Ein Leben für die Kunst

Mehmet Güler

Vom ana­to­li­schen Dorf­kind
zum inter­na­tio­nal gefei­er­ten Künstler

Wie hat Meh­met Güler die Kunst­welt erobert?
Was macht ihn zu einem der bedeu­tends­ten Künst­ler aus der Tür­kei?
Ein­bli­cke in das Schaf­fen des deut­schen-tür­ki­schen Künstlers.

In Sep­tem­ber 2020 prä­sen­tier­te die heu­ti­ge Vize­prä­si­den­tin des Deut­schen Bun­des­ta­ges, Clau­dia Roth (heu­te Staats­mi­nis­te­rin beim Bun­des­kanz­ler sowie Beauf­trag­te der Bun­des­re­gie­rung für Kul­tur und Medi­en), stolz das neu­es­te Juwel in der Kunst­samm­lung des Deut­schen Bun­des­ta­ges: ein von Meh­met Güler geschaf­fe­nes Gemäl­de, das die Ver­bin­dung öst­li­cher und west­li­cher Tra­di­tio­nen auf beein­dru­cken­de Wei­se zum Aus­druck bringt.

www.bundestag.de/besuche/kunst/ausgewaehlt/gueler-794570

Der Erwerb die­ses Kunst­werks, das öst­li­che und west­li­che Tra­di­tio­nen mit­ein­an­der ver­eint, stellt für die Kunst­samm­lung des Deut­schen Bun­des­ta­ges eine bedeu­ten­de poli­ti­sche Aus­sa­ge dar, ganz im Sin­ne des „West-öst­li­chen Divans“ von Goe­the, in dem es heißt:

Wer sich selbst und ande­re kennt,
wird auch hier erken­nen:
Ori­ent und Okzi­dent
sind nicht mehr zu trennen.“

Gülers figür­lich-abs­trak­te und expres­siv gestal­te­te Kunst­wer­ke sind inter­na­tio­nal aner­kann­te Wer­ke, die den­noch immer wie­der sei­ne Her­kunft erken­nen las­sen.
Meh­met Güler, einer der bedeu­tends­ten Künst­ler aus der Tür­kei, wur­de im Jahr 1944 in einem male­ri­schen Dorf in der Nähe von Mala­tya in Ana­to­li­en gebo­ren. Sein Talent für Male­rei und Gra­fik wur­de an der renom­mier­ten Gazi-Uni­ver­si­tät in Anka­ra, die von Kemal Ata­türk, dem Grün­der der moder­nen Tür­kei, gegrün­det wur­de, ent­deckt und geför­dert. Nach dem Erwerb sei­nes Diploms im Jahr 1965 lehr­te er spä­ter selbst als Dozent an die­ser Uni­ver­si­tät.
Durch ein begehr­tes Aus­lands­sti­pen­di­um wur­de ihm die Mög­lich­keit gebo­ten, an der Kunst­hoch­schu­le Kas­sel sei­ne Fähig­kei­ten wei­ter zu ver­tie­fen und auch hier schloss er erfolg­reich sein Diplom für Male­rei und Gra­fik ab. Obwohl er zunächst an die Gazi-Uni­ver­si­tät zurück­kehr­te, beschloss er schließ­lich aus poli­ti­schen Grün­den Ende 1977, mit sei­ner Fami­lie nach Kas­sel umzu­sie­deln, wo er bis heu­te lebt und arbei­tet. Dank sei­nes außer­ge­wöhn­li­chen Talents und sei­nes krea­ti­ven Geis­tes hat Meh­met Güler sich inter­na­tio­nal einen Namen gemacht.
 

Meh­met Güler als Stu­dent an der Gazi Hoch­schu­le für Male­rei, Anka­ra 1962

Meh­met Güler als Stu­dent an der Gazi Hoch­schu­le für Male­rei, Anka­ra 1965

Welt.Kunst.Kassel. hat Meh­met Güler in sei­nem Ate­lier besucht.
In einem Inter­view gibt Meh­met Güler inter­es­san­te Ein­bli­cke über sich und sei­ne Arbeit.

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W.K.K.: Lie­ber Meh­met, als Künst­ler aus dem Ori­ent beschäf­tigst du dich in dei­nen farb­ge­wal­ti­gen Wer­ken mit der Begeg­nung der Kul­tu­ren und ihrer gegen­sei­ti­gen Beein­flus­sung. Vor dem Hin­ter­grund dei­ner eige­nen tür­ki­schen Wur­zeln beschäf­tigst du dich mit den ambi­va­len­ten Zusam­men­hän­gen inner­halb von Kul­tur, Iden­ti­tät, Kunst und Poli­tik. In dei­nen abs­trak­ten Ölbil­dern auf Lein­wand beziehst du dich auf Schrift­stel­ler und Dich­ter aus dem Ori­ent und dem Okzi­dent, wie Hafiz, Goe­the, Hei­ne, und stellst sie so in den Dia­log mit dei­ner male­ri­schen Spra­che. Wie ent­ste­hen dei­ne Bil­der? Lässt du dich bei der Ver­wirk­li­chung dei­ner Arbei­ten eher trei­ben oder hast du einen indi­vi­du­el­len Werkplan? 

M.G.: Wenn ich eine Idee habe, neh­me ich mir erst ein­mal die Lein­wand. Aber ich kann nicht sofort los­le­gen, ich muss mich zunächst hin­setz­ten, ein biss­chen Abstand neh­men, manch­mal kann es sogar eini­ge Tage dau­ern. Erst wenn ich das Bild, das in mei­nem Kopf ent­stan­den ist, auf der Lein­wand sehe, kann ich begin­nen. Ich fan­ge oft zunächst mit Figu­ren, Zeich­nun­gen oder auch Tex­ten an. Wenn etwas es ästhe­tisch nicht so gut ist oder mehr oder weni­ger farb­lich und kom­po­si­to­risch nicht passt, lösche ich es wie­der oder ver­än­de­re es. 

Hei­ne und ich, 2020, Öl auf Lein­wand, 140 x 160 cm

Für das Bild „Hei­ne und ich“ habe ich zum Bei­spiel zuerst die Tex­te aus Hei­nes Gedich­ten aus­ge­sucht und dann die Far­ben. Die Tex­te erschei­nen dann im Hin­ter­grund, sie sind nicht Haupt­be­stand­teil des Bil­des und wer­den von der Far­be auch teil­wei­se bedeckt. Bei die­sem Bild habe ich mehr­mals Schicht auf Schicht gemalt, bis Struk­tu­ren, Figu­ren und Far­ben dem Inhalt mei­ner Inter­pre­ta­ti­on pass­ten.
Wenn ich aber eine fes­te Idee ent­wick­le, kann es auch schief­ge­hen bei der Umset­zung: Ich fan­ge mit dem Bild nach mei­ner Idee an – manch­mal aber ent­wi­ckelt es bei der Umset­zung eine eige­ne Dyna­mik, dem ich dann fol­ge. Dabei ver­su­che ich neue Ele­men­te zu fin­den und ach­te gleich­zei­tig auf alle Details, bis auf die kleins­te Linie. Die Kom­po­si­ti­on muss voll­stän­dig und aus­ge­gli­chen sein. Manch­mal decke ich einen Teil ab oder gehe weg und sehe erst dann, was pas­siert, was fehlt. Wenn man stän­dig an einem Bild arbei­tet, kann man nicht mehr sehen, wo es Feh­ler in der Kom­po­si­ti­on gibt oder was fehlt. Kein Ele­ment ist zufäl­lig, son­dern jede Linie, jeder Pin­sel­strich ergänzt das Werk in sei­ner Voll­stän­dig­keit, wie in einem Orchesterspiel. 

Goe­the und ich, 2019, Öl auf Lein­wand, 250 x 600 cm

Ich grun­die­re die Flä­che nicht mit einer Grund­far­be, da mich sonst die Far­ben beein­flus­sen und bin­den wür­de, son­dern arbei­te suk­zes­si­ve an dem Bild. Manch­mal aber kann ich nicht genau rea­li­sie­ren, was ich im Kopf habe und muss die Struk­tu­ren und die Far­big­keit wie­der neu anpas­sen.
Ein­mal hat mich auch jemand gefragt: „Herr Güler, wie­so malen Sie immer in einer Rich­tung, von links nach rechts?“ Das ist mir ansich in mei­nem Arbeits­pro­zess so nicht bewusst. Ich glau­be, dass jeder Mensch eine ihm eig­ne Hand­schrift hat: Es ist für mich natür­li­cher von links nach rechts, so wie ich auch schrei­be, zu malen. Wie in einem Orches­ter gibt es bestimm­te Instru­men­te, die eine Haupt­rol­le spie­len, aber auch klei­ne Ele­men­te, die die Melo­die ergän­zen. Es geht bei mei­nen Bil­dern um die Farb­me­lo­die. Die klei­nen Details machen sie lebendiger.

Genuss der Hit­ze, 2019, Öl auf Lein­wand, 120 x 140 cm

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W.K.K.: In dei­ner abs­trak­ten Male­rei, die in beein­dru­cken­der Wei­se mit Far­ben, Ver­läu­fen und Andeu­tun­gen von Figür­lich­keit spie­len, sind domi­nie­ren­de, leuch­ten­de Farb­flä­chen cha­rak­te­ris­tisch. Auch bleibt die Ver­bin­dung von öst­li­cher und west­li­cher Tra­di­ti­on ein wesent­li­ches The­ma dei­ner Arbei­ten und eröff­net immer wie­der neue Inter­pre­ta­ti­ons­an­sät­ze. Du hast hier in dei­nem Ate­lier sehr vie­le Bil­der. Ganz offen­sicht­lich bist du ein sehr pro­duk­ti­ver Maler. 

Meh­met Güler im Ate­lier, Kas­sel 2019

M.G.: Ja, das stimmt. Ich ste­he mor­gens um 6 Uhr auf und arbei­te inten­siv den gan­zen Tag. Malen ist eben mei­ne Arbeit. Es ist aber immer unter­schied­lich, wie vie­le Bil­der ich zum Bei­spiel in einem Jahr male. Es geht natür­lich auch um das For­mat. Ich arbei­te meis­tens in grö­ße­ren For­ma­ten und sie neh­men mehr Zeit in Anspruch. In den 2010er Jah­ren habe ich zum Bei­spiel je Jahr 20 bis 30 Bil­der gemalt, aber die letz­ten zwei drei Jah­re, also ins­be­son­de­re wäh­rend der Coro­na-Zeit, habe ich eigent­lich wenig erar­bei­ten kön­nen. Die Pan­de­mie und die all­ge­mei­ne Stim­mung haben mei­ne schöp­fe­ri­sche Arbeit sehr beein­flusst. Es klappt eben nicht immer so ein­fach. Und ich gehe auch auf die 80 zu und spü­re auch kör­per­lich lang­sam die Last der Jah­re.
Ich habe in der Ver­gan­gen­heit auch vie­le Ätz­ra­die­run­gen gemacht.
Nor­ma­ler­wei­se benutzt man bis zu 5‑prozentige Sal­pe­ter­säu­re. Die geritz­ten Plat­ten wer­den in das Säu­re­bad gelegt. Ich woll­te aber bis an die Gren­ze gehen, um male­ri­sche Effek­te bei den Radie­run­gen zu errei­chen und habe dafür 50-pro­zen­ti­ge Sal­pe­ter­säu­re ver­wen­det, oft ohne eine Mas­ke zu tra­gen, weil dies zu schwer bei der Arbeit war, sodass das Ein­at­men der Dämp­fe mei­ner Gesund­heit gescha­det hat. Ich mache jetzt des­halb kei­ne Radie­run­gen mehr. Ich kon­zen­trie­re mich jetzt lie­ber auf die Male­rei und Bild­haue­rei. Ich lie­be Groß­for­ma­te, aber auch an der Lei­ter zu ste­hen, die brau­che ich, um die­se gro­ßen For­ma­te zu rea­li­sie­ren, strengt mich mitt­ler­wei­le an: Ich muss immer wie­der run­ter­ge­hen, an die Farb­pa­let­te und dann wie­der hoch auf die Lei­ter. Das ist auch nicht so einfach.

Die Frem­de 1991, Farb­ra­die­rung, 66 x 49,5 cm

Fried­li­che Beset­zung, 1997, Farb­ra­die­rung,
65 x 49,5 cm

In der Son­ne, 1993, Farb­ra­die­rung, 20,5 x 13,5 cm

Lore­lei, 2013, Farb­ra­die­rung, 72 x 58,5 cm

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W.K.K.: Du hast ver­schie­de­ne Tech­ni­ken aus­pro­biert. Womit arbei­test du am liebsten?

M.G.: Ja, ich habe vie­le Tech­ni­ken aus­pro­biert. Ich habe in den 1960er Jah­ren sowohl gemalt als auch Holz­schnit­te gemacht. Auch foto­gra­fi­sche und fil­mi­sche Arbei­ten waren dabei. Spä­ter, in Deutsch­land, kamen Radie­run­gen und Litho­gra­phie dazu. Ich bin in mei­nem Stu­di­um in der Tür­kei auch in der klas­si­schen Akt­zeich­nung aus­ge­bil­det wor­den und beherr­sche die Ana­to­mie sehr gut.
Vie­le Künst­ler kön­nen heut­zu­ta­ge über­haupt nicht mehr zeich­nen.
Auch in mei­nen Zeich­nun­gen lässt sich mei­ne mir eige­ne Hand­schrift wiedererkennen.

Aus­stel­lung mit foto­gra­fi­schen Arbei­ten, Anka­ra 1965

Selbst­bild­nis 1975

Por­trait, Zeich­nung, 1974

Por­trait, Zeich­nung, 1974

Zeich­nung, 1987

Zeich­nung, 2007, 62 x 44

Ich habe auch Metall­skulp­tu­ren gemacht: Sie wer­den aus Stahl her­ge­stellt und dann mit einem Was­ser­strahl geschnit­ten. Eine beein­dru­cken­de Tech­nik: das Was­ser schnei­det Stahl wie But­ter. Aber die Öl-Male­rei ist mei­ne Lieb­lings­tech­nik, mei­ne Berufung. 

Sit­zen­de, 2014, Cor­ten­stahl, Höhe 180 cm

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W.K.K.: Du bist in einer dörf­li­chen Gegend der Süd­ost­tür­kei auf­ge­wach­sen zu einer Zeit, in der es in dei­nem Dorf kei­ne Vor­stel­lung von „Kunst“ gab. Den­noch skiz­zier­test und zeich­ne­test du mit Blei­stift und Koh­le auf jedem Unter­grund und dies ganz gegen den reli­giö­sen Glau­ben und das Abbil­dungs­ver­bot von Men­schen. Du hast dir als Kind Pin­sel und Far­ben selbst gebas­telt, nach­dem du die­se in einem Schul­buch gese­hen hast… Dei­ne Auto­bio­gra­fie „Ver­gan­gen­heit in der Son­ne“ fand inter­na­tio­nal gro­ße Beach­tung. Dei­ne Lebens­ge­schich­te, dein Weg aus dem ana­to­li­schen Dorf in die Kunst­welt, ist ein span­nen­der, mit­rei­ßen­der Roman. Inwie­fern reflek­tiert dein bio­gra­fi­scher Roman die tür­ki­sche Gesell­schaft der Zeit? Wie haben dei­ne Freun­de, Bekann­te und Fami­lie auf die Ver­öf­fent­li­chung dei­ner Bio­gra­fie reagiert? Wie waren ihre Reak­tio­nen? Konn­test du dei­nen Vater eigent­lich noch nach­träg­lich von dei­nem Kön­nen überzeugen? 

M.G.: Das Buch ist 2005 in Istan­bul erschie­nen, ist sofort sehr gut ange­kom­men und eini­ge Leu­te woll­ten sogar einen Film dar­aus machen. Die Geschich­te ist heut­zu­ta­ge auch des­halb so fas­zi­nie­ren, weil es der nach­kom­men­den Gene­ra­ti­on die Tür­kei so zeigt, wie sie vor vie­len Jahr­zehn­ten war, eine ganz ande­re Welt. Ich habe damals unter den wid­rigs­ten Umstän­den, mit Nichts ange­fan­gen. Die jet­zi­ge Gene­ra­ti­on weiß nicht mehr, woher der Reich­tum von heu­te kommt. Die Kin­der in mei­nem Dorf kön­nen mei­ne Geschich­te nicht mehr ver­ste­hen, weil es dort Stra­ßen, Was­ser, Strom, Fern­se­her und Inter­net gibt und jeder ein Auto hat. Aber damals war es eben anders. Die Dorf­schu­le, über die ich in mei­nem Buch viel erzäh­le, war die ers­te Schu­le in mei­nem Dorf über­haupt. Der ers­te Leh­rer, der kam, unter­rich­te­te alle Klas­sen in einem Raum, auch weil die Schü­ler so weni­ge waren. Man konn­te eigent­lich kaum was ler­nen, es gab auch kei­ne rich­ti­gen Bücher, kei­ne Biblio­thek. Wir konn­ten aus der Welt nicht wirk­lich etwas erfah­ren. Unse­re Zukunft war schon vor­ge­se­hen, aber inner­lich war ich in mei­ner Welt unzu­frie­den und moch­te die­ses begrenz­te Dorf­le­ben aus einem inne­ren Instinkt, einem inne­ren Antrieb nicht. Woher die­se Unru­he kam, weiß ich nicht – ich hat­te kei­ne Vor­bil­der, es gab kei­ne Fern­se­her, mei­ne Welt beschränk­te sich auf eini­ge weni­ge Kilo­me­ter. Ein­zig mein Leh­rer ist mir damals ein Vor­bild gewe­sen, da er aus einer Welt außer­halb des Dor­fes kam. Also woll­te auch ich Leh­rer wer­den. Ich habe mit ihm gespro­chen und er hat mir erzählt, dass ich viel ler­nen und vie­le Auf­nah­me­prü­fun­gen bestehen müs­se, aber ich habe mich nicht ein­schüch­tern las­sen. Er war selbst sehr jung, hat­te gera­de gehei­ra­tet und hat­te kei­ne Lust, mich außer­halb der regu­lä­ren Schul­zeit zu unter­rich­ten. Er erzähl­te mir, dass bei der ers­ten Prü­fung 5000 Bewer­ber aus allen nähe­ren Dör­fern und Städ­ten kom­men und nur 50 Schü­ler auf­ge­nom­men wer­den wür­den. Um die schrift­li­chen und münd­li­chen Prü­fun­gen zu bestehen, riet er mir, zusätz­li­chen Unter­richt bei einem bestimm­ten älte­ren Schü­ler, den er kann­te, und der in dem nächs­ten grö­ße­ren Ort leb­te, zu neh­men. Also lief ich zu Fuß 15 Kilo­me­ter weit, um die­sen einen Schü­ler zu fin­den und ihn zu fra­gen, ob er mich für mei­ne Prü­fungs­vor­be­rei­tun­gen unter­rich­ten kann. Die­ser war gera­de dabei, sich selbst auf wei­ter­ge­hen­den Leh­rer-Prü­fun­gen vor­zu­be­rei­ten und akzep­tier­te mei­ne Bit­te, von ihm unter­rich­tet zu wer­den.
So bin ich in den wochen­lan­gen Som­mer­fe­ri­en täg­lich und bei gut 35 Grad Hit­ze zu Fuß 15 Kilo­me­ter hin und zu Fuß wie­der 15 Kilo­me­ter zurück gelau­fen, das alles, um bei ihm zu ler­nen. Ich war damals sehr klein und zer­brech­lich und in der tür­ki­schen Som­mer­hit­ze zu lau­fen war sehr anstren­gend. Aber nach für mich aben­teu­er­li­chen und anstren­gen­den Wochen – die ers­ten außer­halb mei­nes Eltern­hau­ses, in denen ich kaum etwas geges­sen habe, nur Trau­ben und Brot – habe ich es geschafft, die münd­li­chen und schrift­li­chen Prü­fun­gen zu bestehen. Somit eröff­ne­ten sich für mich neue Per­spek­ti­ven. Nach sechs ent­beh­rungs­rei­chen Jah­ren im Inter­nat, vie­len wei­te­ren Her­aus­for­de­run­gen und Prü­fun­gen, wur­de ich dann end­lich Grund­schul­leh­rer.
Im ers­ten Jahr im Inter­nat, ich war gera­de 13 Jah­re alt, hat­te ich mei­ne ers­te Berüh­rung mit der bil­den­den Kunst und es zog mich sofort in sei­nen Bann. Mein dor­ti­ger Kunst­er­zie­her wur­de also mein neu­es Vor­bild: Ich woll­te nun Kunst­er­zie­her wer­den. Aber um die­ses Ziel zu errei­chen, muss­te ich nach mei­nem Abschluss als Grund­schul­leh­rer noch vie­le wei­te­re Prü­fun­gen sowie Fach­prü­fun­gen bestehen, bis ich schließ­lich an der Uni­ver­si­tät in Anka­ra Kunst stu­die­ren und spä­ter als Kunst­leh­rer tätig wer­den konnte.

Ich war das ers­te Kind aus mei­nem Dorf, das in einem Inter­nat war; das ers­te Kind über­haupt, dass für ein Stu­di­um das Dorf ver­ließ; das ers­te Kind, das in mei­nem Dorf ein Fahr­rad besaß; die ers­te Per­son, die eine Frau aus einem ande­ren Ort hei­ra­te­te; die ers­te Per­son aus dem Dorf, die Motor­rad und spä­ter ein Auto besaß. Ich war der ers­te Hoch­schul­leh­rer und kam spä­ter sogar ins Fern­se­hen. In den Jah­ren nach mir schaff­ten es wei­te­re jun­ge Men­schen, aus dem Dorf her­aus zu kom­men und die Tür­kei hat sich in der Zwi­schen­zeit sehr ver­än­dert. Das war damals eine ande­re Welt. Mein Vater war natür­lich spä­ter sehr stolz auf mich, aber er war so, dass er es mir nie gesagt hat, ich habe von ihm kein Wort der Aner­ken­nung bekommen. 

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W.K.K.: Du bist 1974 nach Deutsch­land gekom­men. Erin­nerst du dich an die ers­ten Tage und die Anfangs­zeit hier?
Wie war es, als du nach Deutsch­land gekom­men bist? 

M.G.: Ich woll­te mich nach mei­nem Stu­di­um und mitt­ler­wei­le Tätig­keit als Kunst­er­zie­her wei­ter­ent­wi­ckeln und beschloss auch mit dem Ziel, spä­ter als Dozent an der Hoch­schu­le tätig sein zu kön­nen, in Euro­pe ein Auf­bau­stu­di­um zu absol­vie­ren. Aber damals benö­tig­te man dafür ein Sti­pen­di­um. Ich befand mich gera­de im obli­ga­to­ri­schen Mili­tär­dienst, als sich eine Mög­lich­keit für ein Sti­pen­di­um ergab. Auf­grund mei­nes Diens­tes konn­te ich jedoch nicht an den Qua­li­fi­zie­rungs­prü­fun­gen teil­neh­men. Es bedrück­te mich sehr, die­se Chan­ce zu ver­pas­sen. In der Annah­me, ich müs­se nun alles sel­ber finan­zie­ren, spar­te ich alles Geld in die­ser Zeit, um mir zumin­dest einen Aus­land­auf­ent­halt als Wei­ter­bil­dung leis­ten zu können.

Wäh­rend der zwei Jah­re des Diens­tes konn­te ich nicht malen, ein tie­fer Schmerz für mich.

Doch mit Ende des Mili­tär­diens­tes nahm ich umso inten­si­ver die Arbeit wie­der auf, um mich für die nächs­te Mög­lich­keit eines Sti­pen­di­ums bewer­ben und qua­li­fi­zie­ren zu kön­nen. Ich habe Tag und Nacht gear­bei­tet, um in die­sem Zuge auch mei­ne ers­te Aus­stel­lung in Anka­ra ver­wirk­li­chen zu können.

Fami­lie und Sor­ge, 1969, Holz­schnitt,
91 x 32 cm

Der Hir­te, 1969, Holz­schnitt, 49 x 28 cm

Mei­ne Holz­schnit­te aus die­ser Zeit zeig­ten die ärme­re Schicht der Gesell­schaft und konn­ten damals poli­tisch kri­tisch wir­ken und sogar als kom­mu­nis­tisch ein­ge­stuft wer­den.
Auf der Aus­stel­lung in Anka­ra kam ein inter­es­sier­ter Mann, selbst ein Dich­ter und Schrift­stel­ler, auf mich zu und gra­tu­lier­te mir für die Aus­drucks­kraft mei­ner Bil­der. Und im glei­chen Atem­zug warn­te er mich, ich könn­te Pro­ble­me wegen der Moti­ve mei­ner Bil­der bekom­men. Es bedrück­te mich, dass ein Kunst­schaf­fen­der auf­grund sei­nes Schaf­fens Angst bekom­men konn­te…
Nach der Aus­stel­lungs­er­öff­nung kam ein Bekann­ter zu mir, den ich noch aus mei­nem Mili­tär­dienst kann­te, und er sag­te zu mir: „Meh­met Abi, ich kann dich in einer Nacht berühmt machen.“ Ich frag­te ihn: „Was für ein Zau­ber hast du?“ Und er ant­wor­te­te: „Lass mich machen. Ich kom­me mor­gen mit eini­gen Leu­ten, wir schla­gen dei­ne Bil­der kaputt und sagen der Pres­se, dass du Kom­mu­nist bist und du wirst dann sofort in allen Zei­tun­gen ste­hen.“ Aber ich habe abge­lehnt. Glück­li­cher­wei­se habe ich trotz aller War­nun­gen kei­ne bekom­men.
Und dann konn­te ich mich erfolg­reich für ein Sti­pen­di­um in Deutsch­land qua­li­fi­zie­ren, indem ich wei­te­re Prü­fun­gen bestehen konnte.

Als ich im Jahr 1974 nach Deutsch­land kam, um an der Hoch­schu­le für Kunst in Kas­sel zu stu­die­ren, hat­te ich mei­ne Map­pe mit Holz­schnit­ten mit­ge­bracht und habe sie Prof. Heinz Nickel, damals Dozent für Litho­gra­phie und Tief­druck an der dama­li­gen Staat­li­chen Hoch­schu­le für Bil­den­de Küns­te Kas­sel, gezeigt. Er war sofort begeis­tert, alle waren von mei­nen Arbei­ten beein­druckt. Ich woll­te mich als Stu­dent an der Uni ein­schrei­ben, obwohl ich zu die­ser Zeit bereits als Dozent an der Hoch­schu­le in Anka­ra leh­rend tätig war. So frag­te Prof. Nickel: „Sie sind doch Hoch­schul­leh­rer, wie­so möch­ten Sie sich als Stu­dent ein­schrei­ben?“ Aber ich woll­te unbe­dingt auch ein Diplom hier in Deutsch­land machen. Es war Okto­ber, die Anmel­de­frist war lei­der gera­de abge­lau­fen, aber Prof. Nickel war hilfs­be­reit, hat mit den Kol­le­gen gespro­chen, um mir eine Aus­nah­me zu ermöglichen. 

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W.K.K.: Die Situa­ti­on in der Tür­kei ist zur­zeit nicht ein­fach. Wie ist die Situa­ti­on der Künstler? 

M.G.: Das Thea­ter in der Tür­kei ist zur­zeit durch poli­ti­sche Ein­fluss­nah­me sehr beein­flusst.
Das freie Thea­ter bekommt kei­ne För­de­run­gen mehr. Poli­ti­sche Äuße­run­gen sind schwie­rig, so wur­de zum Bei­spiel der inter­na­tio­nal bekann­te und gefei­er­te tür­ki­sche Pia­nist und Kom­po­nist Fazil Say, der sich als Bür­ger­rechts­ak­ti­vist enga­giert, wegen öffent­li­cher Ver­un­glimp­fung reli­giö­ser Wer­te ange­zeigt. Künstler*innen jeder Art kön­nen ihrer Arbeit nach­ge­hen, solan­ge sie sich nicht poli­tisch äußern.
In die­sem Kon­text ver­liert die gro­ße Kunst­mes­se Istan­bul zur­zeit an Bedeu­tung. Ich habe dort in der Ver­gan­gen­heit oft und mit Erfolg, aus­ge­stellt, aber aus einem mir unbe­kann­ten Grund habe ich den Ein­druck, man ver­hin­dert seit eini­ger Zeit mei­ne Teil­nah­me und dass ich dort wei­ter­hin aus­stel­len kann. Ich bekom­me auch Anfra­gen von ande­ren Mes­sen in der Tür­kei, aber ich habe in der bis­her abge­lehnt, weil es sich für mich nicht mehr lohnt. In der Tür­kei kann auf­grund der wirt­schaft­li­chen Situa­ti­on und der stei­gen­den Infla­ti­on kaum jemand noch in Kunst inves­tie­ren. Mei­ne letz­ten Aus­stel­lun­gen fan­den haupt­säch­lich in Deutsch­land statt.

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W.K.K.: Wie kam es zu der Ehrung im Bun­des­tag dei­ne Kunst zu zeigen

M.G.: Frau Roth kam, begeis­tert von mei­nen Bil­dern, als Eröff­nungs­red­ne­rin zur Eröff­nung mei­ner Aus­stel­lung in der docu­men­ta Hal­le nach Kas­sel. Sie schlug mei­ne Bil­der also der Kom­mis­si­on des Kunst­bei­rats vor. Der Kunst­bei­rat ent­schei­det über alle Kunst-Pro­jek­te im Deut­schen Bun­des­tag, denn es wer­den jähr­lich Kunst­wer­ke für die Kunst­samm­lung des Deut­schen Bun­des­ta­ges durch Ankauf erwor­ben oder Auf­trä­ge für Kunst­pro­jek­te erteilt. Die Kom­mis­si­on ent­schei­det aber auch über die Kunst-am-Bau-Pro­jek­te für die Par­la­ments­bau­ten in Ber­lin und beschließt das Aus­stel­lungs­pro­gramm zeit­ge­nös­si­scher Kunst in den Lie­gen­schaf­ten des Bun­des­ta­ges. Dem Kunst­bei­rat gehö­ren neben der Bun­des­tags­prä­si­den­tin Abge­ord­ne­te aller Frak­tio­nen des Deut­schen Bun­des­ta­ges an.

Aus­stel­lungs­er­öff­nung „Leucht­kraft“, docu­men­ta Hal­le, Kas­sel 2019

Im Bun­des­tag mit Clau­dia Roth, 2020

Vor­sit­zen­der des Bei­rats war zu der Zeit Wolf­gang Schäub­le. Ich habe damals die Bil­der gese­hen, die zusam­men mit mei­nem Bild vor­ge­stellt wur­den. Ich woll­te ein ganz gro­ßes Bild vor­schla­gen, aber es wur­de mir gera­ten, kein gro­ßes Bild vor­zu­stel­len. Den­noch war mein Bild, 120 cm x 140 cm, eines der grö­ße­ren unter den vor­ge­schla­ge­nen Bil­dern und wur­de mit Begeis­te­rung auf­ge­nom­men. Es gibt im Bun­des­tag nur weni­ge Bil­der mit grö­ße­ren For­ma­ten und wenn dann nur von viel bekann­te­ren Künst­lern wie Ger­hard Rich­ter, Georg Base­litz, Emil Schu­ma­cher oder Anselm Kie­fer. Der Samm­lungs­di­rek­tor hat mir damals die Kunst­samm­lung im Deut­schen Bun­des­tag gezeigt und es waren alles aus­schließ­lich Wer­ke sehr bekann­ter Künst­ler. Ich bin nun der ers­te tür­ki­sche Künst­ler in der Samm­lung. Das ist natür­lich für mich eine beson­de­re Ehre, denn mein Bild steht nun sozu­sa­gen für eine Ver­bin­dung öst­li­cher und west­li­cher Traditionen.

[ Das Inter­view führ­ten: Son­ja Roset­ti­ni + Hel­mut Plate ]

Vita

  • 1965 Diplom für Male­rei und Gra­fik, Gazi-Uni­ver­si­tät in Ankara.
  • Dozent an der Gazi- Hoch­schu­le in Ankara.
  • 1976 Diplom für Male­rei und Gra­fik, Hoch­schu­le für Bil­den­de Kunst in Kassel.
  • Lebt und arbei­tet seit 1977 als frei­schaf­fen­der Künst­ler in Kassel.
  • Über 200 Ein­zel­aus­stel­lun­gen in Muse­en und Gale­rien welt­weit. Zahl­rei­che Teil­nah­men an Grup­pen­aus­stel­lun­gen, inter­na­tio­na­len Bien­na­len, Tri­en­na­len und Kunstmessen.
  • Trä­ger inter­na­tio­na­ler Prei­se und Auszeichnungen.
  • Die Wer­ke befin­den sich welt­weit in Muse­en, öffent­li­chen und pri­va­ten Sammlungen.

Prei­se und Ehrungen

  • 2019 „Leucht­kraft“, docu­men­ta Hal­le Kas­sel, Kul­tur­amt Kas­sel, zum 75. Geburtstag.
  • 2014 Ehrung der Stadt Kas­sel mit der „Gol­de­ne Ehrennadel“.
  • 2013 Bos­pho­rus Awards, Tür­kisch-Euro­päi­sche Stif­tung für Bil­dung und wis­sen­schaft­li­che For­schung DTS
  • 2001 Preis, Pre­mio Agaz­zi, Ber­ga­mo, Italien
  • 1991 Preis, inter­na­tio­na­ler Gra­fik Wett­be­werb Ber­ga­mo, Italien
  • 1990 Preis, inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1986 Preis, inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1984 Aus­zeich­nung der Enka Stif­tung, Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1983 Preis, DYO Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1983 Preis, Vak­ko Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1983 Preis, Sedat Sima­vi Stif­tung, Preis für dar­stel­len­de Küns­te, Türkei
  • 1983 Aus­zeich­nung, Wiking Gra­fik, Wett­be­werb, Türkei
  • 1979 Aus­zeich­nung, DYO Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1977 Aus­zeich­nung, DYO Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1975 Preis, 36. staat­li­che Kunst­aus­stel­lung für Gra­fik, Türkei
  • 1974 Preis, DYO Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei
  • 1973 Aus­zeich­nung, DYO Wett­be­werb für Male­rei und Gra­fik, Türkei

BIENNALETRIENNALE

  • 2000 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Kai­ro, Ägypten
  • 1999 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1997 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Kai­ro, Ägypten
  • 1996 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1996 12. Inter­na­tio­na­le Zeich­nung Bien­na­le Cleve­land, England
  • 1993 Jubi­lä­um X Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1990 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1990 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le, Inter­gra­fik Ber­lin, Deutschland
  • 1989 Dra­wing ’89, Inter­na­tio­na­le Zeich­nung Bien­na­le Cleve­land, England
  • 1986 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1983 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Tri­en­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1976 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Bien­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1975 MIR 75/30 OZN Inter­na­tio­na­le Gra­fik Bien­na­le Slovenj, Gra­dec, Jugoslawien
  • 1974 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Bien­na­le Fre­chen, Deutschland
  • 1974 Inter­na­tio­na­le Gra­fik Bien­na­le Kra­kau, Polen

Span­nend erzählt der Maler Meh­met Güler (1944) von sei­nem Wer­de­gang, der in einem Dorf Ana­to­li­ens als kunst­in­ter­es­sier­ter Schü­ler begann und ihn heu­te zu einer wich­ti­gen Figur der moder­nen Kunst­sze­ne in Deutsch­land wer­den ließ. Sein Eigen­sinn, mit dem er den Besuch einer wei­ter­füh­ren­den Schu­le in sei­nem abge­schie­de­nen Dorf — und spä­ter manch ande­res klei­ne­res oder grö­ße­res Pro­jekt — durch­setz­te, sei­ne Kar­rie­re als Schul- und Hoch­schul­leh­rer und als Künst­ler, und die Umstän­de, unter denen er die Tür­kei ver­ließ, ergän­zen sein Selbst­por­trät zu einem rea­lis­tisch gezeich­ne­ten Pan­ora­ma der länd­li­chen und groß­städ­ti­schen Tür­kei der 1950er bis in die 70er Jahre.

Da Gülers Auto­bio­gra­phie kei­nes­wegs nur in der Auf­zäh­lung von kar­rie­re­re­le­van­ten Ereig­nis­sen besteht, son­dern sein gan­zes Leben umfasst, gewinnt die­ses Pan­ora­ma viel an Leben­dig­keit und Far­be, ohne sich in Details zu ver­lie­ren und ohne in eine Schön­fär­be­rei zu gera­ten. Gera­de durch die Kon­flik­te, die Güler mit­un­ter schil­dert, ler­nen wir sei­ne Fami­lie und sei­ne Nach­barn im Dorf, sei­ne Freun­de, Leh­rer und Berufs­kol­le­gen ken­nen, gewin­nen Ein­bli­cke ins Schul- und Hoch­schul­le­ben und in die Kunst­sze­ne in der Tür­kei. Wir beglei­ten ihn bei sei­nem Mili­tär­dienst im unweg­sa­men Osten des Lan­des und auf sei­nen Rei­sen, von denen eine ihn sogar ins Deutsch­land des Jah­res 1966 führt, um ein gebrauch­tes Motor­rad zu kau­fen, und die ein drol­li­ges Ende am kor­rup­ten Zoll nimmt.

Ver­gan­gen­heit in der Son­ne liest sich wie ein Bil­dungs- und Aben­teu­er­ro­man in einem. Güler erzählt so poin­tiert, infor­ma­tiv und unter­halt­sam, dass wir Leser bedau­ern müs­sen, dass sei­ne Geschich­te mit dem Wech­sel von Anka­ra nach Kas­sel endet, wo er seit 1974 als frei­er Künst­ler lebt.

Die Geschich­te des wei­ten Weges aus dem ana­to­li­schen Dorf sei­ner Geburt in die Welt der Küns­te liest sich wie ein span­nen­der, mit­rei­ßen­der Roman. Kaum zu stil­len­der Wis­sens­durst und die Fas­zi­na­ti­on des Bil­des waren Antriebs­kräf­te, die Meh­met Güler über sich selbst hin­aus­wach­sen lie­ßen. Schon früh wur­de dem jun­gen Mann klar, dass sei­ne Zukunft nicht in der Enge der dörf­li­chen Gemein­schaft lie­gen konn­te, doch die Hür­den, die sich vor ihm auf­türm­ten, um dar­aus aus­zu­bre­chen, schie­nen unüber­wind­bar zu sein. Aber Meh­met Güler hat­te ein Ziel, und er glaub­te an sei­ne Visi­on von einem Leben für und mit der Kunst. Das ver­lieh ihm unvor­stell­ba­re Kräf­te.
Die­ses Buch nimmt die Leser mit auf eine aben­teu­er­li­che Rei­se, ihr Ende fin­det die­se Rei­se in Kas­sel, wo sich Meh­met Güler zu einem inter­na­tio­nal gefei­er­ten, viel­fach aus­ge­zeich­ne­ten Künst­ler unse­rer Zeit ent­wi­ckelt hat.
(Tho­mas Hengstenberg)

Vergangenheit in der Sonne

Erin­ne­run­gen von Meh­met Güler. 357 S. Hard­co­ver, Faden­bin­dung.
Mit Lese­band und Schutzumschlag.

Mit Bil­dern aus Gülers Leben und Werk
ISBN 978–3‑933847–74‑4

20,00 €