LEBENSREALITÄTEN
Interview mit Prof. Dr. Martin Schmidl
Rektor der Kunsthochschule Kassel
W.K.K.: Sie sind seit November 2011 neuer Rektor der Kunsthochschule Kassel (KHK). Wie war der Einstieg in einer Stadt, die „documenta“ bereits als Beinahmen führt und sich über die Kunst definiert? Sie haben die Stadt wahnsinnig schnell begriffen, erzählen Sie doch mal, woran liegt das?
Schmidl: Ich bin viel herumgekommen, im Tandem mit meiner Frau, die Kuratorin und Museumsleiterin ist. Für uns ist es immer wichtig, vor Ort zu sein und die Stadt in der wir arbeiten zu verstehen und auch dort zu leben. Als ich in Frankfurt an der Städel-Schule bei Thomas Bayrle studierte, hatte man das Gefühl, der hat in der Hochschule gelebt und er studierte mit uns. Das ist für mich ein Idealfall. Im selben Maß wie ich Input in die Hochschule gebe, ziehe ich auch selber viel raus und profitiere davon. Ich gehe z.B. zu den Vorträgen des documenta-Instituts im Rahmen von TRACES (Transdisziplinäre Forschungszentrum für Ausstellungsstudien), und nehme dort eine Menge mit. Die Rektorenstelle nur organisatorisch zu begreifen wäre mir zu eindimensional, ich möchte den Blick auch außerhalb der Institution Kunsthochschule auf die Stadt haben und die Leute, die sie gestalten.
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W.K.K.: Jede Stadt hat ein spezifisches Gefüge. Wie erleben Sie die documenta-Stadt Kassel und ihre Kultur mit all ihren Brüchen und unterschiedlichen Facetten vom industriellen Osten bis zum mondänen Westen? Wie viel Potential steckt in ihr?
Schmidl: Ich saß am Anfang meiner Tätigkeit noch ohne Wohnung am Bebelplatz, es regnete und wir fragten uns schon, was machen wir hier.
W.K.K.: Na immerhin saßen Sie am Bebelplatz und nicht am Hopla!
Schmidl (lacht): Das stimmt, aber auch diese Ecken von Kassel haben natürlich ihren Reiz, den man aber oft erst auf den zweiten Blick sieht.
Meine Frau und ich waren dann aber schnell begeistert von der Stadt.
Ich habe zum Beispiel unter anderem in Freiburg studiert. Die Stadt hat eine ähnliche Größe wie Kassel, gilt aber eher als eine Bilderbuchstadt. In Kassel sieht man deutlich, was der Krieg architektonisch für Schneisen gerissen hat. Gleichzeitig ist es nicht so dynamisch verändert worden wie beispielsweise Frankfurt, wo komplette Ecken aus den 50er Jahren, zum Teil auch sehr schöne Bauten, einfach abgerissen wurden. Man kann nur hoffen, dass in Kassel einiges davon erhalten bleibt.
Für Kunstschaffende hat die Stadt eine spannende Bandbreite und es ist wichtig, dass es Orte wie den HopPla gibt, sonst hat man das Gefühl, es wird etwas verborgen von der Realität. Ich würde allen Leuten wünschen, dass sie in perfekten Häusern leben, Traumjobs haben, aber die Realität ist nun einmal eine andere. Wenn ich mir Kassel ansehe, mit seinen unterschiedlichen Vierteln, habe ich nicht das Gefühl, ich habe Teile der Lebensrealität in Deutschland verpasst. Ich sehe sie einfach vor mir. Das ist eine gute Grundlage, um genau hier Kunst zu studieren. Dabei geht es darum, die aktuellen Themen einer Gesellschaft vor Augen zu haben. Klar, in der ersten Studienzeit mag es spannend sein, in so einer Art Blase zu leben und nur den Campus als Orientierung zu haben. Aber diese Realitäten und Erfahrungen in einer nicht-perfekten Stadt prägen doch den Charakter viel mehr.
Mittlerweile bleiben auch viele der Studierenden nach dem Studium in Kassel, alleine schon wegen der Kosten eines Ateliers in Berlin oder Hamburg, aber auch, weil Kassel für seine Größe sehr vielschichtig ist.
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W.K.K.: Die KHK ist teilautonom. Wie wichtig ist das für die Stadt Kassel und gibt es hier besondere Strukturen?
Schmidl: Eine Kunsthochschule ist prägend für eine Stadt. Andere Städte in der Größe haben keine Kunstuni wie zum Beispiel Aachen. Auch eine Stadt in der ich gelebt habe. Dort hat man sich bewusst monokulturell entschieden, fast alle Geisteswissenschaften abgeschafft und auf die TU gesetzt. Das bildet sich in der Stadt ab: weniger Buchhandlungen, weniger gute Cafés, weniger kulturelle Veranstaltungen. Außerdem prägen viele, die in Kassel an der KHK studiert haben, die Stadt, auch wenn sie nicht Künstler:innen oder Gestalter:innen werden: Der eine eröffnet nach seinem Studium einen Schallplatten- oder Designladen, andere landen in Buchhandlungen oder in der Politik. Das gibt der Stadt natürlich ein anderes Gesicht.
Für mich ist die Struktur der KHK sehr spannend, da sie abbildet, was mich begleitet hat in meinen Studien und in meiner Arbeitsbiographie. Ich habe in fast jedem Fachbereich, den die KHK anbietet, gearbeitet. Es gibt hier völlig unterschiedliche Bedürfnisse und jeder dieser Bereiche braucht seine Berücksichtigung. Ein Anliegen, das sich für mich aus der Vielseitigkeit aber auch der teilweisen Selbstbezogenheit an der Hochschule ergibt, ist die Anregung von studiengangsübergreifenden Kooperationen, denn durch gemeinsame Projekte kann unheimlich viel entstehen. Ein Bereich der an Kunsthochschulen oft unterschätzt wird, ist die Kunstpädagogik. Wer kennt das nicht aus der Schule: War der Kunstlehrer engagiert und hat Lust auf die eigene Arbeit gehabt und vermittelte gut, dann konnte das einen Kosmos aufmachen. Die Qualität der Pädagogen ist oft ausschlaggebend, ob man sich der Kunst zuwendet oder eben nicht.
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W.K.K.: Die Studierenden beklagten noch vor wenigen Jahren, dass es an qualifiziertem Personal fehle und die Ausstattung in den Werkstätten mangelhaft sei. Dazu kommt, dass die Zahl der Studierenden jährlich steigt. „Der Lack ist ab“ behauptete 2018 Norbert Rademacher, Professor für Bildende Kunst a.D. .Wie beurteilen Sie die aktuelle Situation der Hochschule? Haben Sie eigentlich Gestaltungsspielraum für ein Zukunftsdesign der KHK und wie sähe das aus?
Schmidl: Diesen Teil der KHK bin ich immer noch am Entdecken. Dadurch, dass die Kunsthochschule lange als ein Fachbereich unter anderen behandelt wurde und nicht eigenständig war, war das Generieren von Geldern schwierig. Der Mangel wurde eingeklagt und seit Anfang des Jahres werden wir vom neuen Hessischen Hochschulgesetz nicht nur als teilautonom eingestuft, sondern im Kontext der anderen hessischen Kunsthochschulen als gleichwertig gesehen. Das bedeutet zum Beispiel, dass ich als Rektor jetzt direkt mit Wiesbaden verhandeln kann. Die Politik nimmt uns wahr im Chor der anderen Kunsthochschulen. Wir sind mittlerweile auf einem guten Weg. Die Debatten, die noch meine Vorgänger führen mussten, um diesen Status zu erreichen, waren harte Auseinandersetzungen. Darauf können wir jetzt aufbauen.
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Art changes the future
W.K.K.: Haben Sie denn überhaupt Möglichkeiten, Professoren zu berufen?
Schmidl: Demnächst steht eine Berufung im Bereich Film an, in näherer Zukunft in der Visuellen Kommunikation, Schwerpunkt Comic. Es ist keine große Welle, aber mit jedem einzelnen Schritt arbeiten wir daran, uns neu zu justieren. Wir konnten außerdem gerade die Stelle einer kuratorischen Volontärin für die neue Ausstellungshalle schaffen. Als ich letztes Jahr hier ankam, war gerade diese neue Ausstellungshalle fertig gestellt worden, aber es gab keinen Etat und keine Stelle um sie angemessen zu betreiben. Dabei ist das Inhaltliche kein Problem, weil von den Studierenden und Lehrenden von Beginn an sehr viele Vorschläge kamen, die seit Beginn des Jahres auch realisiert werden. Wir müssen uns jetzt einiges einfallen lassen, um angemessene Bedingungen für diese Ausstellungsvorhaben zu ermöglichen. Nicht nur der Alltagsbetrieb der Halle ist derzeit eine Herausforderung für alle Kolleg:innen, die daran arbeiten, es ist auch schwierig, Kooperationsprojekte umzusetzen, jedenfalls aus den laufenden Mitteln.
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W.K.K.: Ihr Start fällt gleich ins Jahr der documenta fifteen. Reza Afisina und Iswanto Hartono, Mitglieder des Künstler*innenkollektivs ruangrupa, lehren bereits an der KHK. Gibt es weitere gemeinsame Projekte mit der documenta fifteen? Und findet eine regelmäßige Zusammenarbeit mit der documenta auch außerhalb der Ausstellungszeit statt? Waren Sie schon Gast auf anderen documenta-Ausstellungen?
Schmidl: Meine erste documenta war die von Jan Hout, die documenta 9. Seitdem habe ich alle weiteren gesehen. Wir haben aktuell mehrere Projekte in Kooperation mit der documenta fifteen von denen eines von Projekt Art Works einem Kollektiv aus Hastings entwickelt wurde. Sie sind Teilnehmer der documenta und machen mit unseren Studierenden gemeinsam Workshops im Juni bis zum Beginn der documenta und im August, bei denen ihr Konzept der Neurodiversität im Zentrum steht. Neben dieser Art von Kooperationen sind unsere Studierenden von der Vermittlung bis zum Aufbau in fast allen Bereichen der documenta fifteen aktiv. Über das Forschungszentrum TRACES sind wir darüber hinaus langfristig mit dem documenta-Institut verknüpft. Zum Thema Ausstellungsforschung hat Kassel damit das Potential, sich weltweit zu profilieren und Maßstäbe zu setzen. Eine Riesenchance für die Stadt.
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W.K.W.: „Art changes the Future“ ist der Name einer Installation, die Sie 1992 gemeinsam mit Florian Haas erschaffen haben. Kann Kunst tatsächlich die gesellschaftliche Zukunft beeinflussen?
Schmidl: Damals war das eine frühe Form einer Recherchearbeit. Wir haben die Besucher des Museums für Moderne Kunst in Frankfurt, das gerade eröffnet worden war, gefragt, was denn ihr bleibender Eindruck ist, nachdem sie aus dem Museum kamen, und ein englischer Gast sagte „Art changes the future“. Damit war der Titel geboren.
Kunst und Kultur verändert immer etwas, aber die Kunst reagiert auch oft auf gesellschaftliche Veränderungen. Hat Beuys unmittelbar etwas verändert und war er ein typischer Vertreter seiner Zeit oder konnte er auf der Klaviatur spielen, für die die Menschen gerade offen waren? Ich gehe bei Künstlerinnen oder Künstlern nicht davon aus, dass sie etwas tun, was direkt unsere Lebensrealität verändert, sondern sie können unsere Sichtweisen auf Zusammenhänge verändern oder diese überhaupt erst sichtbar machen.
Man darf auch den Wirtschaftsfaktor „Kunst“ nicht vernachlässigen: Es gibt die Überlegung, dass Europa sich irgendwann zum Museum der Welt entwickelt. Der Kunst‑, Gestaltungs- und Kultursektor wird tatsächlich immer wichtiger, auch wenn mir das Wort „Kreativindustrie“ eher zuwider ist. Der stärkste Sektor in Deutschland ist noch der Fahrzeugbau. Aber langfristig schrumpft er, wie der Maschinenbau, im internationalen Kontext immer mehr. Potentiell kommt dann der Kunst, wenn deren Entwicklung stabil bleibt, eine deutlich größere Bedeutung zu.
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W.K.K.: Finden Sie noch Zeit für eigene künstlerische Projekte? Hat sich der Blick von Außen auf Ihre Arbeiten mit der neuen Position verändert und ist es deshalb schwieriger für Sie, diese zu zeigen?
Schmidl: Natürlich mache ich momentan deutlich weniger, nicht nur wegen der vielen Aufgaben, die mit der neuen Position verbunden sind, sondern auch durch die vielen Kontakte zu neuen Kolleginnen und Personen aus der Stadtgesellschaft, die sich gerade in sehr kurzer Zeit ergeben. Aber ich arbeite zum Beispiel seit vier Jahren an einer Installations- und Sammelarbeit die mich wahrscheinlich noch die nächsten zehn Jahre beschäftigt. Sie ist flexibel und kleinteilig. Ich kann Teile davon ausstellen, den derzeitigen Zwischenstand, oder ich arbeite noch über ein paar Jahre in Ruhe daran weiter. Diese Variabilität, wie ich damit umgehe, trägt eine große Freiheit in sich. Parallel publiziere ich demnächst ein Buch, das untersucht, wie in der Presse und in den Kunstwissenschaften Ausstellung analysiert wurden. Daran habe ich in den letzten Jahren gearbeitet und jetzt geht es um die abschließenden Schritte bei der Umsetzung.
In den 1990er Jahren habe ich lange im Kollektiv gearbeitet, deshalb kann ich die kuratorischen Ideen von ruangrupa gut nachvollziehen. Die Vorstellung, gemeinsam als Künstler zu arbeiten und dabei Projekte zu entwickeln, die einen eigenen Kunstzusammenhang behaupten, hatten damals eine ganze Reihe von Leuten. Das stand nach meiner Studienzeit noch etwas schräg zu einem sich extrem dynamisch entwickelnden Kunstmarkt. Ich habe mich nie als einzelnen Künstler gesehen, der sich auch als Geschäftsperson versteht. Das kann ein wunderbares Modell für Künstlerinnen sein, wenn das zu ihrer Arbeitsweise passt. Ich selbst wollte nicht dieses Prozedere haben, ein- oder mehrmals im Jahr eine Ausstellung in einer Galerie zu machen und darauf hin zu produzieren. Das würde meine Arbeitsformen in einer Weise verändern, die mich nicht interessiert. Ausstellungen haben sich für mich immer durch bestimmte Personen ergeben, denen ich begegnet bin, oder über Gruppen mit denen ich gearbeitet habe. Zurück zur diesjährigen documenta: Sie stellt die Frage nach diesem Verhältnis von gemeinsamer und einzelner Aktivität von Künstler:innen, nicht nur bezogen auf das Erstellen von Kunstwerken, sondern auch bezogen auf die Gestaltung der zugrundeliegenden Arbeits- und Lebensbedingungen. Ich bin sehr neugierig was wir zu sehen bekommen und wie wir darüber diskutieren werden.
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W.K.K.: Wir danken ihnen für die Einblicke in ihre Gedankenwelt und wünschen ihnen für ihr weiteres Schaffen alles Gute!
[ Das Interview führten Helmut Plate und Gerrit Bräutigam | Redaktion]
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