Ein Leben für die Kunst
Mehmet Güler
Vom anatolischen Dorfkind
zum international gefeierten Künstler
Wie hat Mehmet Güler die Kunstwelt erobert?
Was macht ihn zu einem der bedeutendsten Künstler aus der Türkei?
Einblicke in das Schaffen des deutschen-türkischen Künstlers.
In September 2020 präsentierte die heutige Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages, Claudia Roth (heute Staatsministerin beim Bundeskanzler sowie Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien), stolz das neueste Juwel in der Kunstsammlung des Deutschen Bundestages: ein von Mehmet Güler geschaffenes Gemälde, das die Verbindung östlicher und westlicher Traditionen auf beeindruckende Weise zum Ausdruck bringt.
www.bundestag.de/besuche/kunst/ausgewaehlt/gueler-794570
Der Erwerb dieses Kunstwerks, das östliche und westliche Traditionen miteinander vereint, stellt für die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages eine bedeutende politische Aussage dar, ganz im Sinne des „West-östlichen Divans“ von Goethe, in dem es heißt:
„Wer sich selbst und andere kennt,
wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
sind nicht mehr zu trennen.“
Mehmet Güler, einer der bedeutendsten Künstler aus der Türkei, wurde im Jahr 1944 in einem malerischen Dorf in der Nähe von Malatya in Anatolien geboren. Sein Talent für Malerei und Grafik wurde an der renommierten Gazi-Universität in Ankara, die von Kemal Atatürk, dem Gründer der modernen Türkei, gegründet wurde, entdeckt und gefördert. Nach dem Erwerb seines Diploms im Jahr 1965 lehrte er später selbst als Dozent an dieser Universität.
Durch ein begehrtes Auslandsstipendium wurde ihm die Möglichkeit geboten, an der Kunsthochschule Kassel seine Fähigkeiten weiter zu vertiefen und auch hier schloss er erfolgreich sein Diplom für Malerei und Grafik ab. Obwohl er zunächst an die Gazi-Universität zurückkehrte, beschloss er schließlich aus politischen Gründen Ende 1977, mit seiner Familie nach Kassel umzusiedeln, wo er bis heute lebt und arbeitet. Dank seines außergewöhnlichen Talents und seines kreativen Geistes hat Mehmet Güler sich international einen Namen gemacht.
Welt.Kunst.Kassel. hat Mehmet Güler in seinem Atelier besucht.
In einem Interview gibt Mehmet Güler interessante Einblicke über sich und seine Arbeit.
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W.K.K.: Lieber Mehmet, als Künstler aus dem Orient beschäftigst du dich in deinen farbgewaltigen Werken mit der Begegnung der Kulturen und ihrer gegenseitigen Beeinflussung. Vor dem Hintergrund deiner eigenen türkischen Wurzeln beschäftigst du dich mit den ambivalenten Zusammenhängen innerhalb von Kultur, Identität, Kunst und Politik. In deinen abstrakten Ölbildern auf Leinwand beziehst du dich auf Schriftsteller und Dichter aus dem Orient und dem Okzident, wie Hafiz, Goethe, Heine, und stellst sie so in den Dialog mit deiner malerischen Sprache. Wie entstehen deine Bilder? Lässt du dich bei der Verwirklichung deiner Arbeiten eher treiben oder hast du einen individuellen Werkplan?
M.G.: Wenn ich eine Idee habe, nehme ich mir erst einmal die Leinwand. Aber ich kann nicht sofort loslegen, ich muss mich zunächst hinsetzten, ein bisschen Abstand nehmen, manchmal kann es sogar einige Tage dauern. Erst wenn ich das Bild, das in meinem Kopf entstanden ist, auf der Leinwand sehe, kann ich beginnen. Ich fange oft zunächst mit Figuren, Zeichnungen oder auch Texten an. Wenn etwas es ästhetisch nicht so gut ist oder mehr oder weniger farblich und kompositorisch nicht passt, lösche ich es wieder oder verändere es.
Für das Bild „Heine und ich“ habe ich zum Beispiel zuerst die Texte aus Heines Gedichten ausgesucht und dann die Farben. Die Texte erscheinen dann im Hintergrund, sie sind nicht Hauptbestandteil des Bildes und werden von der Farbe auch teilweise bedeckt. Bei diesem Bild habe ich mehrmals Schicht auf Schicht gemalt, bis Strukturen, Figuren und Farben dem Inhalt meiner Interpretation passten.
Wenn ich aber eine feste Idee entwickle, kann es auch schiefgehen bei der Umsetzung: Ich fange mit dem Bild nach meiner Idee an – manchmal aber entwickelt es bei der Umsetzung eine eigene Dynamik, dem ich dann folge. Dabei versuche ich neue Elemente zu finden und achte gleichzeitig auf alle Details, bis auf die kleinste Linie. Die Komposition muss vollständig und ausgeglichen sein. Manchmal decke ich einen Teil ab oder gehe weg und sehe erst dann, was passiert, was fehlt. Wenn man ständig an einem Bild arbeitet, kann man nicht mehr sehen, wo es Fehler in der Komposition gibt oder was fehlt. Kein Element ist zufällig, sondern jede Linie, jeder Pinselstrich ergänzt das Werk in seiner Vollständigkeit, wie in einem Orchesterspiel.
Ich grundiere die Fläche nicht mit einer Grundfarbe, da mich sonst die Farben beeinflussen und binden würde, sondern arbeite sukzessive an dem Bild. Manchmal aber kann ich nicht genau realisieren, was ich im Kopf habe und muss die Strukturen und die Farbigkeit wieder neu anpassen.
Einmal hat mich auch jemand gefragt: „Herr Güler, wieso malen Sie immer in einer Richtung, von links nach rechts?“ Das ist mir ansich in meinem Arbeitsprozess so nicht bewusst. Ich glaube, dass jeder Mensch eine ihm eigne Handschrift hat: Es ist für mich natürlicher von links nach rechts, so wie ich auch schreibe, zu malen. Wie in einem Orchester gibt es bestimmte Instrumente, die eine Hauptrolle spielen, aber auch kleine Elemente, die die Melodie ergänzen. Es geht bei meinen Bildern um die Farbmelodie. Die kleinen Details machen sie lebendiger.
W.K.K.: In deiner abstrakten Malerei, die in beeindruckender Weise mit Farben, Verläufen und Andeutungen von Figürlichkeit spielen, sind dominierende, leuchtende Farbflächen charakteristisch. Auch bleibt die Verbindung von östlicher und westlicher Tradition ein wesentliches Thema deiner Arbeiten und eröffnet immer wieder neue Interpretationsansätze. Du hast hier in deinem Atelier sehr viele Bilder. Ganz offensichtlich bist du ein sehr produktiver Maler.
M.G.: Ja, das stimmt. Ich stehe morgens um 6 Uhr auf und arbeite intensiv den ganzen Tag. Malen ist eben meine Arbeit. Es ist aber immer unterschiedlich, wie viele Bilder ich zum Beispiel in einem Jahr male. Es geht natürlich auch um das Format. Ich arbeite meistens in größeren Formaten und sie nehmen mehr Zeit in Anspruch. In den 2010er Jahren habe ich zum Beispiel je Jahr 20 bis 30 Bilder gemalt, aber die letzten zwei drei Jahre, also insbesondere während der Corona-Zeit, habe ich eigentlich wenig erarbeiten können. Die Pandemie und die allgemeine Stimmung haben meine schöpferische Arbeit sehr beeinflusst. Es klappt eben nicht immer so einfach. Und ich gehe auch auf die 80 zu und spüre auch körperlich langsam die Last der Jahre.
Ich habe in der Vergangenheit auch viele Ätzradierungen gemacht.
Normalerweise benutzt man bis zu 5‑prozentige Salpetersäure. Die geritzten Platten werden in das Säurebad gelegt. Ich wollte aber bis an die Grenze gehen, um malerische Effekte bei den Radierungen zu erreichen und habe dafür 50-prozentige Salpetersäure verwendet, oft ohne eine Maske zu tragen, weil dies zu schwer bei der Arbeit war, sodass das Einatmen der Dämpfe meiner Gesundheit geschadet hat. Ich mache jetzt deshalb keine Radierungen mehr. Ich konzentriere mich jetzt lieber auf die Malerei und Bildhauerei. Ich liebe Großformate, aber auch an der Leiter zu stehen, die brauche ich, um diese großen Formate zu realisieren, strengt mich mittlerweile an: Ich muss immer wieder runtergehen, an die Farbpalette und dann wieder hoch auf die Leiter. Das ist auch nicht so einfach.
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W.K.K.: Du hast verschiedene Techniken ausprobiert. Womit arbeitest du am liebsten?
M.G.: Ja, ich habe viele Techniken ausprobiert. Ich habe in den 1960er Jahren sowohl gemalt als auch Holzschnitte gemacht. Auch fotografische und filmische Arbeiten waren dabei. Später, in Deutschland, kamen Radierungen und Lithographie dazu. Ich bin in meinem Studium in der Türkei auch in der klassischen Aktzeichnung ausgebildet worden und beherrsche die Anatomie sehr gut.
Viele Künstler können heutzutage überhaupt nicht mehr zeichnen.
Auch in meinen Zeichnungen lässt sich meine mir eigene Handschrift wiedererkennen.
Ich habe auch Metallskulpturen gemacht: Sie werden aus Stahl hergestellt und dann mit einem Wasserstrahl geschnitten. Eine beeindruckende Technik: das Wasser schneidet Stahl wie Butter. Aber die Öl-Malerei ist meine Lieblingstechnik, meine Berufung.
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W.K.K.: Du bist in einer dörflichen Gegend der Südosttürkei aufgewachsen zu einer Zeit, in der es in deinem Dorf keine Vorstellung von „Kunst“ gab. Dennoch skizziertest und zeichnetest du mit Bleistift und Kohle auf jedem Untergrund und dies ganz gegen den religiösen Glauben und das Abbildungsverbot von Menschen. Du hast dir als Kind Pinsel und Farben selbst gebastelt, nachdem du diese in einem Schulbuch gesehen hast… Deine Autobiografie „Vergangenheit in der Sonne“ fand international große Beachtung. Deine Lebensgeschichte, dein Weg aus dem anatolischen Dorf in die Kunstwelt, ist ein spannender, mitreißender Roman. Inwiefern reflektiert dein biografischer Roman die türkische Gesellschaft der Zeit? Wie haben deine Freunde, Bekannte und Familie auf die Veröffentlichung deiner Biografie reagiert? Wie waren ihre Reaktionen? Konntest du deinen Vater eigentlich noch nachträglich von deinem Können überzeugen?
M.G.: Das Buch ist 2005 in Istanbul erschienen, ist sofort sehr gut angekommen und einige Leute wollten sogar einen Film daraus machen. Die Geschichte ist heutzutage auch deshalb so faszinieren, weil es der nachkommenden Generation die Türkei so zeigt, wie sie vor vielen Jahrzehnten war, eine ganz andere Welt. Ich habe damals unter den widrigsten Umständen, mit Nichts angefangen. Die jetzige Generation weiß nicht mehr, woher der Reichtum von heute kommt. Die Kinder in meinem Dorf können meine Geschichte nicht mehr verstehen, weil es dort Straßen, Wasser, Strom, Fernseher und Internet gibt und jeder ein Auto hat. Aber damals war es eben anders. Die Dorfschule, über die ich in meinem Buch viel erzähle, war die erste Schule in meinem Dorf überhaupt. Der erste Lehrer, der kam, unterrichtete alle Klassen in einem Raum, auch weil die Schüler so wenige waren. Man konnte eigentlich kaum was lernen, es gab auch keine richtigen Bücher, keine Bibliothek. Wir konnten aus der Welt nicht wirklich etwas erfahren. Unsere Zukunft war schon vorgesehen, aber innerlich war ich in meiner Welt unzufrieden und mochte dieses begrenzte Dorfleben aus einem inneren Instinkt, einem inneren Antrieb nicht. Woher diese Unruhe kam, weiß ich nicht – ich hatte keine Vorbilder, es gab keine Fernseher, meine Welt beschränkte sich auf einige wenige Kilometer. Einzig mein Lehrer ist mir damals ein Vorbild gewesen, da er aus einer Welt außerhalb des Dorfes kam. Also wollte auch ich Lehrer werden. Ich habe mit ihm gesprochen und er hat mir erzählt, dass ich viel lernen und viele Aufnahmeprüfungen bestehen müsse, aber ich habe mich nicht einschüchtern lassen. Er war selbst sehr jung, hatte gerade geheiratet und hatte keine Lust, mich außerhalb der regulären Schulzeit zu unterrichten. Er erzählte mir, dass bei der ersten Prüfung 5000 Bewerber aus allen näheren Dörfern und Städten kommen und nur 50 Schüler aufgenommen werden würden. Um die schriftlichen und mündlichen Prüfungen zu bestehen, riet er mir, zusätzlichen Unterricht bei einem bestimmten älteren Schüler, den er kannte, und der in dem nächsten größeren Ort lebte, zu nehmen. Also lief ich zu Fuß 15 Kilometer weit, um diesen einen Schüler zu finden und ihn zu fragen, ob er mich für meine Prüfungsvorbereitungen unterrichten kann. Dieser war gerade dabei, sich selbst auf weitergehenden Lehrer-Prüfungen vorzubereiten und akzeptierte meine Bitte, von ihm unterrichtet zu werden.
So bin ich in den wochenlangen Sommerferien täglich und bei gut 35 Grad Hitze zu Fuß 15 Kilometer hin und zu Fuß wieder 15 Kilometer zurück gelaufen, das alles, um bei ihm zu lernen. Ich war damals sehr klein und zerbrechlich und in der türkischen Sommerhitze zu laufen war sehr anstrengend. Aber nach für mich abenteuerlichen und anstrengenden Wochen – die ersten außerhalb meines Elternhauses, in denen ich kaum etwas gegessen habe, nur Trauben und Brot – habe ich es geschafft, die mündlichen und schriftlichen Prüfungen zu bestehen. Somit eröffneten sich für mich neue Perspektiven. Nach sechs entbehrungsreichen Jahren im Internat, vielen weiteren Herausforderungen und Prüfungen, wurde ich dann endlich Grundschullehrer.
Im ersten Jahr im Internat, ich war gerade 13 Jahre alt, hatte ich meine erste Berührung mit der bildenden Kunst und es zog mich sofort in seinen Bann. Mein dortiger Kunsterzieher wurde also mein neues Vorbild: Ich wollte nun Kunsterzieher werden. Aber um dieses Ziel zu erreichen, musste ich nach meinem Abschluss als Grundschullehrer noch viele weitere Prüfungen sowie Fachprüfungen bestehen, bis ich schließlich an der Universität in Ankara Kunst studieren und später als Kunstlehrer tätig werden konnte.
Ich war das erste Kind aus meinem Dorf, das in einem Internat war; das erste Kind überhaupt, dass für ein Studium das Dorf verließ; das erste Kind, das in meinem Dorf ein Fahrrad besaß; die erste Person, die eine Frau aus einem anderen Ort heiratete; die erste Person aus dem Dorf, die Motorrad und später ein Auto besaß. Ich war der erste Hochschullehrer und kam später sogar ins Fernsehen. In den Jahren nach mir schafften es weitere junge Menschen, aus dem Dorf heraus zu kommen und die Türkei hat sich in der Zwischenzeit sehr verändert. Das war damals eine andere Welt. Mein Vater war natürlich später sehr stolz auf mich, aber er war so, dass er es mir nie gesagt hat, ich habe von ihm kein Wort der Anerkennung bekommen.
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W.K.K.: Du bist 1974 nach Deutschland gekommen. Erinnerst du dich an die ersten Tage und die Anfangszeit hier?
Wie war es, als du nach Deutschland gekommen bist?
M.G.: Ich wollte mich nach meinem Studium und mittlerweile Tätigkeit als Kunsterzieher weiterentwickeln und beschloss auch mit dem Ziel, später als Dozent an der Hochschule tätig sein zu können, in Europe ein Aufbaustudium zu absolvieren. Aber damals benötigte man dafür ein Stipendium. Ich befand mich gerade im obligatorischen Militärdienst, als sich eine Möglichkeit für ein Stipendium ergab. Aufgrund meines Dienstes konnte ich jedoch nicht an den Qualifizierungsprüfungen teilnehmen. Es bedrückte mich sehr, diese Chance zu verpassen. In der Annahme, ich müsse nun alles selber finanzieren, sparte ich alles Geld in dieser Zeit, um mir zumindest einen Auslandaufenthalt als Weiterbildung leisten zu können.
Während der zwei Jahre des Dienstes konnte ich nicht malen, ein tiefer Schmerz für mich.
Doch mit Ende des Militärdienstes nahm ich umso intensiver die Arbeit wieder auf, um mich für die nächste Möglichkeit eines Stipendiums bewerben und qualifizieren zu können. Ich habe Tag und Nacht gearbeitet, um in diesem Zuge auch meine erste Ausstellung in Ankara verwirklichen zu können.
Meine Holzschnitte aus dieser Zeit zeigten die ärmere Schicht der Gesellschaft und konnten damals politisch kritisch wirken und sogar als kommunistisch eingestuft werden.
Auf der Ausstellung in Ankara kam ein interessierter Mann, selbst ein Dichter und Schriftsteller, auf mich zu und gratulierte mir für die Ausdruckskraft meiner Bilder. Und im gleichen Atemzug warnte er mich, ich könnte Probleme wegen der Motive meiner Bilder bekommen. Es bedrückte mich, dass ein Kunstschaffender aufgrund seines Schaffens Angst bekommen konnte…
Nach der Ausstellungseröffnung kam ein Bekannter zu mir, den ich noch aus meinem Militärdienst kannte, und er sagte zu mir: „Mehmet Abi, ich kann dich in einer Nacht berühmt machen.“ Ich fragte ihn: „Was für ein Zauber hast du?“ Und er antwortete: „Lass mich machen. Ich komme morgen mit einigen Leuten, wir schlagen deine Bilder kaputt und sagen der Presse, dass du Kommunist bist und du wirst dann sofort in allen Zeitungen stehen.“ Aber ich habe abgelehnt. Glücklicherweise habe ich trotz aller Warnungen keine bekommen.
Und dann konnte ich mich erfolgreich für ein Stipendium in Deutschland qualifizieren, indem ich weitere Prüfungen bestehen konnte.
Als ich im Jahr 1974 nach Deutschland kam, um an der Hochschule für Kunst in Kassel zu studieren, hatte ich meine Mappe mit Holzschnitten mitgebracht und habe sie Prof. Heinz Nickel, damals Dozent für Lithographie und Tiefdruck an der damaligen Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Kassel, gezeigt. Er war sofort begeistert, alle waren von meinen Arbeiten beeindruckt. Ich wollte mich als Student an der Uni einschreiben, obwohl ich zu dieser Zeit bereits als Dozent an der Hochschule in Ankara lehrend tätig war. So fragte Prof. Nickel: „Sie sind doch Hochschullehrer, wieso möchten Sie sich als Student einschreiben?“ Aber ich wollte unbedingt auch ein Diplom hier in Deutschland machen. Es war Oktober, die Anmeldefrist war leider gerade abgelaufen, aber Prof. Nickel war hilfsbereit, hat mit den Kollegen gesprochen, um mir eine Ausnahme zu ermöglichen.
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W.K.K.: Die Situation in der Türkei ist zurzeit nicht einfach. Wie ist die Situation der Künstler?
M.G.: Das Theater in der Türkei ist zurzeit durch politische Einflussnahme sehr beeinflusst.
Das freie Theater bekommt keine Förderungen mehr. Politische Äußerungen sind schwierig, so wurde zum Beispiel der international bekannte und gefeierte türkische Pianist und Komponist Fazil Say, der sich als Bürgerrechtsaktivist engagiert, wegen öffentlicher Verunglimpfung religiöser Werte angezeigt. Künstler*innen jeder Art können ihrer Arbeit nachgehen, solange sie sich nicht politisch äußern.
In diesem Kontext verliert die große Kunstmesse Istanbul zurzeit an Bedeutung. Ich habe dort in der Vergangenheit oft und mit Erfolg, ausgestellt, aber aus einem mir unbekannten Grund habe ich den Eindruck, man verhindert seit einiger Zeit meine Teilnahme und dass ich dort weiterhin ausstellen kann. Ich bekomme auch Anfragen von anderen Messen in der Türkei, aber ich habe in der bisher abgelehnt, weil es sich für mich nicht mehr lohnt. In der Türkei kann aufgrund der wirtschaftlichen Situation und der steigenden Inflation kaum jemand noch in Kunst investieren. Meine letzten Ausstellungen fanden hauptsächlich in Deutschland statt.
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W.K.K.: Wie kam es zu der Ehrung im Bundestag deine Kunst zu zeigen
M.G.: Frau Roth kam, begeistert von meinen Bildern, als Eröffnungsrednerin zur Eröffnung meiner Ausstellung in der documenta Halle nach Kassel. Sie schlug meine Bilder also der Kommission des Kunstbeirats vor. Der Kunstbeirat entscheidet über alle Kunst-Projekte im Deutschen Bundestag, denn es werden jährlich Kunstwerke für die Kunstsammlung des Deutschen Bundestages durch Ankauf erworben oder Aufträge für Kunstprojekte erteilt. Die Kommission entscheidet aber auch über die Kunst-am-Bau-Projekte für die Parlamentsbauten in Berlin und beschließt das Ausstellungsprogramm zeitgenössischer Kunst in den Liegenschaften des Bundestages. Dem Kunstbeirat gehören neben der Bundestagspräsidentin Abgeordnete aller Fraktionen des Deutschen Bundestages an.
Vorsitzender des Beirats war zu der Zeit Wolfgang Schäuble. Ich habe damals die Bilder gesehen, die zusammen mit meinem Bild vorgestellt wurden. Ich wollte ein ganz großes Bild vorschlagen, aber es wurde mir geraten, kein großes Bild vorzustellen. Dennoch war mein Bild, 120 cm x 140 cm, eines der größeren unter den vorgeschlagenen Bildern und wurde mit Begeisterung aufgenommen. Es gibt im Bundestag nur wenige Bilder mit größeren Formaten und wenn dann nur von viel bekannteren Künstlern wie Gerhard Richter, Georg Baselitz, Emil Schumacher oder Anselm Kiefer. Der Sammlungsdirektor hat mir damals die Kunstsammlung im Deutschen Bundestag gezeigt und es waren alles ausschließlich Werke sehr bekannter Künstler. Ich bin nun der erste türkische Künstler in der Sammlung. Das ist natürlich für mich eine besondere Ehre, denn mein Bild steht nun sozusagen für eine Verbindung östlicher und westlicher Traditionen.
[ Das Interview führten: Sonja Rosettini + Helmut Plate ]
Vita
- 1965 Diplom für Malerei und Grafik, Gazi-Universität in Ankara.
- Dozent an der Gazi- Hochschule in Ankara.
- 1976 Diplom für Malerei und Grafik, Hochschule für Bildende Kunst in Kassel.
- Lebt und arbeitet seit 1977 als freischaffender Künstler in Kassel.
- Über 200 Einzelausstellungen in Museen und Galerien weltweit. Zahlreiche Teilnahmen an Gruppenausstellungen, internationalen Biennalen, Triennalen und Kunstmessen.
- Träger internationaler Preise und Auszeichnungen.
- Die Werke befinden sich weltweit in Museen, öffentlichen und privaten Sammlungen.
Preise und Ehrungen
- 2019 „Leuchtkraft“, documenta Halle Kassel, Kulturamt Kassel, zum 75. Geburtstag.
- 2014 Ehrung der Stadt Kassel mit der „Goldene Ehrennadel“.
- 2013 Bosphorus Awards, Türkisch-Europäische Stiftung für Bildung und wissenschaftliche Forschung DTS
- 2001 Preis, Premio Agazzi, Bergamo, Italien
- 1991 Preis, internationaler Grafik Wettbewerb Bergamo, Italien
- 1990 Preis, internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1986 Preis, internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1984 Auszeichnung der Enka Stiftung, Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1983 Preis, DYO Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1983 Preis, Vakko Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1983 Preis, Sedat Simavi Stiftung, Preis für darstellende Künste, Türkei
- 1983 Auszeichnung, Wiking Grafik, Wettbewerb, Türkei
- 1979 Auszeichnung, DYO Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1977 Auszeichnung, DYO Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1975 Preis, 36. staatliche Kunstausstellung für Grafik, Türkei
- 1974 Preis, DYO Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
- 1973 Auszeichnung, DYO Wettbewerb für Malerei und Grafik, Türkei
BIENNALE – TRIENNALE
- 2000 Internationale Grafik Triennale Kairo, Ägypten
- 1999 Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1997 Internationale Grafik Triennale Kairo, Ägypten
- 1996 Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1996 12. Internationale Zeichnung Biennale Cleveland, England
- 1993 Jubiläum X Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1990 Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1990 Internationale Grafik Triennale, Intergrafik Berlin, Deutschland
- 1989 Drawing ’89, Internationale Zeichnung Biennale Cleveland, England
- 1986 Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1983 Internationale Grafik Triennale Frechen, Deutschland
- 1976 Internationale Grafik Biennale Frechen, Deutschland
- 1975 MIR 75/30 OZN Internationale Grafik Biennale Slovenj, Gradec, Jugoslawien
- 1974 Internationale Grafik Biennale Frechen, Deutschland
- 1974 Internationale Grafik Biennale Krakau, Polen
Spannend erzählt der Maler Mehmet Güler (1944) von seinem Werdegang, der in einem Dorf Anatoliens als kunstinteressierter Schüler begann und ihn heute zu einer wichtigen Figur der modernen Kunstszene in Deutschland werden ließ. Sein Eigensinn, mit dem er den Besuch einer weiterführenden Schule in seinem abgeschiedenen Dorf — und später manch anderes kleineres oder größeres Projekt — durchsetzte, seine Karriere als Schul- und Hochschullehrer und als Künstler, und die Umstände, unter denen er die Türkei verließ, ergänzen sein Selbstporträt zu einem realistisch gezeichneten Panorama der ländlichen und großstädtischen Türkei der 1950er bis in die 70er Jahre.
Da Gülers Autobiographie keineswegs nur in der Aufzählung von karriererelevanten Ereignissen besteht, sondern sein ganzes Leben umfasst, gewinnt dieses Panorama viel an Lebendigkeit und Farbe, ohne sich in Details zu verlieren und ohne in eine Schönfärberei zu geraten. Gerade durch die Konflikte, die Güler mitunter schildert, lernen wir seine Familie und seine Nachbarn im Dorf, seine Freunde, Lehrer und Berufskollegen kennen, gewinnen Einblicke ins Schul- und Hochschulleben und in die Kunstszene in der Türkei. Wir begleiten ihn bei seinem Militärdienst im unwegsamen Osten des Landes und auf seinen Reisen, von denen eine ihn sogar ins Deutschland des Jahres 1966 führt, um ein gebrauchtes Motorrad zu kaufen, und die ein drolliges Ende am korrupten Zoll nimmt.
Vergangenheit in der Sonne liest sich wie ein Bildungs- und Abenteuerroman in einem. Güler erzählt so pointiert, informativ und unterhaltsam, dass wir Leser bedauern müssen, dass seine Geschichte mit dem Wechsel von Ankara nach Kassel endet, wo er seit 1974 als freier Künstler lebt.
Die Geschichte des weiten Weges aus dem anatolischen Dorf seiner Geburt in die Welt der Künste liest sich wie ein spannender, mitreißender Roman. Kaum zu stillender Wissensdurst und die Faszination des Bildes waren Antriebskräfte, die Mehmet Güler über sich selbst hinauswachsen ließen. Schon früh wurde dem jungen Mann klar, dass seine Zukunft nicht in der Enge der dörflichen Gemeinschaft liegen konnte, doch die Hürden, die sich vor ihm auftürmten, um daraus auszubrechen, schienen unüberwindbar zu sein. Aber Mehmet Güler hatte ein Ziel, und er glaubte an seine Vision von einem Leben für und mit der Kunst. Das verlieh ihm unvorstellbare Kräfte.
Dieses Buch nimmt die Leser mit auf eine abenteuerliche Reise, ihr Ende findet diese Reise in Kassel, wo sich Mehmet Güler zu einem international gefeierten, vielfach ausgezeichneten Künstler unserer Zeit entwickelt hat.
(Thomas Hengstenberg)
Vergangenheit in der Sonne
Erinnerungen von Mehmet Güler. 357 S. Hardcover, Fadenbindung.
Mit Leseband und Schutzumschlag.
Mit Bildern aus Gülers Leben und Werk
ISBN 978–3‑933847–74‑4
20,00 €