Make Friends, Not Art

Zu Gast in der Kunst­hoch­schu­le Kas­sel
bei Reza Afi­si­na am 04.Mai 2022

Die neue Ausstellungshalle der Kunsthochschule Kassel scheint an diesem Tag zu leuchten. Verzweifelt wird versucht, den Sommer zu imitieren; es gelingt noch nicht.
Hier soll um 16.00 Uhr die dritte Veranstaltung mit Reza Afisina und Iswanto Hartono stattfinden, zwei der Kuratoren der documenta fifteen. Im Rahmen der Lehrveranstaltung erhalten Studierende der Kunsthochschule Kassel die Möglichkeit, die theoretischen und praktischen Grundlagen der diesjährigen documenta aus unterschiedlichsten Perspektiven kennenzulernen, dabei mit beteiligten Künstler*innen und ‑Gruppen zu diskutieren und sich mit dem kuratorischen Team auszutauschen. Nur wo sind die Hauptakteure?

Fünf Minu­ten vor Beginn drü­cken sich zwei ver­lo­re­ne Gestal­ten um das Gebäu­de her­um, ansons­ten ist das Gelän­de ver­waist. Die Türen sind geschlos­sen und auch ein Blick in das Inne­re der Hal­le lässt nicht auf eine bal­di­ge Ver­an­stal­tung schlie­ßen. Beim Nach­fra­gen in der nahe gele­ge­nen Cafe­te­ria bekommt man als Ant­wort ein schlich­tes Schul­ter­zu­cken.
Um kurz nach vier kommt Leben auf den Platz vor der Hal­le: Reza Afi­si­na, Iswan­to Har­to­no und Dr. Mar­tin Schmidl, der Rek­tor der KHK, kom­men mit meh­re­ren ande­ren Leu­ten ent­spannt auf uns zu. Har­to­no grüßt kurz, wird aber an der Gesprächs­run­de nicht teil­neh­men.
Wer schon ein­mal in Indo­ne­si­en war, wird sich beim ers­ten Ein­druck von Reza Afi­si­na an die vie­len freund­li­chen und offe­nen, frea­ki­gen jun­gen Leu­te erin­nern. Es fehlt eigent­lich nur noch das Skate­board unter dem Arm, um das Kli­schee per­fekt zu machen. Der zwei­te Ein­druck aber zeigt eine ganz eige­ne Intel­lek­tua­li­tät, mit der Reza sei­ne Zuhö­rer verblüfft.

Revolutionäres Konzept

Der Start in die Gesprächs­run­de erin­ner­te ein wenig an das Pro­ze­de­re in Selbst­hil­fe­grup­pen: Jeder Teil­neh­mer war auf­ge­for­dert, sei­nen Namen mit Kurz­bio­gra­phie zu nen­nen und die Inten­ti­on, war­um er da ist.
Dann aber über­nahm Reza das Wort und schnell wur­de klar, welch ein wacher Geist ihm inne­wohnt und dass die docu­men­ta fif­teen ein revo­lu­tio­nä­res Kon­zept ver­folgt: Die Kura­to­ren geben nur Mög­lich­kei­ten und Impul­se vor, erwar­ten kei­ne Ergeb­nis­se und Inhal­te. Apro­pos Kura­to­ren: Reza erzähl­te, dass die­ses Wort im Indo­ne­si­schen nicht exis­tent ist und er erst im Zuge der Inter­na­tio­na­li­sie­rung sei­ner Künst­ler­grup­pe ruan­grupa dar­auf gesto­ßen sei.

I am not a curator, I am a person”

So stellt er gleich zu Beginn klar: „I am not a cura­tor, I am a per­son“.
Die­ser Ansatz knackt das Eli­tä­re auf und bricht es in kol­lek­ti­ve Ver­äs­te­lun­gen, in dem alles mit jedem ver­bun­den ist, aber indi­vi­du­el­le Impul­se das Gesamt­bild ver­än­dern. Die­se Ideen hän­gen stark mit den Ver­hält­nis­sen zusam­men, in denen Afi­si­na und die ande­ren Mit­glie­der von ruan­grupa auf­ge­wach­sen sind. In der Zehn-Mil­lio­nen-Stadt Jakar­ta gab es für Künst­le­rin­nen und Künst­ler kei­ner­lei Mög­lich­kei­ten zu arbei­ten, För­der­mög­lich­kei­ten vom Staat sind nicht vor­ge­se­hen; sie muss­ten Mög­lich­kei­ten kre­ieren. Außer­dem konn­te man nur im Kol­lek­tiv über­le­ben und sich auf Freun­de ver­las­sen: „We never get lost in Jakar­ta“, so Reza.

Where is the Art?

 
Kann die docu­men­ta der Gesell­schaft exem­pla­risch vor Augen füh­ren, dass manch uto­pisch erschei­nen­de Sicht­wei­sen doch funk­tio­nie­ren kön­nen? Wie gehen die Künst­ler­kol­lek­ti­ve mit ihrer abso­lu­ten Frei­heit um? Wird die Stadt Kas­sel nach der docu­men­ta von den nach­hal­ti­gen Ideen pro­fi­tie­ren?
Vie­le Fra­gen ste­hen im Raum. Die Erwar­tun­gen auf Ant­wor­ten steigt, ab dem 18. Juni kön­nen wir beob­ach­ten, ob es Men­schen gelingt, gemein­sam Hin­der­nis­se zu über­win­den und ein eben­bür­ti­ges Neben­ein­an­der zu prak­ti­zie­ren. Nicht nur in der Kunst.
 
[ Ger­rit Bräu­ti­gam | Redaktion ]