Der raumgreifende Werkkomplex „Das Rudel“ in der Neuen Galerie war die allererste Installation von Joseph Beuys, vom Künstler 1969, im Jahre ihres Entstehens als „ein Notfallobjekt, eine Invasion“ während eines „Ausnahmezustands“ bezeichnet. Auch eine Pandemie generiert einen Ausnahmezustand, weshalb dem Kunstwerk aktuell eine zusätzliche Aufmerksamkeit widerfährt. Ist das Rudel gekommen, uns zu retten oder um uns zu überrollen? Je nachdem, von welchem Blickpunkt in dem von Beuys 1976 zur documenta 6 (die auf 1977 verschoben werden musste) eingerichteten Raums aus man die Installation betrachtet, fühlt sich das anders an.
Ende der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts war Joseph Beuys, dessen Skulpturen, Installationen und Aktionen das Gesprächsthema in der internationalen Galeriewelt waren, der König der Kunstwelt. Beuys war überall.
Geist
Alles was er tat, war noch vom Geist des Zweiten Weltkriegs geprägt. Man erzählte sich über ihn, dass er während des Krieges ein Stuka-Pilot gewesen war, dessen Flugzeug über der Krim abgeschossen wurde. Er hätte sterben können, aber ein Stamm nomadischer Tataren rettete ihn. Um ihn in der bitteren Kälte am Leben zu erhalten, rieben sie tierisches Fett in seine Haut und wickelten ihn in Filz ein. Deshalb zeigten so viele seiner bekanntesten Skulpturen so viel Fett und Filz.
Wohnmobil
In seiner Installation „Das Rudel“ mit dem Wohnmobil und der Spur der Schlitten, hat Beuys 1969 Fett und Filz sorgfältig auf jeden Schlitten gepackt, plus eine Taschenlampe.
Sternschnuppe
Auf den ersten Blick sieht es so aus, als folgten die Schlitten dem VW Bus, denn ihre Anordnung wirkt zunächst wie der Verlauf einer Sternschnuppe, eines Kometen. Doch plötzlich registrieren wir, sie bewegen sich auf uns zu, sind auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort, wo immer der auch liegen mag.
DDR
Die Filzrolle, das Stück Fett, die große Taschenlampe — alles wurde auf jedem Schlitten mit Lederriemen festgezurrt. Die Schlitten sind / waren Sportschlitten zum Rodeln aus der damaligen DDR, der VW Bus, der in den 60er und 70er Jahren auch das liebste Reisegefährt von Hippies und Aussteigern war, gehörte dem Berliner Galeristen und Freund von Joseph Beuys, René Block, der damit unter anderem seine Bilder und Objekte durch die Stadt kutschierte.
Leitwolf
Hat man einmal die ‚Laufrichtung‘ der Schlitten bemerkt, stellt man auf den zweiten Blick fest, dass der erste anders bepackt ist. Die Lampe liegt links, der Filz rechts. Er ist der Anführer des Rudels, der Leitwolf. Weit weniger zielstrebig, eher schon ängstlich und zögernd kriecht hingegen der letzte Schlitten aus dem Bus. Jetzt ist das ganze Rudel angekommen und je länger man darauf schaut, desto unheimlicher wirkt es.
Notfallobjekt
Beuys sagte mal über seine Kasseler Installation, sie sei „ein Notfallobjekt, eine Invasion durch das Rudel“, und in einem Ausnahmezustand sei ein Gefährt wie der VW Bus „nur von begrenztem Nutzen. Da müssen archaischere Mittel eingesetzt werden, um das Überleben zu sichern“: Das Rudel!
retten
Auch eine Pandemie generiert einen Ausnahmezustand, weshalb dem Beuys’sche Werk zur Zeit eine ganz besondere Aufmerksamkeit widerfährt. Ist es ein militärischer Aufmarsch? Ist es ein mobiles Lazarett? Sind die Schlitten gekommen, um uns zu retten oder um uns zu überrollen? Je nachdem, von welchem Punkt im Raum aus man die Installation betrachtet, fühlt sie sich anders an.
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Fakten
„Das Rudel“ war die erste raumgreifende Installation von Joseph Heinrich Beuys überhaupt. Zu ihr gehören außer den Schlitten und dem VW Bus noch vier „Kästen“ (O‑Ton Beuys), Vitrinen mit Gegenständen aus unterschiedlichen Werkphasen des Künstlers, und 29 Zeichnungen, die für sein umfangreiches zeichnerisches Frühwerk stehen. Den Werkkomplex hatte seinerzeit der Kunstsammler Jost Herbig angekauft und 1976 der Neuen Galerie als Leihgabe zur Verfügung gestellt. Als Herbig die Installation 1993 verkaufen wollte, war es für alle Verantwortlichen eigentlich selbstverständlich, dass der von Beuys persönlich eingerichtete Raum in der Neuen Galerie verbleiben soll. In engem Zusammenwirken und mit den vereinten finanziellen Kräften der Kulturstiftung der Länder, der Hessischen Kulturstiftung und dem Land Hessen konnte der Komplex für 16 Millionen DM erworben werden.
[Willie Dietzel]
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