HARRY KRAMER

Anstif­ter, Anre­ger und stil­ler Poet

Von Dirk Schwarze

Spieler und Schauspieler, Poet und Philosoph, Tänzer und Provokateur. Vor allem war Harry Kramer ein unvergleichlicher Künstler. Er nahm 1964 an der documenta teil und wurde 1970 als Professor für Bildhauerei an die Gesamthochschule Kassel berufen. Seinen Studenten versuchte er vor allem beizubringen, auf welch unterschiedliche Weise die Kunst auf die Realität reagieren kann. Zum Beispiel auch mit spektakulären Aktionen. Und die hatten vor allem eines: immer eine gute Pointe.

Im Alter von 72 Jah­ren ist der Bild­hau­er Har­ry Kra­mer in Kas­sel an Herz­ver­sa­gen gestor­ben. Sein Ver­mächt­nis ist die Künst­ler-Nekro­po­le im Habichts­wald. Har­ry Kra­mer war ein Spie­ler und woll­te dabei stets der Gewin­ner sein. Auch an dem Punkt, an dem es nichts mehr zu gewin­nen gibt – im Augen­blick des Todes – woll­te er nicht ein­fach ver­lie­ren. So hat­te er alles vor­be­rei­tet: Sein bild­haue­ri­sches und male­ri­sches Werk hat­te er abge­schlos­sen und weit­ge­hend in eine Stif­tung ein­ge­bracht; und schrei­bend hat­te er Bilanz gezo­gen. Selbst an einem Nach­ruf auf sich selbst hat­te er gear­bei­tet. Also konn­te er sich im Ses­sel zurück­leh­nen und her­aus­for­dernd dem Tod ins Ant­litz schau­en, indem er, wäh­rend sei­ne kran­ke Lun­ge künst­lich mit Sau­er­stoff ver­sorgt wun­de, an einer Ziga­ret­te zog.

So war er – ein Spie­ler und Schau­spie­ler, aber auch ein Phi­lo­soph. Vor allem aber war ein unver­gleich­li­cher Künst­ler, immer her­aus­for­dernd und anre­gend, anstif­tend und begeis­ternd. Obwohl anläss­lich sei­nes 65. Geburts­ta­ges eine Werk­schau durch die Lan­de reis­te, die auch im Kas­se­ler Muse­um Fri­de­ri­cia­num Sta­ti­on mach­te, hat man das ungu­te Gefühl, dass sein Gesamt­werk nie rich­tig sicht­bar gewor­den ist. Natür­lich, da sind sei­ne zar­ten poe­ti­schen Draht­s­kulp­tu­ren der 60er-Jah­re, in denen die Räd­chen schnur­ren. Die kennt man, die mach­ten ihn berühmt. Der Ruhm des Har­ry Kra­mer, der als Fri­sör begon­nen hat­te und dann Tän­zer gewor­den war, kam aus Paris nach Kas­sel. In der fran­zö­si­schen Haupt­stadt hat­te er mit sei­nen skur­ri­len Objek­ten für Auf­se­hen gesorgt. Sie waren durch­sich­tig, wie zer­brech­lich und doch vol­ler Volu­men. Die klei­nen, von Elek­tro­mo­to­ren ange­trie­be­nen Räder­wer­ke sym­bo­li­sier­ten den Leer­lauf der Bewe­gung. Das war ein iro­ni­scher Kom­men­tar zu der Zeit, die noch an den Fort­schritt glaub­te. Wahr­schein­lich hät­te sich Kra­mer auf dem Kunst­markt einen fes­ten und auch lukra­ti­ven Platz erobern kön­nen, wenn er sei­ne mobi­len Draht­s­kulp­tu­ren wei­ter gebaut und vari­iert hätte.

docu­men­ta III
Im Dach­ge­schoss des­Mu­se­um Fri­de­ri­cia­num waren Har­ry Kra­mers auto­mo­bi­le Skulp­tu­ren aus den Jah­ren 1962–64 zu sehen.

Aber nach­dem er sich mit sei­nen Arbei­ten 1964 auf der Kas­se­ler docu­men­ta hat­te vor­stel­len kön­nen und nach­dem er 1970 als Pro­fes­sor für Bild­haue­rei an die Gesamt­hoch­schu­le Kas­sel beru­fen wor­den war, stell­te er die­se Pro­duk­ti­on ein. Immer wie­der mach­te er in sei­nem Leben sol­che Schnit­te, brach plötz­lich ab, womit er Auf­se­hen erregt und Aner­ken­nung ein­ge­heimst hat­te. In Kas­sel führ­te sich der ver­meint­li­che Poet als Pro­vo­ka­teur ein: 1971 ließ er sich für 238 Stun­den in einer zwei mal drei Meter gro­ßen Zel­le im Muse­um Fri­de­ri­cia­num einmauern. 

Drei Jah­re spä­ter bau­te er mit sei­nen Stu­den­ten lebens­ech­te Figu­ren, die er als Gehäng­te prä­sen­tier­te; auf die durf­te nun geschos­sen wer­de. Und als 1978 der Kas­sel Kunst­ver­ein eine Aus­stel­lung zum The­ma Ver­schlüs­se zeig­te, nah­men Kra­mer und sei­ne Stu­den­ten das The­ma wört­lich und mau­er­ten das Eröff­nungs­pu­bli­kum im Kunst­ver­ein ein. Har­ry Kra­mers Aktio­nen hat­ten immer eine Poin­te. Aber sie erschöpf­ten sich nicht in vor­der­grün­di­gen Effek­ten. Denn gera­de die­se wil­den 70 Jah­re nutz­te er, um sei­nen Schü­lern zu zei­gen, auf welch unter­schied­li­che Wei­se die Kunst auf die Rea­li­tät reagie­ren kann. Der Kunst­markt schreit nach Welt­meis­tern, nach Super­künst­lern, lau­te­te eine The­se. Also schick­te er sei­ne Stu­den­ten in Welt­meis­ter-Pose in das Kunst­marktren­nen. Man moch­te Har­ry Kra­mer gele­gent­lich für einen Clown hal­ten. Die Rol­le gefiel ihm gewiss, denn im Grun­de war er abge­klärt, melan­cho­lisch und weise. 

Sein am stärks­ten in die Zukunft wei­sen­des Werk ist noch im Ent­ste­hen: Um die Dis­kus­si­on über die Skulp­tur in der Natur und die künst­le­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Tod neu in Gang zu set­zen, ent­wi­ckel­te er die Idee einer Künst­ler-Nekro­po­le: Aus­ge­wähl­te Künst­ler soll­ten zu ihren Leb­zei­ten ihre eige­nen Grab­mo­nu­men­te ent­wer­fen. Und obwohl der Wider­stand groß war, setz­te er das Pro­jekt für ein Are­al im Habichts­wald am Ran­de Kas­sels durch. Die­ses Pro­jekt ist sein Ver­mächt­nis. Eine Stif­tung sorgt dafür, dass es fort­ge­setzt wird.

Har­ry Kra­mer gehört zu den Künst­lern, die mir als wert­vol­ler Freund und Bera­ter oft zur Sei­te stan­den. Zur Zeit die­ser Auf­nah­me konn­te er sei­ne Lun­ge nur noch per Beatmungs­ge­rät mit Sau­er­stoff ver­sor­gen.
Er war ange­tan von dem Bild, das ich mit Rob Schol­te nach dem auf ihn ver­üb­ten Atten­tat mach­te. Da es ein letz­tes Bild wer­den soll­te, war es unser bei­der Wunsch, ein Bild mit den Beatmungs­schläu­chen und Ziga­ret­te in der Hand zu machen, die sei­ne kran­ke Lun­ge und sein Image als star­ken Gau­loi­se ohne Fil­ter Rau­cher präg­te. Heu­te hal­te ich die Ent­schei­dung für falsch, die Sau­er­stoff­fla­schen aus dem Bild genom­men zu haben.” 
(Ste­phan Reusse) 

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