Im

Wohnzimmer

der documenta fifteen

Lesung:
Schwarz wird großgeschrieben

In den Anfangs­jah­ren zu Beginn der 2000er Jah­re hat ruan­grupa, das Künst­ler­kol­lek­tiv, dass die dies­jäh­ri­ge docu­men­ta kura­tiert, auf­grund der poli­ti­schen und gesell­schaft­li­chen Umstän­de nach dem Ende des Suhar­to-Regimes in Indo­ne­si­en pri­va­te Wohn­zim­mer in öffent­li­che Räu­me ver­wan­delt, um sich dort der künst­le­ri­schen Pra­xis wid­men zu kön­nen. So ein Wohn­zim­mer wird es auch wäh­rend der hun­dert Tage docu­men­ta geben: Das ruru­Haus, ange­sie­delt in der alten Sport­are­na am Fuße der Treppenstraße.

[Foto: Son­ja Rossetini]

Der Ein­gang zur Königs­stra­ße ist an die­sem Abend Ende Janu­ar ver­schlos­sen, davor hocken zwei offen­sicht­lich Obdach­lo­se und bera­ten gera­de, ob sie zuerst einen Joint rau­chen oder sich neu­es Bier besor­gen wol­len. Der Sei­ten­ein­gang ist aber offen und nach dem übli­chen Kon­troll­pro­ze­de­re in Zei­ten von Covid19 steht dort Jörg Rob­bert von der Buch­hand­lung Bren­cher und begrüßt die Besucher.

Schwarz wird groß­ge­schrie­ben“, eine Samm­lung von 20 Geschich­ten schwar­zer FLINTA (Frau­en, Les­ben, Inter, Nicht­bi­nä­re, Trans, Agen­der), die scho­nungs­los und intim über ihren All­tag in Deutsch­land berich­ten, steht heu­te Abend auf dem Pro­gramm. Neben Bren­cher ist die Selbst­hil­fe­grup­pe SIDE BY SIDE Nord­hes­sen Mit­ver­an­stal­ter, die auch die char­man­te Mode­ra­to­rin des Abends Ruth Hun­stock, eine Anti­ras­sis­mus-Akti­vis­tin und Mit­be­grün­de­rin der Initia­ti­ve, stel­len. Die Her­aus­ge­be­rin des Buches, Evein Obul­or, holt sich gera­de ein Was­ser am Geträn­ke­stand, wo eine jun­ge Dame vom Fri­de­ri­cia­num die Besu­cher und Ver­an­stal­ter mit Geträn­ken ver­sorgt. Obul­or ist Jahr­gang 1994, Anti­dis­kri­mi­nie­rungs­be­auf­trag­te der Stadt Hei­del­berg, unglaub­lich sym­pa­thisch und mit ihrer auf­fäl­li­gen Fri­sur sehr prä­sent in der gro­ßen Hal­le, die etwa zur Hälf­te von der Ver­an­stal­tung bespielt wird. Haa­re sol­len an die­sem Abend durch­aus noch eine Rol­le spielen.

Die ande­re Sei­te ist leer, Kabel hän­gen von der Decke und ein paar Über­bleib­sel der Sport­are­na ste­hen ein­sam in den Ecken, wie eine alte wei­ße Couch und ein rie­si­ges Bild eines Fuß­ball­sta­di­ons mit einer alten Bank davor, die an Turn­hal­len in Grund­schu­len erin­nert. Das wird also das Wohn­zim­mer Kas­sels für die hun­dert Tage docu­men­ta, in der nongkrong (indo­ne­sisch für Bei­sam­men­sein und mit­ein­an­der abhän­gen) ein zen­tra­les Ele­ment bil­det. Es steht für die Öff­nung, für Zusam­men­sein und für den Aus­tausch von Res­sour­cen als künst­le­ri­sche Pra­xis. Das ruru­Haus ist ein Ort, der das über­grei­fen­de Öko­sys­tem der Stadt Kas­sel zu ver­ste­hen hilft – und ein Bei­spiel dafür, wie sich die docu­men­ta fif­teen selbst for­miert. Das ruru­Haus hat klein ange­fan­gen und wächst mit der Zeit. Unter­schied­li­ches Wis­sen, Fähig­kei­ten, Erfah­run­gen, Bedürf­nis­se und Wer­te flie­ßen ein und wer­den hier in ein Gleich­ge­wicht gebracht.

Das ruru­Haus ist Labo­ra­to­ri­um und Küche, Wohn­zim­mer und Arbeits­platz, Dru­cke­rei und Radio­sen­der. Es ist ein Ort, in dem die Viel­falt der Geschich­ten ihren Nach­hall fin­den kann. Des­halb hat Jörg Rob­bert auch erst eine Absa­ge für sei­ne Lesung bekom­men, da kei­ne kom­mer­zi­el­len Ver­an­stal­tun­gen im ruru­Haus statt­fin­den sol­len. Erst die Koope­ra­ti­on mit SIDE BY SIDE mach­te es mög­lich, die­se Lesung hier zu imple­men­tie­ren. Des­we­gen ist die­se wie auch alle wei­te­ren Ver­an­stal­tun­gen in die­sem Ort der Begeg­nung für die Besu­cher kostenfrei.

Eine der zwan­zig Autorin­nen des Buches war eben­falls mit nach Kas­sel gereist, Emi­le­ne Wopa­na Mudi­mu, die in Form eines Brie­fes an ihr jün­ge­res Ich über die Pro­ble­me her­an­wach­sen­der jun­ger schwar­zer Frau­en berich­te­te. Die Haa­re als Sym­bol des Anders­sein, des nicht dazu­ge­hö­ren, wes­halb man in fürch­ter­li­chen Pro­ze­du­ren die Haa­re glät­te­te, was nur mit Kopf­haut­ver­bren­nun­gen ein­her­geht. Die­se Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit jun­ger Men­schen, die­ses Nicht­ak­zep­tie­ren der eige­nen Iden­ti­tät, ist das gro­ße The­ma die­ses Buches. Wäh­rend sie liest, ist der Raum plötz­lich erfüllt von lau­tem Hun­de­ge­bell und dem Geschrei von einem erkenn­bar unkon­trol­lier­ten und alko­ho­li­sier­ten Indi­vi­du­ums. Die Stra­ßen­bahn rat­tert regel­mä­ßig als Klang­tep­pich für die Lesen­de vor­bei. Man sitzt gefühlt mit­ten auf der Königs­stra­ße, was das Urba­ne des Abends noch­mal her­vor­hebt.
Für Wopa­na Mudi­mu sind deut­li­che Wor­te aus­zu­spre­chen ein Akt der Lie­be und der Umsicht und der Abend endet mit der Hoff­nung, an die­sem beson­de­ren Ort noch wei­te­re Erleb­nis­se die­ser Art mit ande­ren Men­schen zu teilen.

[Ger­rit Bräu­ti­gam | Redaktion]

Schwarz wird großgeschrieben

ISBN: 9783948819521, 3948819521
Sei­ten­an­zahl: 240
Ver­öf­fent­licht: 17. Dezem­ber 2021
For­mat: E‑Book
Ver­lag: &Töchter
Spra­che: Deutsch
Redakteur/Redakteurin: Evein Obul­or
Datum der Erst­ver­öf­fent­li­chung: 27. Sep­tem­ber 2021
Her­aus­ge­ber: Evein Obulor

[Quel­le: Goog­le Books]

Die Black Lives Mat­ter-Bewe­gung hat die Gesell­schaft auf­ge­rüt­telt und Ver­än­de­run­gen ins Rol­len gebracht. Auch in Deutsch­land. Doch Schwar­ze FLINT (Frau, Les­be, Inter, Trans, Nicht­bi­nä­re), die in Deutsch­land gebo­ren und auf­ge­wach­sen sind, fin­den sich selbst und ihre eige­nen Geschich­ten oft nicht wie­der. Wie ihre Lebens­rea­li­tät hier­zu­lan­de aus­sieht, wel­che Coping-Stra­te­gien sie anwen­den und wel­che Zie­le und Zukunfts­vi­sio­nen sie sich erträu­men, erzäh­len intim und scho­nungs­los 16 Schwar­ze FLINT. In ihren Tex­ten bre­chen sie mit Ste­reo­ty­pen, for­dern zum Umden­ken auf und erschaf­fen einen Raum für eige­ne Iden­ti­tä­ten. Die­ser Auf­ruf an die Schwar­zen FLINT will nichts weni­ger, als jun­gen Men­schen ihr “Black Awa­ke­ning” ermög­li­chen und einer neu­en Schwar­zen Gene­ra­ti­on Flü­gel verleihen.
 
Mit Bei­trä­gen von: Ali­ce Has­ters Anna Dushi­me AnouchK iba­cka Vali­en­te Celia Par­bey Christel­le Nkwend­ja-Ngnoubamd­jum Cia­ni-Sophia Hoeder Dad­dy­puss Rex Emi­le­ne Wopa­na Mudi­mu Fatu­ma Musa Afrah Jen­ner Hen­drixx Jena Samu­ra Katha­ri­na Ogun­toye Katya Lwan­ga Mela­nel­le B. C. Hémê­fa Meret Weber Sarah Far­tu­un Hein­ze Schwarz­Rund Shaheen Wacker Ste­fa­nie-Lahya Aukon­goT­essa Hart­Win­nie Akeri.
 
[Quel­le Ver­lag: &Töchter]