wir auch zukünftig versuchen, im Fridericianum Rahmenbedingungen zu bieten, durch die neue, innovative Perspektiven und Erlebnisse möglich sind, die im besten Fall als Orientierungspunkte fungieren können. Selbstverständlich arbeiten wir in diesem Zusammenhang sehr gerne mit Kassel Marketing zusammen.
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W.K.K.: Sie führen in Kassel den Weg fort, den Sie schon zuvor als Leiter des Kölnischen Kunstvereins begonnen hatten: stark beachtete, internationale Einzelausstellungen, häufig mit bislang von der Kunstwelt übersehenen Positionen. Sie beschäftigen sich zumeist mit Künstlern, die nicht so stark im Mittelpunkt stehen und festigen mit diesem spezifischen Fokus den Status unsere nordhessische Metropole als Ort der künstlerisch-kreativen Innovation und des Experiments. Was zeichnet diese Künstler besonders aus?
M.W.: Die Künstler*innen, die meine Kolleg*innen und ich im Fridericianum präsentieren, verhandeln sehr unterschiedliche Themen und Fragestellungen. So reflektierten die Arbeiten von Martine Syms, die 2021/2022 in Kassel ihr Deutschland-Debut feierte, Erfahrungen von Rassismus oder die Herausforderungen des digitalen Zeitalters. Die Praxis von Tauba Auerbach verweist demgegenüber auf die Auseinandersetzung mit konzeptuellen, kunst-immanente Fragestellungen oder auf den Versuch, sich auf poetische Weise der Unergründlichkeit der Welt anzunähern. Aus meiner Perspektive ist allen Positionen gemein, dass sie reife, intensive Werke (im Sinne eines Œuvres) erarbeiten, durch die sie relevante und hoffentlich auch nachhaltige Beiträge zum Diskurs der Gegenwart liefern.
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W.K.K.: Der Erfolg einer Ausstellung wird an den Besucherzahlen gemessen. Welche weiteren Kriterien würden Sie alternativ vorschlagen?
M.W.: Natürlich freuen meine Kolleg*innen und ich uns über jede Besucher*in! Aber Zahlen können nur ein Kriterium sein. Es ist jedoch ebenfalls wichtig, künstlerischen Positionen eine Plattform zu bieten, die in Deutschland noch nicht bekannt sind und dementsprechend vielleicht nicht ein großes Publikum anziehen. Wenn unsere Besucher*innen durch die Begegnung mit dem Schaffen einer derartigen Position eine besondere Erfahrung machen und infolgedessen die Welt ein wenig anders sehen, dann kann man das als ebenfalls als Erfolg werten.
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W.K.K.: Sie präsentieren die Positionen von Künstlern, die teilweise schon lange an ihren Themen arbeiten und diese weiterentwickeln. Sie besuchen viele Ateliers und Ausstellungen und können dort spüren, was gerade Tendenzen und Themen sind. Welche Themen sind zurzeit Ihrer Meinung nach wichtig für das Kunstpublikum? Ist bei der Planung eines neuen Ausstellungskonzeptes zuerst die Idee oder der Künstler*Innen relevant?
M.W.: Aus meiner Perspektive gibt es viele Themen, die den aktuellen Diskurs bestimmen. Die Frage, wie man zukünftig auf der Erde leben kann, ist sicherlich in vielen Werken der Jetztzeit präsent. Es ist aber auch zu erleben, wie durch die Geschehnisse in der Welt Kunstwerke eine neue, weitere Bedeutung erlangen. Ich möchte das anhand der Ausstellung von Roberto Cuoghi, die kurz nach der documenta fifteen eröffnete, verdeutlichen. Ausgangspunkt des Projektes war das Bestreben, eine zentrale Position der italienischen Kunst erstmals in Deutschland vorzustellen. Meine Kolleg*innen und ich gingen also von dem Schaffen des Künstlers aus und installierten im Fridericianum eine Übersicht über dessen Produktion der letzten zehn Jahre. Dabei erlebten wir, wie die 2017 für die Biennale Venedig realisierte Werkgruppe Imitatio Christi, plötzlich auf gänzlich neue Themen verwies – was für ihre große Offenheit spricht. So rief die facettenreiche Arbeit vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine, Erinnerung an die Kriegsbilder von Künstler*innen wie Otto Dix hervor.
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W.K.K.: Auf welche Ausstellungen nach dem aktuellen Programm können wir uns freuen?
M.W.: Nach der Ausstellung von Tauba Auerbach präsentieren wir im Frühjahr 2024 eine Retrospektive von Ulla Wiggen. Die 1942 in Stockholm geborene Künstlerin war eine der großen Entdeckungen der letzten Biennale Venedig und wurde in der New York Times genauso wie im Artforum besprochen. Wir freuen uns sehr auf das Projekt!
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W.K.K.: Sie möchten nicht nur zentralen Kunst-Akteuren, die in Deutschland noch weitestgehend unbekannt sind, eine Plattform bieten, sondern möchten auch die weitere Einbindung des Fridericianums in die Stadt und in die Region vorantreiben. Wie kann das Fridericianum mehr Menschen anziehen und bestmöglich dazu beitragen, gesellschaftliche Entwicklungen im Herzen der Stadt positiv mitzugestalten?
M.W.: Im Zentrum unserer Aktivitäten stehen zunächst einmal die Ausstellungen und Sonderprojekte mit ihren vielfältigen Fragestellungen und den daraus abgeleiteten Vermittlungsformaten. Vor diesem Hintergrund werden unterschiedliche Programme erarbeitet und umgesetzt, die auf die regionale Vernetzung abzielen. Vor Kurzem startete beispielsweise eine neue Kooperation mit der Kunsthochschule Kassel. Im ihrem Rahmen laden wir monatlich Künstler*innen ein, im Fridericianum ihre Arbeit in Form von Vorträgen, Screenings, Performances oder Pop-up-Ausstellung vorzustellen. Im Anschluss an diese Veranstaltungen besuchen die Gäste dann die Kunsthochschule, und bieten für die dortigen Studierenden Workshops und Atelierbesuche an. Weitere Kooperationen sind mit der Stadtbibliothek sowie dem Staatstheater angedacht oder werden bereits umgesetzt.
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W.K.K.: Auch genau in dieser Hinsicht, entwickeln Museen und Kunsthallen zur Zeit andere Formate, öffnen ihre Türen für mehr Kooperationen und wandeln sich von „Tempeln des ehrfürchtigen Staunens“ zu interaktiven Orten der Kommunikation. In der Kulturpolitik sehen derzeit viele in Museen Potential für solche „dritten Orte“. Wie sehen Sie die Zukunft von Museen, Kunsthallen und Kunsteinrichtungen?
M.W.: Die Öffnung der Kultureinrichtungen halte ich für sehr richtig. Gerade deshalb haben wir mit MIMIKRY von Kerstin Brätsch im Herzen des Fridericianum ein Kunstwerk geschaffen, das kontinuierlich für die Öffentlichkeit zugänglich ist. Man kann an diesem Ort verweilen, Getränke und Speisen zu sich nehmen, über Kunst und Kultur nachdenken, Gespräche führen und vieles mehr. Auch Kinder fühlen sich hier sehr willkommen, da es für sie – in unmittelbarer Nähe zu unzähligen Dinosauriern – spezielle Sitzmöbel und Tische sowie eine kleine Bibliothek gibt. Von MIMIKRY aus ist der Weg in die Ausstellungen dann nicht mehr weit. Dank der vielfältigen Vermittlungsformate werden die Inhalte der Ausstellungen ohnehin zielgruppenspezifisch erklärt. Wer selbst kreativ werden möchte, hat – unterstützt von entsprechenden Vermittler*innen – in der Studiowerkstatt die Möglichkeit auf die jeweils aktuell im Fridericianum präsentierten Kunstwerke zu reagieren. Mittwochs ist zudem der Eintritt in der Kunsthalle frei. Kinder und Jugendliche (bis 18 Jahre) haben sogar immer freien Eintritt. Mit diesen und zahlreichen anderen Maßnahmen versuchen wir proaktiv, einen einfacheren Zugang zu der Kunst und Kultur zu ermöglichen
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W.K.K.: Was man bei Ihnen bemerkt: Sie sprudeln vor Ideen und Begeisterung. Welche Träume und Pläne möchten Sie für das Fridericianum noch realisieren?
M.W.: Bestimmt erinnern Sie sich noch an die Arbeit TOP DOWN / BOTTOM UP von Alexandra Bircken, die von vielen Bürger*innen liebevoll als „Grüne Greta“ bezeichnet wurde. Es wäre schön, wenn es gelänge, regelmäßig Kunstwerke auf dem Friedrichplatz zu installieren. Das Fridericianum öffnet sich noch stärker in Richtung Stadt. Mit ergänzenden Außenskulpturen könnten wir diesen wichtigen Prozess weiter intensivieren.
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W.K.K.: Herr Wesseler, dann hoffen wir und wünschen Ihnen, dass sich Ihre Projekte bald realisieren lassen.
Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit genommen haben, unsere Fragen zu beantworten und weiterhin viel Erfolg
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[ Das Interview führten: Sonja Rosettini + Helmut Plate ]
Über Moritz Wesseler
Seit dem 1. November 2018 ist Moritz Wesseler Direktor des Fridericianum in Kassel. Zuvor arbeitete er als Leiter des Kölnischen Kunstvereins, an dem er vielbeachtete Ausstellungen von internationalen Künstlern wie Ketuta Alexi-Meskhishvili, Uri Aran, Darren Bader, Alex Da Corte, Nathalie Djurberg & Hans Berg, Petrit Halilaj, Annette Kelm, Walter Price, Avery Singer, Christiana Soulou, Andra Ursuta, Andro Wekua, und vielen anderen realisierte.
Wesseler, geboren 1980 in Bremerhaven, studierte Betriebswirtschaftslehre und Kunstgeschichte in Mainz und Paris. Bereits parallel zu seinem Studium begann er mit internationalen Künstlern Ausstellungen zu organisieren.
Zeitgleich gab er Künstlerbücher sowie Kataloge unter anderem zu Gregor Schneider, Luc Tuymans oder Christopher Williams heraus und begann mit dem Aufbau des Archivs des Kabinetts für aktuelle Kunst in Bremerhaven, das 1967 von seinem Vater Jürgen Wesseler gegründet wurde. Nach dem Abschluss seiner Ausbildung arbeitete er an der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf und begleitete die Ausstellungsreihe Double am Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main.
Neben seiner Tätigkeit als Kurator publiziert er regelmäßig Bücher und Texte zur Kunst des 20. Jahrhunderts sowie der Gegenwart und beteiligt sich an nationalen sowie internationalen Fachjurys. Der Vertrag von Moritz Wesseler als Direktor des Fridericianums in Kassel wurde jüngst bis 2027 verlängert.
Seit 2019 präsentiert Wesseler in Kassel vielbeachtete Einzelausstellungen von Künstler/innen, denen in Deutschland bislang noch keine Bühne bereitet wurde, wie Tarek Atoui, Toba Khedoori, Ron Nagle, Rachel Rose oder Martine Syms. Ein weiterer Schwerpunkt seiner Aktivitäten liegt auf der Erarbeitung und Umsetzung von retrospektiv angelegten Ausstellungen zu historischen Positionen. Dem visionären Maler Forrest Bess widmete er eine umfassende Schau, die zum Diskurs für zahlreiche Kunstinteressierte und ‑schaffende einlud.
Tarek Atoui
3. Oktober 2020 – 24. Mai 2021
Toba Khedoori
9. Oktober 2021 – 20. Februar 2022
Rachel Rose
Martine Syms
3. Oktober 2020 – 24. Mai 2021
Friedrichsplatz 18 | 34117 Kassel
Fon: 0561 707270 | E‑Mail: info@fridericianum.org
https://fridericianum.org
Di – So & an Feiertagen 11 – 18 Uhr
Do 11 – 20 Uhr