BEUYS UND DIE DOCUMENTA

Zwi­schen Vitri­ne und Regal

Von Harald Kimpel

Sehr ver­ehr­te Damen und Her­ren, lie­be Kinder!“

So begann Joseph Beuys 1977 sei­ne satel­li­ten­über­tra­ge­ne Anspra­che zur Eröff­nung der 6., der Medi­en-docu­men­ta in Kas­sel. Und er sprach mit die­ser For­mel nicht nur uns (abwe­sen­de) Kin­der an, son­dern wohl auch sei­ne Künst­ler­kol­le­gen und die Zunft der Aus­stel­lungs­ma­cher: „Kin­der sind wir. Künst­ler. O je“, hat­te ja auch Harald Sze­e­mann zu Beginn der 1970er Jah­ren über sich und sei­ne Kli­en­tel geseufzt.

Als Joseph Beuys die­se Anre­de wähl­te, war er längst zu einer Leit­fi­gur des aktu­el­len Kunst­be­triebs avan­ciert. Und die­se Erfolgs­ge­schich­te ging selbst­ver­ständ­lich nicht ohne Anlauf von­stat­ten, wozu die Kas­se­ler Welt­kunst­aus­stel­lung die Büh­ne berei­te­te. Die Kar­rie­re der docu­men­ta und die des Joseph Beuys sind untrenn­bar mit­ein­an­der ver­floch­ten. Die Sta­tio­nen der Ver­an­stal­tungs­rei­he reprä­sen­tie­ren zugleich Sta­tio­nen im Den­ken und Han­deln des am hef­tigs­ten umstrit­te­nen Reprä­sen­tan­ten der zeit­ge­nös­si­schen Kunst.

Die docu­men­ta – und ihre inter­na­tio­na­le Repu­ta­ti­on – wirk­ten als Kata­ly­sa­tor des Künst­lers – und des­sen inter­na­tio­na­ler Repu­ta­ti­on. Wie die docu­men­ta-Aus­stel­lun­gen sind daher auch die Beuys’schen Bei­trä­ge dazu auf­ein­an­der bezo­gen – bes­ser gesagt: aus­ein­an­der ent­wi­ckelt. Und die­ser sub­ku­ta­ne soll hier im Über­blick dar­ge­stellt werden.

docu­men­ta 3

Am Anfang war die Vitri­ne: ein abge­wetz­tes Second-Hand-Möbel, auf­ge­trie­ben auf einem Dach­bo­den der Stadt Kas­sel, dar­in ein­ge­la­gert selt­sam geform­te Objek­te:
3 Wachs­plas­ti­ken, aus­ge­legt auf Holz­brett­chen, mit bei­gege­be­nem Besteck, wie zum mensch­li­chen Ver­zehr emp­foh­len: „Bie­nen­kö­ni­gin I, II, III“, so der Titel der Expo­na­te, ent­stan­den 1952 und aus­ge­stellt im Muse­um Fri­de­ri­cia­num zur 3. docu­men­ta 1964.
Dies also der ers­te Auf­tritt eines Kunst­pro­fes­sors mit Hut, zu einem Zeit­punkt, zu dem (wie die Akten zei­gen) die Aus­stel­lungs­or­ga­ni­sa­to­ren noch nicht ein­mal sei­nen Namen kor­rekt buch­sta­bie­ren konn­ten. Für die, die ihn kann­ten, wur­den aber bereits an die­ser eher rand­stän­di­gen Anord­nung Leit­prin­zi­pi­en sei­nes indi­vi­du­el­len Kunst­be­griffs sicht­bar: „Wär­me“ und „Käl­te“ als Kate­go­rien der Kunst, die Beschäf­ti­gung mit der Idee des „Bie­nen­staa­tes“, die Pro­duk­ti­on von Wachs und Honig, die Bie­ne als Meta­pher für mensch­li­che Arbeit – Über­le­gun­gen, Sym­bo­le und Mate­ria­li­en also, die in der wei­te­ren Werk­ent­wick­lung des Künst­lers eine ent­schei­den­de Rol­le spie­len soll­ten.
Die Vitri­nen-Prä­sen­ta­ti­on wur­de ergänzt durch eine fla­che zwei­tei­li­ge Metall­skulp­tur (1953) mit dem Titel „SÅFG-SÅUG“ („Son­nen­auf­gang-Son­nen­un­ter­gang“) sowie drei klei­ne Blei­stift­skiz­zen in der Abtei­lung „Hand­zeich­nun­gen“ der Alten Gale­rie (heu­te Neue Galerie).(1)

Arnold Bode hat­te bekannt­lich sei­ne 3. docu­men­ta der For­mel „Muse­um der 100 Tage“ unter­stellt. Und er woll­te mit sei­ner Kunst der Insze­nie­rung exem­pla­risch vor­füh­ren, wie das idea­le Muse­um der Gegen­wart aus­se­hen könn­te. Die Gegen­stän­de, die Joseph Beuys dazu bei­trug, wur­den nun aller­dings unter­ge­bracht in der Abtei­lung „Aspek­te 64“. Unter die­ser Rubrik war ver­sam­melt, was zwar, wie Wer­ner Haft­mann befand, „das künst­le­ri­sche Gesicht unse­rer Zeit“ mit­präg­te, aber sei­nem Dog­ma der fol­ge­rich­ti­gen Ent­wick­lung von einer das Sicht­ba­re abbil­den­den zu einer das Unsicht­ba­re sicht­bar machen­den Kunst nicht so ganz ent­sprach – d.h. beim Weg in die Abs­trak­ti­on als ver­bind­li­che Welt­spra­che eher am Weges­rand lag – oder in der Les­art des Ver­le­gers Lothar Schirm­er: „Das war eigent­lich der Salon des Refu­sés. Dort fand man die Künst­ler, die im Haupt­trakt nicht unter­ge­bracht wer­den konn­ten, weil es im docu­men­ta-Rat kei­ne Mehr­heit gab, die man aber auch nicht weg­schi­cken wollte.“(2)


Zu die­sem eher quer­lie­gen­den Kunst­gut gehör­te also auch der Beuys’sche Bei­trag, so dass von einer über­wäl­ti­gen­den Groß­in­sze­nie­rung, wie sie Bode 1964 mit sei­ner Stra­te­gie „Bild und Skulp­tur im Raum“ beab­sich­tig­te, bei die­sen in der Ecke abge­stell­ten Objek­ten kei­ne Rede sein konn­te. Sym­pto­ma­tisch auch, dass sie zudem noch von zwei unmit­tel­bar dar­über ange­brach­ten, stark­far­bi­gen Gemäl­den Vale­rio Ada­mis visu­ell über­tönt wur­den – eine unver­ständ­li­che, gera­de­zu skan­da­lö­se Maß­nah­me, die – bei aller Beuys-Wür­di­gung und Bode-Ver­eh­rung – noch nie kri­ti­siert wor­den ist.
Kein Wun­der daher, dass der beschei­de­ne Schau­kas­ten und sein Inhalt im Wind­schat­ten auch der Pres­se­be­richt­erstat­tung blei­ben. Die näm­lich kommt über bei­läu­fig-iro­ni­sche Erwäh­nun­gen kaum hin­aus: „Joseph Beuys, Düs­sel­dorf, Leh­rer an der dor­ti­gen Kunst­aka­de­mie, stellt eini­ge rohe Holz­bret­ter aus, auf denen sich eini­ge brau­ne Kleck­se befin­den, die man als Bie­nen­wachs iden­ti­fi­zie­ren kann, wes­halb das Gan­ze den Titel trägt: ‚Bie­nen­kö­ni­gin‘“, befin­det zum Bei­spiel ein Feuil­le­ton der DDR,(3) die bewähr­te Stra­te­gie der Dif­fa­mie­rung durch Mate­ri­al­ben­en­nung auf­grei­fend. Da möch­te die loka­le „Hes­si­sche All­ge­mei­ne“ nicht zurück­ste­hen: Nicht ohne Häme beob­ach­tet sie, dass Beuys der ers­te ist, der bereits am letz­ten Aus­stel­lungs­tag sei­ne Leih­ga­be wie­der an sich nahm: „Er pack­te sei­ne ‚Bie­nen­kö­ni­gin‘ ins Auto und verschwand.“(4)
Noch kann also offen­sicht­lich nie­mand ahnen, dass aus dem Her­stel­ler die­ser Objek­te der bedeu­tends­te nicht nur deut­sche Künst­ler des 20. Jahr­hun­derts wer­den soll­te – und der bei der docu­men­ta am häu­figs­ten, exakt sie­ben Mal, präsente.

docu­men­ta 4

Wur­de 1964 sein docu­men­ta-Bei­trag noch mit weit­ge­hen­der Miss­ach­tung bedacht, ändert sich dies schlag­ar­tig 1968, als sich auch sei­ne Ambi­tio­nen ändern – und zugleich die der docu­men­ta: Für sei­ne vier­te Aus­stel­lung hat Bode näm­lich (obwohl schon weit­ge­hend ent­mach­tet) eine spe­zi­el­le Kunst­gat­tung ein­ge­führt: „Envi­ron­ments“ auch „Ambi­en­tes“ genannt: drei­di­men­sio­na­le, begeh­ba­re Raum­in­sze­nie­run­gen im Gale­rie­ge­bäu­de an der Schö­nen Aus­sicht, die das Publi­kum zum Bestand­teil des Wer­kes machen und den end­gül­ti­gen „Aus­stieg aus dem Tafel­bild“ propagieren.

Und was Beuys nun anbie­tet, ist pass­ge­nau auf die­se inno­va­ti­ve Stra­te­gie am Ende der 1960er-Jah­re zuge­schnit­ten. Es ist der Aus­stieg aus der Vitri­ne in eine „Raum­plas­tik“ (so die offi­zi­el­le Bezeich­nung der Sze­ne­rie), der eine völ­lig neue Kunst­auf­fas­sung zu Grun­de liegt. Das Publi­kum sieht sich gewor­fen in eine beklem­men­de Insze­nie­rung: rät­sel­haf­te Appa­ra­tu­ren in einem Expe­ri­men­tier­saal mit kup­fer­be­schla­ge­nen Tischen und uner­klär­li­chen Gerät­schaf­ten, Rega­le mit iso­lie­ren­den Filz­mat­ten, Kup­fer­stä­be (teils mit Filz umman­telt), eine Holz­kis­te und ande­re Über­bleib­sel frü­he­rer Aktio­nen des Künst­lers – eine Mischung aus Abstell­kam­mer und Frankenstein’schem Labo­ra­to­ri­um, für einen Moment vom Expe­ri­men­ta­tor ver­las­sen, aber noch erfüllt von unkla­rer Erwar­tung und gemisch­te Gefüh­le zwi­schen Unbe­ha­gen und Neu­gier weckend. Die­se „Raum­plas­tik“ ist ein unter Strom ste­hen­des Ambi­en­te, das hin und wie­der bat­te­rie­ge­spei­cher­te Ener­gie abstrahlt und wie eine Sen­de­sta­ti­on wir­ken soll. Als alb­traum­haft wird die Mate­ri­al­an­samm­lung emp­fun­den, Hilf­lo­sig­keit und Aus­weg­lo­sig­keit wer­den ihr zuge­schrie­ben und Kaf­ka liegt als zeit­ge­mä­ße Ver­gleichs­grö­ße nahe. „Atmo­sphä­re“ ist der Schlüs­sel­be­griff der mas­sen­me­dia­len Rezep­ti­on: „Atmo­sphä­re einer Lei­chen­hal­le“ gar, durch­zo­gen vom „Des­in­fek­ti­ons­ge­ruch der Unge­wiss­heit: wird von sol­chen Stät­ten je wie­der Kunst aus­ge­hen können?“(5) fragt sich die Pres­se, als die latent bedroh­lich-geheim­nis­vol­le Stim­mung die­sen Raum erfüll­te und die ihn für alle, die sich ihm aus­setz­ten, so irri­tie­rend machte.

Den Beweis für die emo­tio­na­le Wirk­sam­keit der Insze­nie­rung lie­fern auch erbos­te Besu­cher: Die näm­lich – so heißt es in einem Bericht der Zei­tung „Christ und Welt“ – „demo­lie­ren in einem Raum, des­sen sug­ges­tiv öde Atmo­sphä­re von schein­bar will­kür­lich ange­ord­ne­ten Lat­ten, Filz­de­cken und schwe­ren Kup­fer­ti­schen nur noch unter­stri­chen wur­de, ein­zel­ne die­ser Ver­satz­stü­cke. Sie zei­gen sich außer­stan­de, ohne Gewalt­an­wen­dung die Kon­fron­ta­ti­on mit einer Atmo­sphä­re zu ertra­gen, deren künst­le­ri­scher Sinn in der Tat ohne phi­lo­so­phi­sche, sozio­lo­gi­sche, lite­ra­ri­sche Inter­pre­ta­ti­on nicht ein­zu­se­hen ist. Nur jene begrei­fen sofort, deren Sin­nes­or­ga­ne so über­züch­tet sind, daß sie dem Gehirn auf direk­tem Weg einen unge­wöhn­li­chen Ein­griff mit außer­or­dent­li­chen Mit­teln in das herr­schen­de Kunst- und Kul­tur­be­wusst­sein zu signa­li­sie­ren vermögen.“(6)

Zu denen, deren Sin­nes­or­ga­ne so über­züch­tet nicht sind, dass sie spon­tan in das „visu­el­le Begrei­fen“ kämen, dass Bode stets errei­chen woll­te, gehö­ren nun aber gera­de die­je­ni­gen, die dem aka­de­mi­schen Künst­ler­aus­bil­der beson­ders am Her­zen lie­gen. Es ver­wun­dert näm­lich nicht, dass der Innen­ein­rich­ter die­ses Rau­mes 1968 – auf dem Höhe­punkt des stu­den­ti­schen Pro­tests – in Kon­flikt gerät mit den gleich­falls auf Gesell­schafts­ver­än­de­rung ange­leg­ten For­de­run­gen der Stu­den­ten­be­we­gung, für die er sich an der Kunst­aka­de­mie Düs­sel­dorf und der „Deut­schen Stu­den­ten­par­tei“ stark­ge­macht hat­te. Es ver­steht sich, dass die­se her­me­ti­schen Gebil­de mit den revo­lu­tio­nä­ren Theo­rien und Prak­ti­ken des aka­de­mi­schen Wider­stands nur schwer in Ein­klang zu brin­gen sind.

docu­men­ta 5

Umso deut­li­cher geschieht das dann aber bei der 5. docu­men­ta Harald Sze­e­manns. 1972 geht Beuys näm­lich einen ent­schei­den­den Schritt wei­ter, indem er das Her­stel­len und Vor­zei­gen eines mate­ri­el­len Expo­nats ver­wei­gert. Statt­des­sen betreibt er im Erd­ge­schoss des Fri­de­ri­cianums einen theo­re­ti­schen Übungs­raum: Das „Büro der Orga­ni­sa­ti­on für direk­te Demo­kra­tie durch Volks­ab­stim­mung“, im Jahr zuvor in Düs­sel­dorf gegrün­det, wird nach Kas­sel trans­fe­riert. Dort dis­ku­tiert der Büro­vor­ste­her Tag für Tag wäh­rend der gesam­ten Aus­stel­lungs­lauf­zeit gedul­dig mit dem Publi­kum über Demo­kra­tie, Öko­no­mie, Sozia­lis­mus, Pro­duk­ti­ons­mit­tel und Macht­ver­hält­nis­se – sowie die Ver­än­de­rung von all die­sem. Er stellt sich den Fra­gen und Anwür­fen und ver­sucht, Miss­ver­ständ­nis­sen gegen­über sei­ner Posi­ti­on ent­ge­gen­zu­wir­ken. Sein soge­nann­ter „erwei­ter­ter Kunst­be­griff“ – gefasst (und all­zu oft miss­ver­stan­den) unter der For­mel „Jeder Mensch ein Künst­ler“ – kommt in die­ser Dau­er­de­bat­te zur Ent­fal­tung. Ein radi­kal ver­än­der­tes Ver­ständ­nis des Plas­ti­schen kon­sti­tu­iert sich mit die­sem offe­nen Dis­kus­si­ons­fo­rum. In ihm wird die Frei­heit des Men­schen in Selbst­be­stim­mung zum Leit­mo­tiv erho­ben: zum gesell­schaft­li­chen wie künst­le­ri­schen Pro­duk­ti­ons­mit­tel. Die­se Ent­ma­te­ria­li­sie­rung der Kunst und ihre Ver­la­ge­rung in dis­kur­si­ve Ver­fah­ren sucht die Erwei­te­rung auch des Wis­sen­schafts­be­griffs in einem glei­cher­ma­ßen erwei­ter­ten Kunstbegriff.

Hat­te Beuys zuvor den Aus­stieg aus dem Bild in den Raum prak­ti­ziert, ist es nun der Aus­stieg aus dem Raum – zumin­dest dem tra­di­tio­nel­len Aus­stel­lungs-Raum: in eine Sphä­re des Kom­mu­ni­ka­ti­ven, in der das Gespräch als Kunst, die Dis­kus­si­on als ästhe­ti­sche Pra­xis und das Semi­nar als Krea­ti­vi­tät betrie­ben wird. Bei­spiel­haft wird hier die gemein­schaft­li­che Dau­er­aus­ein­an­der­set­zung als kon­struk­ti­ver Zustand der Gesell­schaft erprobt. Die­se Kunst bil­det nicht, sie redet: Rede­ste­hen als ästhe­ti­sche Pra­xis, Den­ken als Tat.

Genau so hat­te sich Harald Sze­e­mann wohl die – lei­der unver­wirk­lich­te – Ide­al­kon­struk­ti­on sei­ner docu­men­ta vor­ge­stellt, als er Arnold Bodes „Muse­um der 100 Tage“ in ein „100-Tage-Ereig­nis“ umzu­for­men gedach­te.
Stets im Raum prä­sent ist eine täg­lich erneu­er­te rote Rose im Mess­zy­lin­der: „Ohne die Rose tun wir’s nicht, da kön­nen wir gar nicht mehr den­ken“, so das Mot­to. Und selbst­ver­ständ­lich ist auch die­se flo­ra­le Ges­te mehr als nur Deko­ra­ti­on: Sie ver­weist auf Goe­the, auf Rudolph Stei­ner, auf die Rosen­kreu­zer und ande­re rosa­ri­sche Sym­bo­lik. Sie reprä­sen­tiert – als ener­gie­ge­speis­te Pflan­ze – das Prin­zip des orga­ni­schen Wachs­tums (das weni­ge Jah­re spä­ter und an ande­ren Stel­len in Kas­sel monu­men­ta­le­re For­men anneh­men wird), wäh­rend das geeich­te Mess­ge­fäß die Sphä­re des Intel­lekts, des Ratio­na­len, also des apol­li­ni­schen Prin­zips verkörpert.

Als didak­ti­sche Hilfs­mit­tel die­ses Uni­ver­sal­un­ter­richts kom­men die her­kömm­li­chen zum Ein­satz: Schul­ta­feln, die mit ihren Krei­de­zei­chen die Spu­ren der Debat­ten bewah­ren: Dis­kurs-Dia­gram­me, die anschlie­ßend (wie könn­te es anders sein) als eigen­stän­di­ge Kunst­wer­ke in den kunst­markt­li­chen Ver­wer­tungs­kreis­lauf inte­griert wer­den.
Ein­mal aller­dings geht die ver­ba­le Aus­ein­an­der­set­zung in eine hand­fes­te­re über: als sich der Künst­ler – nie klein­lich, wenn es um öffent­li­che Wirk­sam­keit geht – von dem auf­stre­ben­den Jung­künst­ler Abra­ham David Chris­ti­an (zu die­sem Zeit­punkt noch mein Kom­mi­li­to­ne an der Hoch­schu­le für bil­den­de Küns­te) zu einem „Box­kampf für direk­te Demo­kra­tie“ ver­lei­ten lässt. Im benach­bar­ten Raum, dem von Ben Vau­tier, steigt Beuys in den Ring, um sich für sei­ne Idea­le stark zu machen und jen­seits von Theo­rie ein­mal kräf­tig hin­zu­lan­gen. Zu einem K.O. ist es dabei nicht gekom­men, wohl aber zu einem kla­ren Punkt­sieg: Erwar­tungs­ge­mäß ruft Ring­rich­ter Ana­tol Joseph Beuys nach drei Run­den zum Gewin­ner aus. Die direk­te Demo­kra­tie hat über ihren par­la­men­ta­ri­schen Her­aus­for­de­rer triumphiert.

docu­men­ta 6

Wie­der­um eine docu­men­ta spä­ter, 1977, zu Man­fred Schne­cken­bur­gers sog. „Medi­en-docu­men­ta“, lässt sich Joseph Beuys auf eine zwei­glei­si­ge Argu­men­ta­ti­on ein: auf den Pro­zess, zugleich aber auch auf die Instal­la­ti­on. Wie fünf Jah­re zuvor unter­hält er (dies­mal in der Erd­ge­schoss-Halbro­tun­de) ein 100-Tage-Semi­nar. Als unmit­tel­ba­re Fort­set­zung des „Büros für direk­te Demo­kra­tie“ von 1972 betreibt nun die „Freie Inter­na­tio­na­le Hoch­schu­le für Krea­ti­vi­tät und inter­dis­zi­pli­nä­re For­schung“ (FIU) die Öff­nung von Wis­sen­schaft und Den­ken in die all­ge­mein zugäng­li­che Sphä­re des Sozia­len. In einem kol­lek­ti­ven Lehr- und Lern­pro­zess wer­den aktu­el­le The­men aus dem wei­ten Feld von Öko­lo­gie, Öko­no­mie und Tages­po­li­tik ver­han­delt. Erneut wird das dis­kur­si­ve Mit­ein­an­der zum Modell für künst­le­ri­sche Kreativitätsprozesse. 

 

Par­al­lel zu die­ser Dau­er­kon­fe­renz macht die „Honig­pum­pe am Arbeits­platz“ von sich reden. Am tiefs­ten Punkt des Fri­de­ri­cianums, im Unter­ge­schoss der Halbro­tun­de, vom Trep­pen­haus her ein­seh­bar, rotiert eine mit Elek­tro­mo­to­ren ange­trie­be­ne Kup­fer­wel­le lang­sam durch einen Mar­ga­ri­ne­berg: der Arbeits­platz. Gleich­zei­tig durch­zieht von dort aus­ge­hend ein Schlauch- und Röh­ren­sys­tem das Muse­um: die „Honig­pum­pe“. Ver­flüs­sig­ter Lang­ne­se-Honig wird bis unter das Dach des Aus­stel­lungs­ge­bäu­des trans­por­tiert, um anschlie­ßend in Win­dun­gen den Dis­kurs­raum der FIU zu durch­strö­men. In die­sem Kreis­lauf sind Men­schen und The­men durch einen krea­ti­ven Pro­zess mit­ein­an­der ver­bun­den. Sym­bo­lisch voll­zieht sich hier die Bil­dung jener „Sozia­len Plas­tik“, die gemein­hin „die Gesell­schaft“ genannt wird. Die­ser Zir­ku­la­ti­ons­pro­zess ist im Sin­ne des Erfin­ders mit viel­fäl­ti­ger Bedeu­tung auf­ge­la­den: Blut­kreis­lauf und Geld­kreis­lauf, Kapi­tal und Wirt­schafts­wer­te fin­den sich dar­in aufgehoben.

 

Und in die­sem Sys­tem ist auch die docu­men­ta als ein sozia­ler Orga­nis­mus ent­wor­fen, in dem sich die unter­schied­li­chen Kunst­po­si­tio­nen har­mo­nisch zu einer Gesamt­aus­sa­ge ver­bin­den mögen. So ver­söhnt Kunst die Wider­sprü­che in der Gesellschaft. 

Unver­zicht­bar ist die Mit­wir­kung des Künst­lers auch bei der Eröff­nungs­per­for­mance: Zur Satel­li­ten­über­tra­gung aus dem Mit­tel­bau der Oran­ge­rie steu­ert er eine 5‑minütige freie Anspra­che bei („Sehr ver­ehr­te Damen und Her­ren, lie­be Kin­der!“) – selbst­ver­ständ­lich zum The­ma „Kunst als sozia­ler Orga­nis­mus“ bzw. umge­kehrt. Wie er da – neben Nam June Paik (dem Video-Destruk­teur), Char­lot­te Moor­man (der Cel­lo-Vir­tuo­sin) und Dou­glas Davis (dem Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­ma­gi­er) – sei­ne Kunst-Welt-Anschau­ung dem (abwe­sen­den) Publi­kum vor­trägt, ist der „filz­hü­ti­ge Mythen­be­schwö­rer“ (als wel­chen ihn der „Spie­gel“ titu­lier­te) bereits selbst zum Mythos gewor­den. Wäh­rend aber sei­ne Künst­ler­kol­le­gen jeweils ihr zum Mar­ken­zei­chen aus­ge­bau­tes Equip­ment nach Kräf­ten stra­pa­zie­ren, ver­zich­tet Beuys auf tech­ni­sche Appa­ra­tu­ren und ver­lässt sich ganz auf die aura­ti­sche Wir­kung sei­ner phy­si­schen Prä­senz und der des Wor­tes: Spre­chen als Skulptur. 


Und was bei der 5. docu­men­ta der Box­kampf war, ist zur 6. das Fuß­ball­spiel. Auf der Hes­sen­kampf­bahn hin­ter der Oran­ge­rie tre­ten am 14. Sep­tem­ber an: „Dyna­mo d6“ (Mit­ar­bei­ter und Künst­ler) gegen „Sta­vo-Kickers“ (eine Stadt­ver­ord­ne­ten­aus­wahl). Dies­mal hält sich Beuys aber aus dem Kampf­ge­sche­hen her­aus: Als Tor­wart ver­sucht er für sei­ne Künst­ler-Elf das Schlimms­te zu verhindern. 

docu­men­ta 7 

Kunst in Grund und Boden

Hielt sich Beuys 1977 noch weit­ge­hend im Muse­ums­in­ne­ren auf, hält es ihn 1982 nicht mehr dort. Zur docu­men­ta 7 des Rudi Fuchs prak­ti­ziert er den Aus­tritt aus dem Muse­um – und ver­schafft die­ser docu­men­ta, die mit ihrem erklärten Rückzug in die Schutz­zo­ne des Musen­tem­pels mit dem öffentlichen Stadt­raum nur wenig anzu­fan­gen weiß, eben dort das aus­ge­dehn­tes­te Expo­nat der docu­men­ta-Geschich­te: „7000 Eichen – Stadt­ver­wal­dung statt Stadt­ver­wal­tung“, das leben­di­ge Geschenk an die Stadt Kas­sel und die in ihr Leben­den, das mit sei­ner Dyna­mik bis heu­te die Stadt­ge­sell­schaft beschäftigt. Aus­ge­rech­net die­je­ni­ge docu­men­ta also, die es programmgemäß dar­auf anlegt, sich selbst und die Kunst „von den ver­schie­de­nen Zwängen und gesell­schaft­li­chen Ver­dre­hun­gen zu befrei­en, in die sie ver­strickt ist“, bekommt es mit einem Werk zu tun, das sich zutiefst in gesell­schaft­li­che Verhältnisse ein­wur­zelt. Denn der gewach­se­ne und wei­ter wach­sen­de ästhetische Orga­nis­mus greift – wie kein ande­res Kunst­werk welt­weit – auf unmit­tel­bar verständliche Wei­se radi­kal und nach­hal­tig in die visu­el­le, ökologische und sozia­le Struk­tur des urba­nen Lebens­raums der docu­men­ta-Stadt ein.

7000 Eichen PLakatwand

Während sei­ner sich hin­zie­hen­den Ent­ste­hungs­pha­se besitzt das Pro­jekt zunächst einen skulp­tu­ra­len Zustand – wenn­gleich einen von dyna­mi­schem Cha­rak­ter. Unmit­tel­bar vor dem Fri­de­ri­cia­num wird das Stein­de­pot ein­ge­rich­tet. Die keilförmige Abla­ge­rung von 7000 Basalt­s­te­len, mit Ori­en­tie­rung auf den Haupt­ein­gang des Muse­ums und die 1. Pflan­zung, kann nur dadurch abge­tra­gen wer­den, dass Stück für Stück im Stadt­ge­biet ein Baum gesetzt und von sei­nem stei­ner­nen Beglei­ter schützend ankiert wird. Wie jedes Kunst­ob­jekt, das im öffentlichen Raum dau­er­haf­te Präsenz bean­sprucht, ist auch die­ses der Beur­tei­lung eines erwei­ter­ten Publi­kums aus­ge­setzt: eines, das sei­ne urba­ne Umwelt mehr­heit­lich nach ande­ren als künstlerischen Kri­te­ri­en bemisst. Die 7000 ent­ste­hen, wach­sen und überdauern daher im Span­nungs­feld von dank­ba­rer Bewun­de­rung und verständnisloser Ableh­nung. Bei letz­te­rer können die einen zwar das Bäume pflan­zen als ökologisch sinn­vol­le Maß­nah­me (und not­falls als Kunst) akzep­tie­ren, ver­wei­sen aber die zugehörigen Stei­ne des Ansto­ßes in den Bereich des lebensgefährdenden Unsinns; ande­re können sich mit den Basalt­en arran­gie­ren, sehen aber in den Bäumen Dreck­schleu­dern und Parkraumvernichter.

Die­se Ambi­va­lenz der Bewer­tung trifft denn auch auf eine auf­se­hen­er­re­gen­de Akti­on zu, mit der der Künstler selbst wesent­lich zur Finan­zie­rung sei­nes kost­spie­li­gen Lang­zeit­vor­ha­bens beiträgt: auf die Pro­duk­ti­on des sog. „Frie­dens­ha­sen“ – auch als „Kro­nen­schmel­ze“ in die docu­men­ta-Geschich­te ein­ge­gan­gen. Unter Applaus, aber auch hef­ti­gen Pro­test­be­kun­dun­gen der Öffentlichkeit trans­for­miert Beuys eine (gestif­te­te) Kopie der Zaren­kro­ne Iwans des Schreck­li­chen in ein hasenförmiges Frie­dens­zei­chen. Auf einer hölzernen Platt­form, wie ein Scha­fott vor dem Fri­de­ri­cia­num errich­tet, macht sich der Künstler an die Trans­mu­ta­ti­on (um nicht zu sagen: Tran­sub­stan­tia­ti­on) jenes Herr­schafts­zei­chens, das ihm als Sym­bol von Macht, von Aus­beu­tung und Unterdrückung gilt – aller­dings ein längst ent­zau­ber­tes, war es doch zuvor in einer Düsseldorfer Knei­pe schon jah­re­lang als Trinkgefäß zweck­ent­frem­det wor­den. Beuys exe­ku­tiert die­se Kro­ne, um sie in alche­mis­tisch ver­wan­del­tem Zustand der joh­len­den Men­ge zu präsentieren – wie das Haupt eines Geköpften während der Französischen Revolution.

Auf die kom­ple­xe Rol­le des Hasen, der im Rah­men der sym­bo­li­schen Mena­ge­rie des Künstlers sein Gesamt­werk durchläuft – zwi­schen Alter Ego und Unsterb­lich­keits­zei­chen – kann hier nicht wei­ter ein­ge­gan­gen wer­den. Für den Kas­se­ler Kon­text möge ein Satz von Veit Loers genügen: „Der Hase, im beuys­schen Dia­gramm oft stell­ver­tre­tend für die hori­zon­ta­len Kräfte und in Ver­bin­dung mit Mine­ral, Pflan­ze und Mensch, opfert sich und hält mit sei­nem Blut das Kreis­lauf­sys­tem in Gang, das in sei­nem Tod-Auf­er­ste­hungs-Zyklus auch den neu­en Men­schen meint.“

Immer­hin erbringt der spektakuläre Open-Air-Auf­tritt 777.000 DM zuguns­ten der Pflan­zung. Während der docu­men­ta 7 in einer Art impro­vi­sier­tem Wand­tre­sor – zusam­men mit den zuvor sorg­sam aus­ge­bro­che­nen Juwe­len und einer sog. Son­nen­ku­gel als Neben­pro­dukt – im Fri­de­ri­cia­num präsentiert, ist das Werk heu­te in der Staats­ga­le­rie Stutt­gart zu besichtigen.

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Joseph Beuys fügt mit die­ser Demons­tra­ti­on den Zumu­tun­gen sei­nes Kunst­be­griffs eine wei­te­re hin­zu: War es für brei­te Krei­se der Kas­se­ler Öffentlichkeit anstren­gend genug, Bäume, Basalt und das Pflan­zen von bei­dem mit Kunst in Ver­bin­dung zu brin­gen, glaubt es ihm nun auch noch Kunst­ver­nich­tung vor­wer­fen zu müssen.

Ich wer­de 7000 Bäume pflan­zen“: Die­ses ver­we­ge­ne Ver­spre­chen des Künstlers an die docu­men­ta und die docu­men­ta-Stadt war nun frei­lich leich­ter gesagt als getan. Es zeig­te sich rasch, dass ein Künstler nun eben doch kein Gärtner und ein Spe­zia­list für ästhetische Belan­ge kein Uni­ver­sal­ge­lehr­ter ist. So hat Beuys man­cher­lei unterschätzt: unter ande­rem den Umstand, dass unter­halb der ober­ir­disch sicht­ba­ren Stadt eine unsicht­ba­re exis­tiert, deren sub­ter­ra­ne Ver­sor­gungs­struk­tu­ren es unmöglich machen, an jedem Punkt der Stadt, an dem es ange­bracht zu sein scheint, ein Loch zu gra­ben und einen Baum zu implantieren.

 

Maerz

Die Fol­ge: eine kom­pli­zier­te Stand­ort­fin­dung im Zusam­men­spiel zwi­schen dem Wünschenswerten, den topo­gra schen Bedin­gun­gen und den behördlichen Vor­ga­ben. Nur Fach­leu­ten bewusst war wohl auch die Tat­sa­che, dass es sich bei der Eiche um ein Gewächs han­delt, das eine beson­de­re Boden­be­schaf­fen­heit ver­langt, die nicht überall garan­tiert wer­den kann. Die Fol­ge: zahl­rei­che ande­re Baum­ar­ten müssen als Ersatz zum Ein­satz kom­men. Durch­aus vor­her­seh­bar war hin­ge­gen, dass eine Stadt selbst ein leben­di­ger Orga­nis­mus ist, der nicht an 7000 Punk­ten dau­er­haft in sei­ner Ent­wick­lung fest­ge­schraubt wer­den kann. Die Fol­ge: eine Flexibilität im Umgang mit dem ora­len Erbe, mit der auf lei­di­ge so genann­te „Sachzwänge“ der kom­mu­na­len Ent­wick­lung krea­tiv reagiert wer­den muss. Allen Widerständen zum Trotz ver­wur­zelt sich seit 1982 ein Kunst­werk im Kas­se­ler Boden, das sich auch dadurch von der Mehr­zahl der ande­ren unter­schei­det, dass es per­ma­nen­ter Zuwen­dung bedarf. Sein Zustan­de­kom­men wie auch sein wei­te­res Überleben ist nicht nur ange­wie­sen auf die dau­er­haf­te Sym­pa­thie der Beschenk­ten, son­dern auch einer Instanz, gegen die es sich bereits in sei­nem Titel wen­det: der Stadt­ver­wal­tung. Das betreu­te Wach­sen voll­zieht sich über fünf Jah­re hin­weg tech­nisch und finan­zi­ell mit Hil­fe eines „Koordinationsbüros“ im kol­lek­ti­ven Kraft­akt einer kon­zer­tier­ten Akti­on aus Pri­vat­in­itia­ti­ven und öffentlichem Enga­ge­ment. Inzwi­schen unter Denk­mal­schutz ste­hend, ist es heu­te in der Obhut der „Stif­tung 7000 Eichen“.

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Den Abschluss des Groß­pro­jekts kann sein Initia­tor nicht mehr erle­ben, so wenig wie die Erfüllung sei­ner gro­ßen Uto­pie des Auf­ge­hens der Gesell­schaft in Kunst – und umge­kehrt. Doch ist für Nach­wuchs gesorgt: Nach sei­nem Tod 1986 pflanzt 1987 sein Sohn Wen­zel die letz­te Eiche neben die 1. vor das Fri­de­ri­cia­num der 8. documenta.

docu­men­ta 8

Wer nun glaub­te, dass damit der Aus­stel­lungs­rei­he ihr jahr­zehn­te­lan­ges Flagg­schiff abhan­den­ge­kom­men sei, irr­te sich: Zur docu­men­ta 8 ist näm­lich Beuys erneut und unüber­seh­bar prä­sent. Man­fred Schne­cken­bur­gers Aus­stel­lung, die 1987 „neue his­to­ri­sche und sozia­le Dimen­sio­nen“ in der Kunst ent­deckt, die Krieg, Gewalt und kol­lek­ti­ve wie indi­vi­du­el­le Bedro­hung zum The­ma der Zeit erhebt und unter dem Schlag­wort des „Uto­pie­ver­lus­tes“ antritt, zeigt post­hum ein Werk mit End­zeit-Cha­rak­ter: „Blitz­schlag mit Licht­schein auf Hirsch“, so der Titel der Groß­in­stal­la­ti­on im Zen­tral­raum des Fri­de­ri­cianums (dem ein­zi­gen Raum im Haus, der nach dem pre­kä­ren Umbau noch die frü­he­re Dop­pel­ge­schos­sig­keit auf­weist). Die Insze­nie­rung for­mu­liert das erstaun­lich pes­si­mis­ti­sche Ver­mächt­nis jenes Künst­lers, der doch zeit­le­bens mit revol­tio­nä­rem Hoff­nungs­po­ten­zi­al agiert und agi­tiert hat. Der „Blitz­schlag“, ein gewal­ti­ger Bron­ze­keil, kommt von oben über eine Land­schaft, die besie­delt ist von gleich­falls im Bron­ze- und Alu­mi­ni­um­guss gestock­ten Lebe­we­sen: Hirsch und Zie­ge. Am Boden ver­krümmt eini­ge „Urtie­re“ (wie Beuys sie nennt): ver­se­hen mit rudi­men­tä­ren Werk­zeug-Fort­sät­zen: aber kein Werk­zeug­kas­ten für eine tech­nisch ori­en­tier­te Zukunft, eher für die Demon­ta­ge jeg­li­cher Per­spek­ti­ve. Die Evo­lu­ti­on scheint abge­ris­sen, ein Neu­start aus­ge­schlos­sen: So schnell wird sich hier nichts mehr zu einer neu­en Kro­ne der Schöp­fung aufschwingen… 

Der Bron­ze­keil wur­de gewon­nen als Abguss eines Seg­ments jenes Ber­ges aus Lehm – dem Stoff, aus dem das Leben wie die Kunst ist –, den Beuys zur Aus­stel­lung „Zeit­geist“ im Ber­li­ner Mar­tin-Gro­pi­us-Bau 1982 auf­schüt­ten ließ. 

In vor­der­grün­di­ger Sicht ist die­ser Licht­blitz, der sei­ne Ener­gie über eine schat­ten­lo­se Welt aus­schüt­tet, jener ato­ma­re Blitz, des­sen per­ma­nen­te Mög­lich­keit (dem Zeit­geist der spä­ten 1980er Jah­re ange­mes­sen) sich bei der docu­men­ta 8 viel­fäl­tig the­ma­ti­siert findet. 

Doch über die kon­kre­te Tages­ak­tua­li­tät hin­aus arti­ku­liert sich hier eine End­zeit­vi­si­on von beängs­ti­gen­der Aus­weg­lo­sig­keit, in der die Hoff­nung auf die ver­än­dern­de Wir­kung künst­le­ri­schen Han­dels einer fun­da­men­ta­len Skep­sis Platz gemacht hat: (Welt-)Geschichte am Ende ihrer Mög­lich­kei­ten, eine zeit­ge­mä­ße Varia­ti­on der geschei­ter­ten Hoff­nung – doch ohne deutsch/romantische Grundierung. 

Doch damit nicht genug: Zu die­sem Zeit­punkt sind Beuys und sein Mythos längst selbst zum Gegen­stand von Kunst gewor­den: In der Video-Instal­la­ti­on „Beuys-Voice“ lie­fert Nam June Paik, der bis dato alles (wirk­lich alles) ange­stellt hat, was man mit dem Medi­um Fern­se­hen anstel­len kann, mit 50 Moni­to­ren in Bild und Ton eine monu­men­ta­le Hom­mage an den jüngst Ver­stor­be­nen: ein pyra­mi­da­ler Kenotaph aus akus­ti­scher und visu­el­ler Prä­senz – aus­ge­rech­net in jenem tech­ni­schen Medi­um, dem Beuys stets miss­trau­isch gegen­über­stand. Wie ein Echo aus frü­he­ren Tagen, als die Welt noch ver­än­der­bar schien, durch­zieht nun die Hal­len die Stim­me – und der Geist – des­je­ni­gen, der bis vor kur­zem hier umge­gan­gen ist.

docu­men­ta 9

Am Anfang war die Vitri­ne – und am Ende steht das Regal. Im Zweh­ren­turm am Muse­um Fri­de­ri­cia­num rich­tet Jan Hoet 1992 bei sei­ner docu­men­ta 9 in drei über­ein­an­der lie­gen­den Räu­men das „Kol­lek­ti­ve Gedächt­nis“ ein. In einer Wal­hal­la mit den vom künst­le­ri­schen Lei­ter favo­ri­sier­ten Kul­tur­hel­den sol­len dort die Aus­wahl- und Qua­li­täts­kri­te­ri­en der Aus­stel­lung ver­deut­licht wer­den. Exem­pla­ri­sche Wer­ke von 8 Künst­lern der letz­ten 200 Jah­re (u.a. Jac­ques Lou­is David, Paul Gau­gu­in, Alber­to Gia­co­metti) wer­den auf­ge­bo­ten, um das von der Aus­stel­lung erzeug­te Bild der Gegen­wart naht­los aus der Ver­gan­gen­heit abzu­lei­ten. Die­se Heroen­aus­wahl ist eine Vari­an­te jener Idee des „his­to­ri­schen Vor­spanns“, mit der die frü­hen docu­men­ta-Ver­an­stal­ter ihre aktu­el­le Werk­aus­wahl nach rück­wärts abzu­si­chern suchten. 

Und die­se Rol­le der kunst­his­to­ri­schen Legi­ti­ma­ti­on ist nun auch Joseph Beuys zuge­wie­sen wor­den: auch er ein­ge­gan­gen in das gemein­schaft­li­che Gedächt­nis einer kul­tu­rell inter­es­sier­ten Mensch­heit. Er ist dort prä­sent mit der Instal­la­ti­on „Wirt­schafts­wer­te“: einem schlich­ten Regal, karg bestückt mit Lebens­mit­teln aus der DDR, ent­stan­den 1980, eine Leih­ga­be aus Jan Hoets Muse­um für Zeit­ge­nös­si­sche Kunst in Gent. Auf‑, aus- und abge­stellt sind Grund­nah­rungs­mit­tel aus einem HO-Laden in Ost-Ber­lin, deren Schmuck­lo­sig­keit gemein­hin gleich­ge­setzt wird mit der Man­gel­wirt­schaft im real exis­tie­ren­den Sozia­lis­mus. „Wirt­schafts­wer­te“ for­mu­liert die Dis­kre­panz zwi­schen der visu­el­len Krea­ti­vi­tät der kapi­ta­lis­ti­schen Über­fluss-Pro­duk­ti­on mit der Schein­haf­tig­keit ihrer Waren­äs­the­tik und dem sozia­lis­ti­schen Wirt­schafts­sys­tems mit sei­ner Reduk­ti­on auf die Grund­be­dürf­nis­se des täg­li­chen Lebens. Für die docu­men­ta 9 wird also das Regal zum zen­tra­len Sym­bol für Joseph Beuys: jenes Instru­ment der Ord­nungs­stif­tung, der Sys­te­ma­ti­sie­rung, der Dif­fe­ren­zie­rung, aber auch der Abla­ge von nicht mehr Benötigtem. 

Bei sei­nem Wie­der­ein­tritt in den musea­len Schutz­raum wird nun aber dem Star der Welt­kunst­aus­stel­lun­gen dort so wenig Auf­merk­sam­keit zuteil wie bei sei­nem 1. Auf­tritt 3 Jahr­zehn­te zuvor. Es exis­tiert nicht ein­mal eine geeig­ne­te Abbil­dung der Kas­se­ler Installation. 

Wenn es noch eines wei­te­ren Bewei­ses für die musea­li­sier­te Still­le­gung des frü­he­ren Bewe­gers bedarf, fin­det er sich in Guil­laume Bijls Bei­trag „Histo­ry of docu­men­ta“. Denn inzwi­schen sind nicht nur sei­ne Wer­ke, son­dern ist der Künst­ler selbst als Expo­nat in die Vitri­ne ein­ge­gan­gen. In der Insze­nie­rung des bel­gi­schen docu­men­ta-Teil­neh­mers sehen wir Joseph Beuys (der, wie Jan Hoet sagt, „als Figur ein Prin­zip gewor­den ist“), her­bei­zi­tiert als Aus­stel­lungs­stück im Außen­schau­fens­ter des Mode­hau­ses am Fried­richs­platz. Neben Grün­der-Ehe­paar Bode und dem jüngs­ten Spross Jan Hoet erstarrt im Wachs­fi­gu­ren­ka­bi­nett einer sakro­sank­ten docu­men­ta-Geschich­te: eine sta­ti­sche Schau­fens­ter­pup­pe, zum Expo­nat geron­ne­ner, ver­stumm­ter Zeu­ge sei­ner eins­ti­gen Bedeu­tung, als Schau­ob­jekt im Käfig hin­ter Schnee­witt­chen-Glas dem anti­qua­ri­schen Inter­es­se aus­ge­lie­fert. Weit und breit kein (Kron-)Prinz in Sicht, der ihn befreien/beerben könn­te. Der eins­ti­ge Motor des docu­men­ta-Gesche­hens ist (lan­ge bevor er in Ber­lin dau­er­haft bei Madame Tus­s­auds ein­fährt) der His­to­ri­sie­rung anheim­ge­fal­len, ohne dass ihm noch eine akti­ve Wir­kung auf die Gegen­wart zuzu­trau­en wäre. Das Wachs, mit dem er 1964 erst­mals die docu­men­ta-Büh­ne betrat, wen­det sich schließ­lich gegen ihn selbst. 

Dies­mal ist der Box­kampf also anders aus­ge­gan­gen: Gewon­nen hat beim Kampf um die Kunst nicht der Künst­ler-Vete­ran, son­dern der Auch-Boxer Jan Hoet. 

So hat die docu­men­ta also ihren Heros nicht nur jahr­zehn­te­lang pro­te­giert, son­dern am Ende zugleich unschäd­lich gemacht. Da ist denn der wir­kungs­reichs­te deut­sche Künst­ler des 20. Jahr­hun­derts gera­de­wegs vom Muse­um auf­ge­bro­chen, um drau­ßen die Gesell­schaft zu ver­än­dern, nur damit aus heu­ti­ger Sicht fest­ge­stellt wer­den muss, dass er ledig­lich um das docu­men­ta-Gebäu­de her­um­ge­gan­gen ist. Durch die Hin­ter­tür wur­de er wie­der ein­ge­schleust, his­to­risch ver­ein­nahmt, und die klas­si­schen Kunst­kri­te­ri­en haben sich sei­ner wie­der bemäch­tigt. Die drei Jahr­zehn­te dau­ern­de Exkur­si­on aus dem Musen­tem­pel endet mit der Wie­der­ein­glie­de­rung in des­sen Ord­nungs­struk­tu­ren – wäh­rend­des­sen aber drau­ßen das Baum-Kunst­werk wei­ter wuchert… 

© Fotos: documenta-Archiv

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