M.G.: Das Buch ist 2005 in Istanbul erschienen, ist sofort sehr gut angekommen und einige Leute wollten sogar einen Film daraus machen. Die Geschichte ist heutzutage auch deshalb so faszinieren, weil es der nachkommenden Generation die Türkei so zeigt, wie sie vor vielen Jahrzehnten war, eine ganz andere Welt. Ich habe damals unter den widrigsten Umständen, mit Nichts angefangen. Die jetzige Generation weiß nicht mehr, woher der Reichtum von heute kommt. Die Kinder in meinem Dorf können meine Geschichte nicht mehr verstehen, weil es dort Straßen, Wasser, Strom, Fernseher und Internet gibt und jeder ein Auto hat. Aber damals war es eben anders. Die Dorfschule, über die ich in meinem Buch viel erzähle, war die erste Schule in meinem Dorf überhaupt. Der erste Lehrer, der kam, unterrichtete alle Klassen in einem Raum, auch weil die Schüler so wenige waren. Man konnte eigentlich kaum was lernen, es gab auch keine richtigen Bücher, keine Bibliothek. Wir konnten aus der Welt nicht wirklich etwas erfahren. Unsere Zukunft war schon vorgesehen, aber innerlich war ich in meiner Welt unzufrieden und mochte dieses begrenzte Dorfleben aus einem inneren Instinkt, einem inneren Antrieb nicht. Woher diese Unruhe kam, weiß ich nicht – ich hatte keine Vorbilder, es gab keine Fernseher, meine Welt beschränkte sich auf einige wenige Kilometer. Einzig mein Lehrer ist mir damals ein Vorbild gewesen, da er aus einer Welt außerhalb des Dorfes kam. Also wollte auch ich Lehrer werden. Ich habe mit ihm gesprochen und er hat mir erzählt, dass ich viel lernen und viele Aufnahmeprüfungen bestehen müsse, aber ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Er war selbst sehr jung, hatte gerade geheiratet und hatte keine Lust, mich außerhalb der regulären Schulzeit zu unterrichten. Er erzählte mir, dass bei der ersten Prüfung 5000 Bewerber aus allen näheren Dörfern und Städten kommen und nur 50 Schüler aufgenommen werden würden. Um die schriftlichen und mündlichen Prüfungen zu bestehen, riet er mir, zusätzlichen Unterricht bei einem bestimmten älteren Schüler, den er kannte, und der in dem nächsten größeren Ort lebte, zu nehmen. Also lief ich zu Fuß 15 Kilometer weit, um diesen einen Schüler zu finden und ihn zu fragen, ob er mich für meine Prüfungsvorbereitungen unterrichten kann. Dieser war gerade dabei, sich selbst auf weitergehenden Lehrer-Prüfungen vorzubereiten und akzeptierte meine Bitte, von ihm unterrichtet zu werden.
So bin ich in den wochenlangen Sommerferien täglich und bei gut 35 Grad Hitze zu Fuß 15 Kilometer hin und zu Fuß wieder 15 Kilometer zurück gelaufen, das alles, um bei ihm zu lernen. Ich war damals sehr klein und zerbrechlich und in der türkischen Sommerhitze zu laufen war sehr anstrengend. Aber nach für mich abenteuerlichen und anstrengenden Wochen – die ersten außerhalb meines Elternhauses, in denen ich kaum etwas gegessen habe, nur Trauben und Brot – habe ich es geschafft, die mündlichen und schriftlichen Prüfungen zu bestehen. Somit eröffneten sich für mich neue Perspektiven. Nach sechs entbehrungsreichen Jahren im Internat, vielen weiteren Herausforderungen und Prüfungen, wurde ich dann endlich Grundschullehrer.
Im ersten Jahr im Internat, ich war gerade 13 Jahre alt, hatte ich meine erste Berührung mit der bildenden Kunst und es zog mich sofort in seinen Bann. Mein dortiger Kunsterzieher wurde also mein neues Vorbild: Ich wollte nun Kunsterzieher werden. Aber um dieses Ziel zu erreichen, musste ich nach meinem Abschluss als Grundschullehrer noch viele weitere Prüfungen sowie Fachprüfungen bestehen, bis ich schließlich an der Universität in Ankara Kunst studieren und später als Kunstlehrer tätig werden konnte.
Ich war das erste Kind aus meinem Dorf, das in einem Internat war; das erste Kind überhaupt, dass für ein Studium das Dorf verließ; das erste Kind, das in meinem Dorf ein Fahrrad besaß; die erste Person, die eine Frau aus einem anderen Ort heiratete; die erste Person aus dem Dorf, die Motorrad und später ein Auto besaß. Ich war der erste Hochschullehrer und kam später sogar ins Fernsehen. In den Jahren nach mir schafften es weitere junge Menschen, aus dem Dorf heraus zu kommen und die Türkei hat sich in der Zwischenzeit sehr verändert. Das war damals eine andere Welt. Mein Vater war natürlich später sehr stolz auf mich, aber er war so, dass er es mir nie gesagt hat, ich habe von ihm kein Wort der Anerkennung bekommen.