Antisemitismus-Vorwürfe
documenta fifteen
Klärungen im Deutschlandfunk
Fern-Interview des Deutschlandfunk mit Bayu Widodo vom indonesischen Künstler- und Aktivistenkollektiv Taring Padi, welches ihr Bild vor zwanzig Jahren für Prosteste gegen Kolonialismus, Kapitalismus und Diktatur gemalt hat.
YouTube: Deutschlandfunk — Kultur heute | Jörg Biesler | 24.06.2022 | 04:30
“Was wir damit repräsentieren wollten ist der Staat Israel, nicht die jüdische Nation oder das jüdische Volk” — Bayu Widodo vom Künstlerkollektiv Taring Padi über die antisemistische Arbeit „People’s Justice“ auf der documenta fifteen.
Bayu Widodo vom Künstlerkollektiv Taring Padi bedauert im Dlf die antisemistische Arbeit „People’s Justice“ auf der documenta gezeigt zu haben: “Unser Verständnis ist, dass der Staat Israel nicht dasselbe ist, wie die jüdische Religion. Als dieses Werk vor 20 Jahren entstanden ist, haben wir die Sensibilität und Komplexität nicht verstanden.“
Reaktionen
16.09.2022
Gemeinsame Erklärung des Aufsichtsrates und der Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Der Aufsichtsrat und die Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, das Land Hessen und die Stadt Kassel, danken der Fachwissenschaftlichen Begleitung, die die Gesellschafter der documenta zur Aufarbeitung antisemitischer Vorkommnisse auf der documenta fifteen eingesetzt haben, für ihre erste Analyse und die bis hierhin geleistete Arbeit. Die Gesellschafter schließen sich dem Votum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, wonach die Tokyo Reels des Kollektivs Subversive Films nicht mehr gezeigt werden sollen, mindestens bis eine angemessene Kontextualisierung vorgenommen wurde. Die aktuelle Kommentierung der Filme ist dazu nicht geeignet, da sie die teils antisemitischen und terroristische Gewalt verherrlichenden Propagandafilme gerade nicht historisch einordnet.
Die Freiheit der Kunst ist ein hohes Gut und die exklusive künstlerische Verantwortung der documenta fifteen liegt bei ruangrupa. Die Kuratorinnen und Kuratoren weigern sich jedoch, die damit verbundene Verantwortung wahrzunehmen oder in eine selbstkritische Reflexion der Ereignisse zu gehen. Sie werfen im Gegenteil dem wissenschaftlich breit aufgestellten und renommierten Fachwissenschaftlichen Gremium mit seiner interdisziplinären Expertise Rassismus und Unwissenschaftlichkeit vor. Diese Vorwürfe weisen wir auf das Schärfste zurück.
Wir bedauern und kritisieren, dass die Künstlerische Leitung entgegen der Beratung durch die Fachwissenschaftliche Begleitung und dringliche Empfehlung durch die Gesellschafter auf die Fortsetzung der Vorführung der Tokyo Reels des Kollektivs Subversive Films besteht, ohne dass eine kritische Einordnung der antisemitischen und gewaltverherrlichenden Inhalte erfolgt. Der Aufsichtsrat und die Gesellschafter betrachten es als notwendig, dass den Besucherinnen und Besuchern der documenta eine solche Einordnung zur Verfügung gestellt wird. Wir bitten deshalb die Künstlerische Leitung, die einhellige Einschätzung der Fachwissenschaftlichen Begleitung in der Ausstellung ergänzend zur eigenen Kontextualisierung sichtbar zu machen. Alternativ behalten sich die Gesellschafter vor, diese Informationen außerhalb der Ausstellungsräume im Öffentlichen Raum am Zugang zu den Vorführungsorten für die Besucherinnen und Besucher zur Verfügung zu stellen.
15.9.2022
Statement der Findungskommission
Pressemeldung documenta fifteen
Die Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta fifteen drückt ihre Unterstützung für die jüngste Stellungnahme von ruangrupa, der lumbung member und der teilnehmenden Künstler*innen aus. Der von Medien und Politiker*innen auf das gesamte Team der documenta fifteen ausgeübte Druck ist unerträglich geworden. Mit dieser Stellungnahme wollen wir ihre harte Arbeit und außerordentliches Engagement verteidigen.
Wir lehnen Antisemitismus ebenso ab wie dessen derzeitige Instrumentalisierung, die der Abwehr von Kritik am Staat Israel und seiner derzeitigen Besetzungspolitik palästinensischer Gebiete dient. Gleichzeitig begrüßen wir den Pluralismus der documenta fifteen und die Möglichkeit, erstmals eine solche Vielfalt künstlerischer Stimmen aus der gesamten Welt zu hören. Wir verteidigen das Recht der Künstler*innen, politische Formeln und festgefahrene Denkmuster zu untersuchen, bloßzulegen und zu kritisieren. Dieses Recht sollte auch von jenen wertgeschätzt werden, die Ausstellungen wie die documenta fifteen ermöglichen.
Wie auch schon während der gesamten Phase der Entwicklung und Realisierung der Ausstellung stehen wir ungebrochen hinter unserer Entscheidung, ruangrupa für die Künstlerische Leitung der documenta fifteen ausgewählt zu haben. Wir respektieren und schätzen die hunderttausende an Besucher*innen, die die Ausstellung gesehen haben. Auch ihre Stimmen sollten gehört werden. Wir möchten den teilnehmenden Künstler*innen unsere Anerkennung dafür aussprechen, dass sie trotz Angriffen auf ihre Integrität den lumbung-Prinzipien treu geblieben sind. Wir fordern daher den Aufsichtsrat dazu auf, sicherzustellen, dass die documenta fifteen bis zum geplanten Ende der Ausstellung vollumfänglich geöffnet bleiben kann. Dies nicht zu tun und sich damit politischer Einflussnahme zu beugen, wäre ein historisches Versäumnis.
Die Findungskommission:
Amar Kanwar, Charles Esche, Elvira Dyangani Ose, France Morris, Gabi Ngcobo, Jochen Volz, Philippe Pirotte, Ute Meta Bauer
13.09.2022
Stellungnahme der Gesellschafter der documenta gGmbH
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Die Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, das Land Hessen und die Stadt Kassel, danken der Fachwissenschaftlichen Begleitung, die die Gesellschafter der documenta zur Aufarbeitung antisemitischer Vorkommnisse auf der documenta fifteen eingesetzt haben, für ihre erste Analyse und die bis hierhin geleistete Arbeit.
Die Gesellschafter schließen sich dem Votum der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler an, wonach die Tokyo Reels des Kollektivs Subversive Film nicht mehr gezeigt werden sollen, mindestens bis eine angemessene Kontextualisierung vorgenommen wurde. Die aktuelle Kommentierung der Filme ist dazu nicht geeignet, da sie die teils antisemitischen und terroristische Gewalt verherrlichenden Propagandafilme gerade nicht historisch einordnet.
10.09.2022
Presseerklärung des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Die Gesellschafter der documenta gGmbH haben uns als Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung eingesetzt, um als antisemitisch identifizierte bzw. diskutierte Werke zu analysieren, den Umgang der documenta fifteen mit antisemitischen Vorfällen zu untersuchen und Vorschläge zu entwickeln, wie ähnliche Vorgänge künftig zu verhindern sind. Aufgrund der anhaltenden Auseinandersetzungen zu einzelnen Exponaten besteht noch während der laufenden Ausstellung eine besondere Dringlichkeit für die Beratung zum Umgang mit konkreten problematisierten Werken. Daher haben wir den Gesellschaftern bereits jetzt eine erste Einschätzung des Gremiums zu dieser Frage vorgelegt. Diese bezieht sich auf ein Werk, bezüglich dessen innerhalb des Gremiums ein Konsens herrscht, dass sofortiger Handlungsbedarf besteht. Vertiefende Analysen zu den Organisationsstrukturen der documenta, zur kuratorischen Verantwortung der künstlerischen Leitung und zu weiteren Werken erfolgen zu einem späteren Zeitpunkt.
Auf der Ebene der ausgestellten Werke ist es aus Sicht des Gremiums die dringlichste Aufgabe, die Vorführung der unter dem Namen „Tokyo Reels Film Festival“ gezeigten Kompilation von pro-palästinensischen Propagandafilmen aus den 1960er-1980er des Kollektivs „Subversive Film“ zu stoppen. Hoch problematisch an diesem Werk sind nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren. Das historische Propagandamaterial wird nicht – wie es ohne Zweifel geboten wäre – kritisch reflektiert, sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert. Dadurch stellen die Filme in ihrer potentiell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk „People’s Justice“. Viele der Filme präsentieren Israel und seine Streitkräfte ausschließlich als Täter:innen, die gezielt Zivilist:innen, insbesondere Frauen und Kinder, angreifen. Im Kontrast dazu wird die palästinensische Seite als unschuldig und wehrlos dargestellt. Die wiederholten Terroranschläge gegen israelische Zivilist:innen werden hier – wie in der gesamten Ausstellung – ebenso wenig erwähnt wie die Tatsache, dass Israel regelmäßig von den Armeen Syriens, Jordaniens und Ägyptens angegriffen worden ist. Darüber hinaus schlägt die einseitig negative Darstellung Israels mehrfach in offenen Antisemitismus um. Um nur ein Beispiel zu nennen: Israel wird ein „faschistischer“ Charakter vorgeworfen und unterstellt, einen „Genozid“ an den Palästinensern zu betreiben – es wird dadurch mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichgesetzt. Eine solche Gleichsetzung der israelischen Politik mit der der Nationalsozialisten ist etwa nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, die von vielen Nationen, darunter auch einigen Ländern des Globalen Südens, übernommen wurde, als antisemitisch zu bewerten. Ebenfalls problematisch ist die Entstehungsgeschichte des Werks. Laut documenta-Website spielte Masao Adachi eine Rolle dabei, Subversive Film die Filmrollen anzuvertrauen. Adachi war Mitglied der japanischen Roten Armee und kollaborierte mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas, zwei Gruppen, die Terroranschläge gegen israelische und andere Zivilist:innen verübten, darunter das Massaker am Flughafen Lod 1972, bei dem 26 Menschen ermordet wurden. Eine eventuelle Wiederaufnahme der Vorführungen der Filme wäre nur denkbar, wenn diese in einer Form kontextualisiert würden, die ihren Propagandacharakter verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert.
Dem Gremium ist bewusst, dass die documenta fifteen eine Vielzahl hervorragender und inspirierender Kunstwerke ausstellt, die es in seiner Arbeit nicht in den Blick nehmen kann. Seine Aufgabe besteht darin, eine Auswahl der Werke auf ihren antisemitischen Gehalt zu untersuchen und zu klären, warum sie auf der documenta fifteen ausgestellt werden oder wurden.
10.09.2022
Presseerklärung der unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums zur fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Die Gesellschafter der documenta gGmbH haben uns als Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung eingesetzt, um als antisemitisch identifizierte bzw. diskutierte Werke zu analysieren, den Umgang der documenta fifteen mit antisemitischen Vorfällen zu untersuchen und Vorschläge zu entwickeln, wie ähnliche Vorgänge künftig zu verhindern sind. Aufgrund der anhaltenden Auseinandersetzungen zu einzelnen Exponaten und der documenta fifteen als Ganzer besteht eine besondere Dringlichkeit für die Beratung zu diesen Fragen. Wir haben daher den Gesellschaftern eine erste Einschätzung der unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums vorgelegt, die in einigen Punkten umfassender ist als die Stellungnahme des gesamten Gremiums.
1. Die Ebene der ausgestellten Werke, Film- und Archivmaterialien
Auf der Ebene der ausgestellten Werke ist es aus Sicht des Gremiums die dringlichste Aufgabe, die Vorführung der unter dem Namen „Tokyo Reels Film Festival“ gezeigten Kompilation von pro-palästinensischen Propagandafilmen aus den 1960er-1980er des Kollektivs „Subversive Film“ zu stoppen. Hoch problematisch an diesem Werk sind nicht nur die mit antisemitischen und antizionistischen Versatzstücken versehenen Filmdokumente, sondern die zwischen den Filmen eingefügten Kommentare der Künstler:innen, in denen sie den Israelhass und die Glorifizierung von Terrorismus des Quellmaterials durch ihre unkritische Diskussion legitimieren. Das historische Propagandamaterial wird nicht – wie es ohne Zweifel geboten wäre – kritisch reflektiert, sondern als vermeintlich objektiver Tatsachenbericht affirmiert. Dadurch stellen die Filme in ihrer potentiell aufhetzenden Wirkung eine größere Gefahr dar als das bereits entfernte Werk „People’s Justice“.
Viele der Filme präsentieren Israel und seine Streitkräfte ausschließlich als Täter:innen, die gezielt Zivilist:innen, insbesondere Frauen und Kinder, angreifen. Im Kontrast dazu wird die palästinensische Seite als unschuldig und wehrlos dargestellt. Die wiederholten Terroranschläge gegen israelische Zivilist:innen werden hier – wie in der gesamten Ausstellung – ebenso wenig erwähnt wie die Tatsache, dass Israel regelmäßig von den Armeen Syriens, Jordaniens und Ägyptens angegriffen worden ist. Darüber hinaus schlägt die einseitig negative Darstellung Israels mehrfach in offenen Antisemitismus um. Um nur ein Beispiel zu nennen: Israel wird ein „faschistischer“ Charakter vorgeworfen und unterstellt, einen „Genozid“ an den Palästinensern zu betreiben – es wird dadurch mit dem nationalsozialistischen Deutschland gleichgesetzt. Eine solche Gleichsetzung der israelischen Politik mit der der Nationalsozialisten ist etwa nach der Definition der International Holocaust Remembrance Alliance, die von vielen Nationen, darunter auch einigen Ländern des Globalen Südens, übernommen wurde, als antisemitisch zu bewerten. Ebenfalls problematisch ist die Entstehungsgeschichte des Werks. Laut documenta-Website spielte Masao Adachi eine Rolle dabei, Subversive Film die Filmrollen anzuvertrauen. Adachi war Mitglied der japanischen Roten Armee und kollaborierte mit der Volksfront zur Befreiung Palästinas, zwei Gruppen, die Terroranschläge gegen israelische und andere Zivilist:innen verübten, darunter das Massaker am Flughafen Lod 1972, bei dem 26 Menschen ermordet wurden. Eine eventuelle Wiederaufnahme der Vorführungen der Filme wäre nur denkbar, wenn sie in einer Form kontextualisiert würden, die den Propagandacharakter der Filme verdeutlicht, ihre antisemitischen Elemente klar benennt und historische Fehldarstellungen korrigiert.
Nach Auffassung der unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums ist das „Tokyo Reels Film Festival“ das eklatanteste Beispiel für eine Einseitigkeit der documenta fifteen in Hinblick auf den arabisch-israelischen Konflikt, mit dem sich vergleichsweise viele Werke beschäftigen. Nahezu in allen diesen Werken werden einseitig kritische bis hin zu dezidiert israelfeindliche Haltungen zum Ausdruck gebracht. Diese schlagen sich in bildlichen Darstellungen und Aussagen nieder, die nach gängigen Kriterien als antisemitisch bewertet werden können. Besonders deutlich wird es dann, wenn die Existenz Israels in den Werken infrage gestellt bzw. bestritten wird. Unter diesen Gesichtspunkten halten die unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums die Auseinandersetzung mit der Werkreihe „Guernica Gaza“ und mit Dokumenten aus den Archives des luttes des femmes en Algérie für geboten. Die Analyse dieser und weiterer Werke – u.a. von Taring Padi – dauert noch an. Detailliertere Stellungnahmen werden den Gesellschaftern zu einem späteren Zeitpunkt zur Verfügung gestellt.
2. Die Ebene der künstlerischen Leitung
Die beschriebene Einseitigkeit der präsentierten Positionen zum arabisch-israelischen Konflikt ist aus Sicht der unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums nicht den einzelnen Künstler:innen zuzurechnen, sondern Folge eines kuratorischen Konzepts der künstlerischen Leitung, das bewusst auf Kontrolle über die Zusammenstellung und Präsentation der Ausstellung verzichtet hat. Dieser im Prinzip begrüßenswerte dialogische und kooperative Ansatz ändert jedoch nichts an der kuratorischen Gesamtverantwortung von ruangrupa. Allein die künstlerische Leitung hatte die Möglichkeit, aus einer Gesamtperspektive auf die Ausstellung zu blicken. Auch wenn sie bewusst auf einen solchen Überblick verzichtet haben sollte, bleibt sie für die gesamte Ausstellung verantwortlich. Im Ergebnis hat die künstlerischen Leitung eine documenta zu verantworten, in der antisemitische Werke ausgestellt wurden und Israel und Israelis ausschließlich als Täter:innen und Aggressor:innen in Erscheinung treten. Der Eindruck einer kuratorischen Unausgewogenheit wird dadurch verstärkt, dass in der Ausstellung weder Auseinandersetzungen mit dem Nationalsozialismus und der Shoah und ihren Folgen noch jüdischen Perspektiven auf den Nahostkonflikt Raum gegeben wird und die künstlerische Leitung mit der Kuratierung immer auch ein eigenes politisches Projekt verbunden hat. Ebenfalls problematisch erscheint uns die fehlende Auseinandersetzung der künstlerischen Leitung mit den antisemitischen Vorfällen, deren Kritik als „Zensur“ diskreditiert wird.
3. Die Ebene der Organisation der documenta
Auch auf der Ebene der Organisation der documenta sind die unterzeichnenden Mitglieder des Gremiums der Auffassung, dass die Verfahrensabläufe und Kommunikation in Reaktion auf die Diskussionen unzureichend bis kontraproduktiv gestaltet sind. Für den Umgang mit problematischen Werken scheint die documenta kein Verfahren vorzuhalten, das über die Prüfung der Strafbarkeit eines Exponats hinausgeht. Die Organisation der documenta scheint nicht darauf eingestellt zu sein, im Falle interner oder öffentlicher Kritik an dem Projekt oder der künstlerischen Leitung zu vermitteln. Als besonders bedauerlich empfinden es die Unterzeichnenden, dass die Geschäftsführung der documenta nach Beginn der Ereignisse nicht in einen nachhaltigen Dialog mit Vertreter:innen der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland eingetreten ist. Nimmt man diese drei Ebenen zusammen, wird deutlich, dass die gravierenden Probleme der documenta fifteen nicht nur in der Präsentation vereinzelter Werke mit antisemitischer Bildsprache und antisemitischen Aussagen bestehen, sondern auch in einem kuratorischen und organisationsstrukturellen Umfeld, das eine antizionistische, antisemitische und israelfeindliche Stimmung zugelassen hat.
Unterzeichnende:
Nicole Deitelhoff (Vorsitzende)
Julia Bernstein
Marina Chernivsky
Peter Jelavich
Christoph Möllers
01.08.2022
Gesellschafter der documenta stellen fachwissenschaftliche Begleitung vor
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit herausragender wissenschaftlicher Expertise in den Bereichen Antisemitismus, Perspektiven aus globalen Kontexten und Postkolonialismus, Kunst sowie Verfassungsrecht werden die documenta in den kommenden Monaten fachwissenschaftlich begleiten.
Den Vorsitz des Gremiums wird Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts „Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) und geschäftsführende Sprecherin des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ), übernehmen. Das haben die Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH bekannt gegeben. Angesichts der antisemitischen Vorfälle hat der Aufsichtsrat am 15. Juli 2022 einige Maßnahmen zur Aufarbeitung beschlossen, darunter die Einsetzung dieser fachwissenschaftlichen Begleitung. Ziel ist, auch in Zukunft der documenta ihren weltweit einzigartigen Rang als Ausstellung für zeitgenössische Kunst in Kassel zu sichern.
Der Vorschlag für die Besetzung der fachwissenschaftlichen Begleitung wurde von Angela Dorn, Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst, und Dr. Susanne Völker, Kulturdezernentin der Stadt Kassel, im Auftrag der Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH erarbeitet. Der Aufsichtsrat hat diesem Vorschlag zugestimmt und der Gesellschafterversammlung empfohlen, die ihn ebenfalls bestätigt hat.
„Wir danken den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern herzlich für ihre Bereitschaft, so kurzfristig ihre wissenschaftliche Expertise zur Verfügung zu stellen – das ist bei so hochkarätigen Forscherinnen und Forschern angesichts zahlreicher anderer Verpflichtungen keineswegs selbstverständlich“, erklären Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta, seine Stellvertreterin im Aufsichtsrat, Staatsministerin Angela Dorn sowie Kulturdezernentin Dr. Susanne Völker.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sind zuständig für die erste Bestandsaufnahme der Abläufe, Strukturen und Rezeptionen rund um die documenta fifteen, sollen Empfehlungen für die Aufarbeitung geben und erörtern, welche Aspekte einer vertieften wissenschaftlichen Analyse bedürfen. Außerdem werden sie bei der Analyse möglicher weiterer antisemitischer Bildsprache und Sprache sowie bereits als antisemitisch identifizierten Werken beraten. Die Beratungsergebnisse und Positionen werden dem Aufsichtsrat und den Gesellschaftern vorgelegt, die diese der documenta und Museum Fridericianum gGmbH und den Kuratorinnen und Kuratoren zur Verfügung stellen und in einen Dialog dazu eintreten. Die künstlerische Freiheit ist gewahrt, die kuratorische Verantwortung ist und bleibt explizite Aufgabe der künstlerischen Leitung ruangrupa. „Wir haben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit ganz unterschiedlichen Sichtweisen und aus unterschiedlichen Disziplinen zusammengebracht, damit sie in einen konstruktiven Austausch treten und eine unabhängige Aufarbeitung voranbringen, die uns wichtige Impulse für die Zukunft geben wird. Es wird vermutlich auch Aspekte der Aufarbeitung und Kunstwerke geben, wo es am Ende keine einheitliche Einschätzung geben wird. Entscheidend ist, dass die Sichtweisen transparent sind und miteinander in Dialog treten“, so Geselle und Dorn.
„Mit der ausgesprochenen Empfehlung für eine fachwissenschaftliche Begleitung hat der Aufsichtsrat sich klar positioniert, Antisemitismus und gruppenbezogene Formen von Menschenfeindlichkeit auch in Kunst und Kultur wirksam zu bekämpfen. Wir erwarten, dass unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Kunstfreiheit, Hinweisen auf mögliche antisemitische Bildsprache und Beförderung von israel-bezogenem Antisemitismus nachgegangen wird“, bekräftigte Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle als Vorsitzender die Entscheidung und Haltung des documenta-Aufsichtsrats.
„Die auf der documenta fifteen mehrfach gesichteten antisemitischen Motive zeugen von ungebrochener Aktualität und Reproduktion von Antisemitismus. Es ist daher essentiell, dass die antisemitischen Vorfälle und die damit zusammenhängenden Rezeptionen und Vorgänge mit Unterstützung eines fachwissenschaftlichen Gremiums rekonstruiert und aufgearbeitet werden. Die fachwissenschaftliche Analyse weiterer Werke im Hinblick auf antisemitische Motive wird schon in den kommenden Wochen für uns Gesellschafter wichtig sein. Auf dieser Grundlage können nachhaltige Impulse für den Umgang mit antisemitischen Vorgängen im Kultur- und Kunstkontext gezogen werden und so über die documenta hinauswirken. Die Aufarbeitung des Geschehenen und ein Lernen für die Zukunft soll auch das in den vergangenen Wochen verloren gegangene Vertrauen wieder zurückzugewinnen“, so Angela Dorn.
„Die Vertrauensverluste rund um die Vorkommnisse antisemitischer Bildsprache haben diese documenta seither überschattet und unter veränderte Vorzeichen gestellt. Ziel muss es nun sein, den fachlichen und sachlichen Diskurs und den gemeinsamen Dialog zu führen, um verlorenes Vertrauen wiederherzustellen. Künstlerinnen und Künstler aus vielen Teilen der Welt stellen in ihren Projekten wesentliche Fragen unserer Zeit. Eine differenzierte Aufarbeitung der antisemitischen Vorfälle und ihrer Kontexte ist notwendig und gleichzeitig eine Chance, um den Blick auch dafür erneut öffnen zu können.“ erläutert Dr. Susanne Völker.
„Unsere fachwissenschaftliche Begleitung hat ein zentrales Ziel: Aufzuarbeiten, wie es zu den antisemitischen Vorfällen auf der documenta fifteen kommen konnte und Empfehlungen zu entwickeln, wie im Rahmen der laufenden Ausstellung und über sie hinaus zukünftig damit umgegangen werden kann, damit sich das nicht wiederholt“, so die Vorsitzende des Gremiums, Prof. Dr. Deitelhoff. Das Gremium wird inhaltlich und organisatorisch unterstützt durch Dr. Cord Schmelzle, Koordinator des Teilinstituts Frankfurt des FGZ.
Die Hauptarbeit des Gremiums wird über den Ausstellungszeitraum der documenta fifteen hinausreichen, da auch vertiefende wissenschaftliche Studien initiiert werden können. Die wissenschaftliche Analyse der Kunstwerke auf der documenta fifteen, mit Hinweisen auf mögliche antisemitische (Bild-)Sprache, soll noch während der laufenden Ausstellung geschehen. „Die Tatsache, dass mit dem Faksimile der Broschüre „Presence des Femmes“ und den darin enthaltenen Zeichnungen des Künstlers Burhan Karkoutly ein weiterer Gegenstand mit antisemitischer Bildsprache bekannt geworden ist, zeigt wie dringend notwendig diese Analyse ist. Es gibt zu Recht ein großes öffentliches Interesse an den Erkenntnissen und Empfehlungen der fachwissenschaftlichen Begleitung, dessen sind wir uns bewusst. Zugleich erfordert wissenschaftliches Arbeiten ein Mindestmaß an Gründlichkeit und Ruhe, das wir ermöglichen wollen. Wir bitten um Verständnis, dass Pressearbeit gezielt ablaufen wird und Mitglieder sich nicht einzeln öffentlich äußern wollen und werden.“, so Geselle und Dorn abschließend.
In der fachwissenschaftlichen Begleitung wirken mit:
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff (Vorsitz), Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungspolitik an der Goethe-Universität Frankfurt, geschäftsführendes Vorstandsmitglied des Leibniz-Instituts „Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung“ (HSFK) und Sprecherin des „Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ (FGZ). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich soziale und politische Konflikte und Konfliktregulierung sowie der Institutionen- und Demokratietheorien.
Prof. Dr. Marion Ackermann, Generaldirektorin der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden; Kunsthistorikerin, Germanistin und Kuratorin. Wissenschaftlicher Schwerpunkt: Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts.
Prof. Dr. Julia Bernstein, Professorin für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Frankfurt University of Applied Sciences. Ihr Arbeitsschwerpunkt liegt im Bereich der Antisemitismusforschung und zielt auf deren Transfer besonders in die Bildungsarbeit. 2017 hat sie den qualitativen Teil der Studie „Jüdische Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland“ geleitet, die im Auftrag des zweiten unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus durchgeführt wurde, und 2021 hat sie an der Empfehlung zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen vom Zentralrat der Juden in Deutschland, der Bund-Länder-Kommission der Antisemitismusbeauftragten und der Kultusministerkonferenz mitgewirkt.
Marina Chernivsky, Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Sie ist Gründerin und Geschäftsführerin der Beratungsstelle bei antisemitischer Gewalt OFEK e.V. sowie Leiterin des Kompetenzzentrums für Prävention und Empowerment in Trägerschaft der ZWST. Sie forscht (u.a.) zu Wirkungsgeschichte des Nationalsozialismus und Antisemitismus und ist Co-Leiterin der Bundesländerstudienreihe „Antisemitismus im Kontext Schule“ in Kooperation mit der FH Potsdam. Bis 2017 war sie Mitglied im Zweiten Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus und Mitherausgeberin des zweiten Antisemitismusberichts des Deutschen Bundestages. Seit 2019 ist sie Mitglied im Beratungsgremium des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben und den Kampf gegen Antisemitismus.
Prof. Peter Jelavich, PhD, Professor of History, Johns Hopkins University; Kultur- und Geistesgeschichte Europas seit der Aufklärung, mit Betonung auf Deutschland. Forschungsschwerpunkte: Zensur der Künste in Deutschland seit 1890; und deutsch-jüdische Kulturgeschichte, insb. Populärkultur.
Prof. Dr. Christoph Möllers, Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Univers ität zu Berlin und Permanent Fellow am Wissenschaftskolleg für Fragen des Verfassungsrechts.
Prof. Dr. Facil Tesfaye, Juniorprofessor an der School of Modern Languages and Cultures, Universität Hong Kong & visiting fellow an der EHESS (Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales) Paris. Er wurde an der McGill University (Montréal/Canada) promoviert und hat zuvor einen Masterabschluss in Political Science an der Université du Quebec à Montréal erworben. Sein Grundstudium hat er in African Studies und Political Science an der Humboldt-Universität zu Berlin absolviert. Experte für Deutsche Koloniale Medizingeschichte & globale Kontexte.
Es können außerdem weitere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beispielsweise als Sachverständige hinzugezogen werden. Darunter als Berater zur Konstituierung: Prof. Dr. Meron Mendel, Professor für Soziale Arbeit an der Frankfurt University of Applied Sciences und Direktor der Bildungsstätte Anne Frank. Publizist, Historiker, Pädagoge.
28.07.2022
documenta Gesellschafter zum Umgang mit weiterem kritischen Ausstellungsstück
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Die Gesellschafter der documenta und Museum Fridericianum gGmbH haben erstmals am Dienstagabend über die Sozialen Netzwerke erfahren, dass mit dem Faksimile der Broschüre „Presence des Femmes“ und den darin enthaltenen Zeichnungen des Künstlers Burhan Karkoutly mit Darstellungen israelischer Soldaten ein weiterer problematischer Gegenstand auf der documenta fifteen hinsichtlich antisemitischer Bildsprache ausliegt.
Der documenta-Leitung war dies bereits vor drei Wochen bekannt, nachdem eine Besucherin auf die Zeichnungen aufmerksam gemacht hat. Die umgehende rechtliche Bewertung der Zeichnungen durch Externe war ein richtiger Schritt, die Frage, ob hier antisemitische Bildsprache vorliegt, wurde leider lediglich intern bewertet. Es wurde versäumt eine geeignete Kontextualisierung vorzunehmen und die Besucherin über das Ergebnis der Klärung zu informieren. Diese Vorgänge haben nicht unter der Verantwortung des Interimsgeschäftsführer Alexander Farenholtz stattgefunden. Wir danken Herrn Farenholtz, dass er diese Versäumnisse nun nachholen möchte.
Es handelt sich bei den Zeichnungen nicht um ein ausgestelltes Kunstwerk, sondern um Archivmaterial, das auf der documenta fifteen präsentiert wird. Aber auch hier ist angesichts der antisemitischen Bildsprache verantwortungsvolles Kuratieren wichtig und es braucht zumindest eine geeignete Kontextualisierung. Die Gesellschafter gehen davon aus, dass die künstlerische Leitung die diskutierten Zeichnungen bis zu einer angemessenen Kontextualisierung aus der Ausstellung nimmt. Der Umgang mit den Zeichnungen zeigt, wie dringend notwendig die externe Expertise bei der Analyse von Werken auf antisemitische (Bild-)Sprache ist.
18.07.2022
Alexander Farenholtz übernimmt die Interims-Geschäftsführung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Alexander Farenholtz wurde heute einstimmig durch den Aufsichtsrat der documenta und Museum Fridericianum gGmbH zum Interims-Geschäftsführer der documenta bestellt. Das erklärten Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta, und seine Stellvertreterin im Aufsichtsrat, die Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Angela Dorn, am Montag.
Die Gesellschafter der documenta sind froh und dankbar, in einer für die documenta herausfordernden Situation einen so erfahrenen und renommierten Kulturmanager für die bedeutende Weltkunstausstellung in Kassel gewonnen zu haben. Alexander Farenholtz übernimmt diese Aufgabe bereits am Dienstag, 19. Juli. Das Engagement ist zunächst bis zum 30. September 2022 befristet. Es ist der Wunsch von Herrn Farenholtz, nach der Abstimmung mit den Gesellschaftern nun zunächst mit der künstlerischen Leitung und dann selbstverständlich auch mit dem Team der documenta gGmbH Gespräche aufzunehmen.
Kassel und die documenta sind Farenholtz seit Jahren gut vertraut: Nach dem Studium (Verwaltungswissenschaft in Konstanz) und ersten beruflichen Stationen war er 1989 unter anderem für die Realisierung der documenta 9 unter der künstlerischen Leitung von Jan Hoet zum Geschäftsführer der documenta GmbH berufen worden.
1993 wechselte er als Leiter des Ministerbüros ins Baden-Württembergische Kunstministerium und übernahm 1996 zusammen mit Tom Stromberg die Leitung des Kulturprogramms der Weltausstellung EXPO2000 in Hannover.
Mit Beginn des Jahres 2002 wurde er zum Gründungsvorstand und Verwaltungsdirektor der Kulturstiftung des Bundes bestellt. Dieses Amt übte er an der Seite von Hortensia Völckers als Künstlerischer Leiterin bis zum Erreichen der Altersgrenze im Januar 2020 aus.
16.07.2022
Erklärung des Aufsichtsrats der documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Pressemeldung documenta und Museum Fridericianum gGmbH
Bei der Sitzung des Aufsichtsrats der documenta und Museum Fridericianum gGmbH am Freitag, 15. Juli 2022, sind vor dem Hintergrund der Antisemitismusvorwürfe gegen die documenta fifteen und mit Blick auf die Zukunft der documenta einstimmige Entscheidungen des Aufsichtsrats und der Gesellschafterversammlung getroffen worden. Dazu erklärten für beide Gremien Aufsichtsratsvorsitzender Oberbürgermeister Christian Geselle und die Hessische Ministerin für Wissenschaft und Kunst Angela Dorn als stellvertretende Aufsichtsratsvorsitzende:
1. Der Aufsichtsrat, die Gesellschafter und Generaldirektorin Dr. Sabine Schormann verständigten sich einvernehmlich darauf, ihren Geschäftsführerdienstvertrag kurzfristig aufzulösen. Zunächst wird eine Interimsnachfolge angestrebt.
2. Der Aufsichtsrat äußert seine tiefe Betroffenheit, dass am Eröffnungswochenende der documenta fifteen eindeutig antisemitische Motive zu sehen waren. Die Präsentation des Banners „People‘s Justice“ des Künstlerkollektivs Taring Padi mit seiner antisemitischen Bildsprache war eine klare Grenzüberschreitung und der documenta wurde damit ein erheblicher Schaden zugefügt. Es ist nach Auffassung des Aufsichtsrates essenziell, diesen Vorfall zeitnah aufzuklären, Schlussfolgerungen auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse für den Umgang mit antisemitischen Vorgängen im Kultur und Kunstkontext zu ziehen und weiteren Schaden für die documenta abzuwenden. Durch die Aufhängung des Banners und auch im Zuge der Krisenbewältigung in den vergangenen Wochen ist leider viel Vertrauen verloren gegangen. Der Aufsichtsrat betrachtet es als essenziell, dass alles darangesetzt wird, dieses Vertrauen zurückzugewinnen.
3. Der Aufsichtsrat betrachtet es als wichtige gesellschaftliche Aufgabe, Antisemitismus und gruppenbezogene Formen von Menschenfeindlichkeit auch in Kunst und Kultur wirksam zu bekämpfen. Außerdem bekräftigt er seine Erwartungshaltung, dass Hinweisen auf mögliche antisemitische Bildsprache und Beförderung von israel-bezogenem Antisemitismus unter Berücksichtigung der grundrechtlich geschützten Kunstfreiheit nachgegangen werden soll. Der Aufsichtsrat empfiehlt der Gesellschafterversammlung eine fachwissenschaftliche Begleitung einzusetzen, die sich aus Wissenschaftler*innen zum Gegenwartsantisemitismus, deutschen sowie globalen Kontext und Postkolonialismus sowie der Kunst zusammensetzt. Sie sind zuständig für die erste Bestandaufnahme der Abläufe, Strukturen und Rezeptionen rund um die documenta fifteen, sollen Empfehlungen für die Aufarbeitung geben und erörtern, welche Aspekte einer vertieften (wissenschaftlichen) Analyse bedürfen. Außerdem würden sie bei der Analyse möglicher weiterer antisemitischer (Bild-) Sprache beraten. Eine Kooperation der fachwissenschaftlichen Begleitung mit der künstlerischen Leitung betrachtet der Aufsichtsrat als zielführend und soll im gemeinsamen Prozess gestaltet werden. Der Aufsichtsrat regt an, dass die Findungskommission, die eine Beratungsfunktion gegenüber der documenta fifteen innehat, in der fachwissenschaftlichen Begleitung mitwirkt. Die Gesellschafterversammlung hat dem entsprochen.
4. Der Aufsichtsrat empfiehlt der Gesellschafterversammlung, eine Organisationsuntersuchung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH durchzuführen, die sowohl die Strukturen inklusive Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten als auch die Abläufe einer Überprüfung unterzieht. Dies im
Benchmark mit anderen bedeutenden Kunstausstellungen und unter Hinzuziehung externer Expertinnen und Experten, um auf dieser Basis Vorschläge für die Weiterentwicklung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH schnellstmöglich nach der documenta fifteen zu erarbeiten. Auch dies hat die Gesellschafterversammlung beschlossen.
5. Die Stadt Kassel und das Land Hessen eint das gemeinsame Ziel, die Verfehlungen beim Thema Antisemitismus und strukturellen Defizite aufzuarbeiten und alles daran zu setzen, der documenta auch in Zukunft ihren weltweit einzigartigen Rang als Ausstellung für zeitgenössische Kunst zu sichern. Der Aufsichtsrat wirbt dafür, die documenta fifteen, als erstmalige documenta kuratiert aus dem Blick des sogenannten „globalen Südens“ mit über 1.500 beteiligten Künstlerinnen und Künstlern, auch in ihrer Gesamtheit und Einzigartigkeit zu bewerten. Gerade weil die documenta alle fünf Jahre zu einem Dreh- und Angelpunkt von Künstlerinnen und Künstlern sowie Kulturinteressierten aus aller Welt wird und gerade weil sie immer ein Ort der Begegnung und des kritischen Diskurses war und ist, arbeitet der Aufsichtsrat gemeinsam mit allen Beteiligten daran, die documenta in Kassel zu schützen.
13.07.2022
Geänderter Text der Pressemeldung, gleiche Headline wie 12.07.2022 [Anm. WKK]
documenta Geschäftsführerin: documenta hat angemessene Maßnahmen nach Vorwürfen ergriffen
Pressemeldung documenta fifteen
Die Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Frau Dr. Sabine Schormann, erklärt:
In den vergangenen Wochen hat es in der Öffentlichkeit anhaltende Kritik am Umgang der documenta mit den erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen gegeben; insbesondere wurde behauptet, wir hätten zu wenig Maßnahmen eingeleitet.
Wir haben uns darauf konzentriert im Sinne der documenta fifteen, aufzuklären und zu handeln. Dies geht nur gemeinsam mit der Künstlerischen Leitung und den Künstler*innen. Dabei ist die Rollenverteilung zu berücksichtigen: Die Künstlerische Leitung ist für alle künstlerischen Inhalte und Umsetzungen verantwortlich, die Geschäftsführung für den organisatorischen und finanziellen Rahmen.
Aufhängung des Banners People’s Justice und nachfolgende Handlungen der documenta
Es ist ungeheuer schmerzlich – und ich möchte nochmals mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken – dass das Banner People‘s Justice von Taring Padi mit antisemitischen Bildmotiven überhaupt installiert wurde. Dies hat auch mich zutiefst erschüttert. Die mehrfachen internen und öffentlichen Erläuterungen, wie es dazu kommen konnte, sowie die aufrichtigen Entschuldigungen von ruangrupa und Taring Padi waren daher äußerst wichtig.
Nach Bekanntwerden der antisemitischen Bildmotive auf dem Taring Padi Banner, habe ich umgehend gehandelt und in Abstimmung mit der Künstlerischen Leitung und Mitgliedern von Taring Padi entschieden, das Banner sofort abzudecken. Eine Entfernung des Werks aus der Ausstellung gegen den Willen der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen wäre als Ultima Ratio ein erheblicher Eingriff in die Künstlerische Freiheit gewesen. Daher war eine sofortige Rücksprache mit dem Aufsichtsrat notwendig, der seine Rückendeckung gegeben hat, auch für den Fall, dass Teile der Künstlerschaft wegen Zensurvorwürfen die Ausstellung verlassen hätten, wie es damals schon im Raum stand. ruangrupa und Taring Padi jedoch haben die Deinstallation des Banners mitgetragen. Sie haben Verantwortung übernommen.
Da es nach diesem Vorfall nicht ausgeschlossen schien, dass es möglicherweise mehr Fehleinschätzungen oder im Prozess unerkannte Fälle von nicht tragbaren Inhalten geben könnte, habe ich weitere Schritte eingeleitet. Ziel war und ist es – koordiniert durch das documenta archiv – in Zusammenarbeit und im Rahmen der Verantwortung der Kurator*innen und Künstler*innen zu prüfen, ob weitere antisemitische Inhalte vorhanden sind und neue auszuschließen, da sich die Schau konzeptgemäß aktiv verändert und Aktivierungen stattfinden.
Um bestmöglich zu unterstützen, wurde und wird durch das documenta archiv ein Netzwerk aus externem Berater*innen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen aufgebaut, das den Kurator*innen und Künstler*innen zur Seite steht. Darunter finden sich renommierte Fachwissenschaftlerinnen, die ihre Arbeit wie in der Wissenschaft üblich primär außerhalb der Öffentlichkeit ausführen. Begleitend dazu werden Ergebnisse und vertiefende Fragestellungen in weiteren Podien diskutiert.
Im Sinne der Gesamtaufstellung der documenta fifteen, die Ade Darmawan von ruangrupa im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages detailliert erläutert hat, ist das Verfahren kooperativ angelegt: Die Kurator*innen sind aufgefordert, Expertise aus diesem Beratungsnetzwerk hinzuziehen, wenn sie selbst nicht abschließend bewerten können, ob ein für die Ausstellung gedachtes Werk eine Bildsprache verwendet, die antisemitisch ist. Dieses kooperative Verfahren wurde den angefragten Expert*innen klar kommuniziert, genauso wie die Arbeitsweise.
Für die bisher öffentlich in den Fokus geratenen Werke hat bereits eine Sichtung mithilfe der Kunsthistoriker*innen des documenta archivs und Fachexpertise aus dem Netzwerk stattgefunden. Strafrechtliche Stellungnahmen anerkannter Expert*innen, auch zu „People’s Justice“, liegen bereits vor oder sind beauftragt. Im Rahmen der üblichen juristischen Vorsicht kommen sie zu dem Schluss, dass keine Strafbarkeit gegeben ist. Der Befund ist, dass man über die Werke zwar streiten kann, aber keine weitergehenden Maßnahmen notwendig sind, die über eine begleitende Vermittlung hinausgehen.
Der Dialog mit der Öffentlichkeit wurde am 29. Juni 2022 mit der Podiumsdiskussion zu Antisemitismus in der Kunst weitergeführt, der eine Reihe vertiefender öffentlicher Gespräche folgen werden. Darüber hinaus werden gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Begegnungs- und Informationsmöglichkeiten an zentraler Stelle etabliert, an dem Besucher*innen, aber auch Künstler*innen in einen Dialog zu Fragen des Antisemitismus und Rassismus kommen können. Weitere Kooperationsprojekte sind in Arbeit.
Blick zurück: Antisemitismus-Vorwürfe seit Januar 2022
Seit dem 10. Januar 2022 standen – ausgehend von einem Blog-Beitrag zunächst pauschale – Antisemitismus-Vorwürfe gegen die documenta fifteen und die Künstlerische Leitung ruangrupa im Raum: Einzelne Beteiligte standen aufgrund ihrer Herkunft oder (vermeintlichen) BDS-Nähe im Fokus. Verschiedene Vorwürfe wurden in der folgenden medialen Debatte zum Teil unhinterfragt aufgegriffen und hoben das Thema in die Feuilletons und (kultur-)politischen Debatten.
Die Geschäftsführung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat daraufhin im Januar 2022 umgehend folgende Schritte eingeleitet:
Es gab eine Vielzahl von Gesprächen mit ruangrupa und Künstler*innen zur Aufklärung und zur Auseinandersetzung mit den Vorwürfen analog zur von Ade Darmawan beschriebenen, künstlerischen Arbeitsweise der documenta fifteen. Diese knüpften an die bereits bestehende Beschäftigung der Künstlerischen Leitung mit der Geschichte Kassels und Deutschlands an.
Auf kommunikativer Ebene folgten mehrere Gegendarstellungen und Erklärungen aller Beteiligten.
In den Gesprächen im Januar empfahlen Bund (BKM) und Land (HMWK) zusätzlich, externe Expertise einzuholen. Dafür wurde kein feststehendes, beim Aufsichtsrat angesiedeltes Gremium, sondern ein fünfköpfiges Berater*innen-Team zur Unterstützung der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen sowie der gGmbH eingesetzt. Die Koordination übernahm auf Empfehlung unter anderem des BKM und in Abstimmung mit dem Künstlerischen Team die Autorin und Kuratorin Emily Dische-Becker. Die Aufgaben: umfassende Beratung zu (auch medialen) Fragen mit Bezug zu Antisemitismus und dem israelisch-palästinensischen Verhältnis sowie umfassende Unterstützung bei der Planung, Durchführung und Organisation der geplanten Expert*innen-Foren. Die restlichen Mitglieder des Teams, u. a. Herr Dr. Anselm Franke (damals Leiter des Bereichs Bildende Kunst und Film, Haus der Kulturen der Welt, ab 1. August 2022 Professor für Curatorial Studies an der Zürcher Hochschule der Künste) und Herrn Dr. Ofer Waldmann (Autor, Redner und Berater zu deutsch- bzw. europäisch-israelischen Fragestellungen) wurden von Frau Dische-Becker aufgestellt. Dazu kam eine medienrechtliche Begleitung.
Im weiteren Verlauf gab es fortgesetzte Gespräche mit verschiedenen Beteiligten, u. a. mit dem Aufsichtsrat und der Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Im Austausch mit Frau Roth haben Mitglieder von ruangrupa sowie Künstler*innen umfangreich zu ihrer Arbeit berichtet.
Die Empfehlung von BKM, KSB und HMWK, in den weiteren Dialog zu gehen, wurde gleichfalls aufgegriffen. Hierzu hat die Künstlerische Leitung unter dem Titel We need to talk Expert*innenforen vorbereitet, die multiperspektivisch angelegt und durch Fachvertreter*innen, nicht durch institutionelle Repräsentant*innen besetzt sein sollten. Dazu gehörten auch Professor Meron Mendel und Hito Steyerl, die sehr früh in die Entwicklung der Reihe einbezogen waren. Zur Besetzung der Podien wurden Hinweise von BKM und HMWK aufgenommen.
In diesem Zusammenhang fand auf Initiative der Geschäftsführung außerdem am 4. März 2022 ein fast zweistündiges digitales Meeting mit dem Zentralrat der Juden, namentlich mit Herrn Daniel Botmann, statt, bei dem die Konzeption der Ausstellung und der geplanten Expert*innen-Foren erläutert wurde. Dabei wurde verdeutlicht, dass es der Künstlerischen Leitung in diesen Foren um die Multiperspektivität der Sichtweisen ging, aber nicht darum, Repräsentant*innen aus Institutionen sprechen zu lassen. Der Zentralrat der Juden reagierte nach der öffentlichen Vorstellung der Reihe mit einem in der Presse teilweise bekanntgewordenen Brief an Frau Kulturstaatsministerin Roth. In dessen Folge hatten mehrere Teilnehmer*innen der am darauffolgenden Sonntag beginnenden Reihe Bedenken, ob sie ihre Position frei vertreten könnten. Die Reihe wurde vor diesem Hintergrund ausgesetzt, sollte aber wieder aufgenommen werden.
Externes Expert*innengremium und weitere aktuelle Entwicklungen
Bei allen notwendigen Maßnahmen darf eines nicht vergessen werden: Die Künstlerische Leitung und die mittlerweile 1.500 Künstler*innen haben bereits im Januar nach Aufkommen der Antisemitismus-Vorwürfe Zensur befürchtet und deswegen ein externes Expert*innengremium abgelehnt. Sie sahen sich unter Generalverdacht gestellt und aufgrund ihrer Herkunft, ihrer Hautfarbe, ihrer Religion oder auch ihrer sexuellen Orientierung diffamiert und zum Teil auch bedroht. Insofern gab es bereits im Januar eine deutliche Abwehrhaltung gegenüber Eingriffen in die Kunst.
Die in Teilen der Medien und Politik neuerlich erhobene Forderung, durch ein externes Expert*innengremium mit Entscheidungsbefugnissen die Ausstellung überprüfen zu lassen, hat vor diesem Hintergrund nicht nur zu Unstimmigkeiten mit Herrn Prof. Meron Mendel, seinem persönlichen Rückzug aus der Beratung und dem daran anknüpfenden Rückzug der von dem teilnehmenden Künstler*innenkollektiv INLAND eingeladenen Künstlerin Hito Steyerl geführt, sondern auch das Vertrauensverhältnis zu ruangrupa und den Künstler*innen enorm belastet.
In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, dass diverse Darstellungen von Herrn Prof. Mendel zuletzt in verschiedenen Interviews – u. a. im Spiegel – von uns nicht nachvollzogen werden können. Exemplarisch zu nennen sind die Aussagen, es habe über einen Zeitraum von zwei Wochen keinen Kontakt gegeben, die Aufgabe sei nicht klar gewesen, und nur auf sein nachdrückliches Wirken hin habe ruangrupa dem Podium Antisemitismus in der Kunst beigewohnt. Die documenta hat seit dem erneuten Kontakt mit Herrn Prof. Mendel bezüglich einer Beratung der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen im Juni durch die Geschäftsführung gemeinsam mit der Direktorin des documenta archivs durchweg Kontakt zu diesem gehabt. Dieser lief zuständigkeitshalber über die Direktorin des documenta archivs die berechtigt war, im Sinne der Geschäftsführung mit Herrn Prof. Mendel alle Fragen zu erörtern. In diesem Zusammenhang sind Herrn Prof. Mendel in der Woche ab dem 20. Juni 2022 seine geplanten Aufgaben kommuniziert worden. Die Einladung von ruangrupa zu der Podiums-Diskussion haben weder ich noch andere Mitglieder der documenta verhindern wollen – ganz im Gegenteil: Wir haben diese Einladung aus freien Stücken selbst ausgesprochen und ruangrupa ist dieser auch unmittelbar nachgekommen.
Vor dem Hintergrund von Aussagen wie denen im HNA-Interview von Herrn Prof. Mendel vom 27. Juni 2022, in dem er auf die Frage „Im schlimmsten Fall werden die Werke entfernt?“ mit „Genau. Das ist ein Instrument, das wir uns vorbehalten. Es ist auch möglich, Künstlerinnen und Künstler auszuladen.“ antwortete, verstehen die Künstlerische Leitung, aber vor allem die Künstler*innen, inzwischen auch die selbständige Überprüfung durch Mitglieder von ruangrupa, Artistic Team und den betroffenen Künstler*innen, bei der interner und externer Sachverstand zur Unterstützung herangezogen werden kann, als (Selbst-)Zensur.
Zudem ist durch Vorfälle mit diskriminierenden Inhalten, u. a. mit rassistischem und transphobem Hintergrund, der Eindruck entstanden, in Kassel und Deutschland nicht willkommen oder sogar gefährdet zu sein. Das Sicherheitsbedürfnis ist hoch und die documenta und Museum Fridericianum gGmbH hat deswegen umfangreiche Maßnahmen ergriffen, um diesem Sicherheitsbedürfnis entgegenzukommen, u. a. wurden ein zusätzlicher Sicherheitskoordinator eingesetzt, weiteres Sicherheitspersonal beauftragt und Gespräche mit der Polizei geführt.
12.07.2022
documenta Geschäftsführerin: documenta hat angemessene Maßnahmen nach Vorwürfen ergriffen
Pressemeldung documenta fifteen
Die Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Frau Dr. Sabine Schormann, erklärt:
In den vergangenen Wochen hat es in der Öffentlichkeit anhaltende Kritik am Umgang der documenta mit den erhobenen Antisemitismus-Vorwürfen gegeben; insbesondere wurde behauptet, wir hätten zu wenig Maßnahmen eingeleitet.
Wir haben uns darauf konzentriert im Sinne der documenta fifteen, aufzuklären und zu handeln. Dies geht nur gemeinsam mit der Künstlerischen Leitung und den Künstler*innen. Dabei ist die Rollenverteilung zu berücksichtigen: Die Künstlerische Leitung ist für alle künstlerischen Inhalte und Umsetzungen verantwortlich, die Geschäftsführung für den organisatorischen und finanziellen Rahmen.
Aufhängung des Banners People’s Justice und nachfolgende Handlungen der documenta
Es ist ungeheuer schmerzlich – und ich möchte nochmals mein tiefstes Bedauern darüber ausdrücken – dass das Banner People‘s Justice von Taring Padi mit antisemitischen Bildmotiven überhaupt installiert wurde. Dies hat auch mich zutiefst erschüttert. Die mehrfachen internen und öffentlichen Erläuterungen, wie es dazu kommen konnte, sowie die aufrichtigen Entschuldigungen von ruangrupa und Taring Padi waren daher äußerst wichtig.
Nach Bekanntwerden der antisemitischen Bildmotive auf dem Taring Padi Banner, habe ich umgehend gehandelt und in Abstimmung mit der Künstlerischen Leitung und Mitgliedern von Taring Padi entschieden, das Banner sofort abzudecken. Eine Entfernung des Werks aus der Ausstellung gegen den Willen der Künstlerischen Leitung und der Künstler*innen wäre als Ultima Ratio ein erheblicher Eingriff in die Künstlerische Freiheit gewesen. Daher war eine sofortige Rücksprache mit dem Aufsichtsrat notwendig, der seine Rückendeckung gegeben hat, auch für den Fall, dass Teile der Künstlerschaft wegen Zensurvorwürfen die Ausstellung verlassen hätten, wie es damals schon im Raum stand. ruangrupa und Taring Padi jedoch haben die Deinstallation des Banners mitgetragen. Sie haben Verantwortung übernommen.
Da es nach diesem Vorfall nicht ausgeschlossen schien, dass es möglicherweise mehr Fehleinschätzungen oder im Prozess unerkannte Fälle von nicht tragbaren Inhalten geben könnte, habe ich weitere Schritte eingeleitet. Ziel war und ist es – koordiniert durch das documenta archiv – in Zusammenarbeit und im Rahmen der Verantwortung der Kurator*innen und Künstler*innen zu prüfen, ob weitere antisemitische Inhalte vorhanden sind und neue auszuschließen, da sich die Schau konzeptgemäß aktiv verändert und Aktivierungen stattfinden.
Um bestmöglich zu unterstützen, wurde und wird durch das documenta archiv ein Netzwerk aus externem Berater*innen aus unterschiedlichen Wissenschaftsbereichen aufgebaut, das den Kurator*innen und Künstler*innen zur Seite steht. Darunter finden sich renommierte Fachwissenschaftlerinnen, die ihre Arbeit wie in der Wissenschaft üblich primär außerhalb der Öffentlichkeit ausführen. Begleitend dazu werden Ergebnisse und vertiefende Fragestellungen in weiteren Podien diskutiert.
Im Sinne der Gesamtaufstellung der documenta fifteen, die Ade Darmawan von ruangrupa im Kulturausschuss des Deutschen Bundestages detailliert erläutert hat, ist das Verfahren kooperativ angelegt: Die Kurator*innen sind aufgefordert, Expertise aus diesem Beratungsnetzwerk hinzuziehen, wenn sie selbst nicht abschließend bewerten können, ob ein für die Ausstellung gedachtes Werk eine Bildsprache verwendet, die antisemitisch ist. Dieses kooperative Verfahren wurde den angefragten Expert*innen klar kommuniziert, genauso wie die Arbeitsweise.
Für die bisher öffentlich in den Fokus geratenen Werke hat bereits eine Sichtung mithilfe der Kunsthistoriker*innen des documenta archivs und Fachexpertise aus dem Netzwerk stattgefunden. Strafrechtliche Stellungnahmen anerkannter Expert*innen, auch zu „People’s Justice“, liegen bereits vor oder sind beauftragt. Im Rahmen der üblichen juristischen Vorsicht kommen sie zu dem Schluss, dass keine Strafbarkeit gegeben ist. Der Befund ist, dass man über die Werke zwar streiten kann, aber keine weitergehenden Maßnahmen notwendig sind, die über eine begleitende Vermittlung hinausgehen.
Der Dialog mit der Öffentlichkeit wurde am 29. Juni 2022 mit der Podiumsdiskussion zu Antisemitismus in der Kunst weitergeführt, der eine Reihe vertiefender öffentlicher Gespräche folgen werden. Darüber hinaus werden gemeinsam mit zivilgesellschaftlichen Akteuren Begegnungs- und Informationsmöglichkeiten an zentraler Stelle etabliert, an dem Besucher*innen, aber auch Künstler*innen in einen Dialog zu Fragen des Antisemitismus und Rassismus kommen können. Weitere Kooperationsprojekte sind in Arbeit.
09.07.2022
Redebeitrag von Ade Darmawan (ruangrupa) im Ausschuss für Kultur und Medien, Deutscher Bundestag, 6. Juli 2022
Dies ist eine Transkription der im Bundestag vorgetragenen Simultanübersetzung.
News documenta fifteen
Guten Tag, sehr geehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags,
ich bin Ade Darmawan und stehe heute vor Ihnen als Vertreter von ruangrupa.
Ich möchte diese Anhörung in der Ausschusssitzung mit einem Bezug auf die Geschichte beginnen. 1955 gründete Arnold Bode die documenta in Kassel, um die durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Wunden zu heilen. Einige Monate zuvor im gleichen Jahr hat in Bandung, Indonesien, eine Gruppe von politischen Führern dieser Welt gemeinsam mit der Asien-Afrika-Konferenz den Grundstein für das gelegt, was später als die Bewegung der blockfreien Staaten bekannt wurde.
In dieser wichtigen Konferenz wurde darüber diskutiert, wie man auf den Ruinen, die der Kolonialismus hinterlassen hat, Unabhängigkeit schaffen könnte.
Wir glauben, dass wir diese beiden historischen Ereignisse, die im gleichen Jahr stattgefunden haben, hier nennen sollten, da sie uns zeigen, wie auf unterschiedliche Weisen auf die Grausamkeiten des Krieges reagiert wurde.
Die documenta fifteen wurde voller Freude eröffnet. Es war ein langer Weg bis zu dieser Eröffnung, der von verschiedenen Herausforderungen begleitet war, angefangen von der Corona-Pandemie bis zu den Vorwürfen des Antisemitismus, die während der letzten sechs Monate vor der Eröffnung gegen uns erhoben wurden.
Während dieser schwierigen Situation hatten wir immer die Hoffnung, dass die Eröffnung der documenta fifteen für das Entstehen und den Wert unserer kollektiven Arbeit während der gesamten Vorbereitungszeit ein deutlicher Beweis sein würde. Und zugleich hofften wir, dass damit der Moment gekommen sei, in dem wir gemeinsam Wahrheiten aussprechen und uns künftig wechselseitig verstehen können.
Im Folgenden möchte ich die Hauptthemen aufgreifen: das Werk mit dem Titel People’s Justice von Taring Padi und den langen Weg des lumbung-Prozesses. Aber zuvor mögen Sie mir in Vertretung für ruangrupa erlauben, unsere Bitte der Entschuldigung hier nochmals zu äußern. Wie es auch schon in unserer Online-Erklärung heißt, entschuldigen wir uns für den Schmerz und die Angst, die die antisemitischen Elemente in der Arbeit bei all denjenigen hervorgerufen haben, die sie direkt vor Ort oder in den Reproduktionen der Medienberichterstattung gesehen haben.
Deshalb bin ich hier, um ihre Fragen zu beantworten. Warum und wie es dazu kommen konnte, dass das Banner People’s Justice von Taring Padi ausgestellt wurde, ohne dass jemand von uns besagte antisemitische Bildsprache auffiel. Diese Frage möchte ich auf verschiedene Weise beantworten.
Für uns ist es sehr wichtig, mittels der Werke von Taring Padi über den geschichtlichen Kontext Indonesiens zu erzählen und hierbei auch die frühen Werke der Gruppe mit einzubeziehen, die sie in den Jahren um den Fall des Suharto-Regimes und den Beginn der Reform-Periode, also nach 1998, gemacht haben, denn dies ist auch die Ära, in der ruangrupa gegründet wurde.
Es gab leider praktische Probleme beim Aufbau des Gerüstes und mit dem Material des Banners, so dass es während der Preview-Tage noch nicht zu sehen war. Das Banner war in derart schlechtem Zustand, dass es repariert werden musste und somit erst mit der Eröffnung aufgehängt werden konnte. Das kollektiv hergestellte Banner, an dem damals, vor 20 Jahren, mehr als 20 Personen gleichzeitig gearbeitet haben, enthält in den betreffenden Abschnitten Elemente, die tief in die Geschichte und Bildsprache Indonesiens eingebettet sind.
Zur Geschichte gehört, dass westliche Geheimdienste im Namen des Antikommunismus das gewalttätige Suharto-Regime unterstützten, das zwischen 500.000 und einer Millionen Menschen ermordete. Zu unserer Geschichte gehören auch Jahrhunderte der Ausbeutung durch europäische Imperien, insbesondere die Niederlande, auf deren Herrschaft diejenige Japans während des Zweiten Weltkriegs folgte.
Teil der kolonialistischen Gewalt war ein Gegeneinander-Ausspielen verschiedener Gruppen nicht-weißer Menschen. Sie wissen wahrscheinlich, dass im Fall von Indonesien ein Unterschied zwischen Indigenen Indonesier*innen und der chinesischen Minderheit konstruiert wurde. Hierbei haben niederländische Offiziere, wie Sie vielleicht wissen, europäische antisemitische Ideen und Bilder auf die chinesische Minderheit übertragen und sie in einer Weise dargestellt, wie Europäer*innen Juden beschrieben haben.
Es ist erschreckend und beschämend für uns, dass hier heutzutage der Zyklus der Übertragung weiter vollendet wurde. Ein in Europa entstandenes Bild wurde auf völlig inakzeptable Weise unserem kulturellen Kontext angepasst. Ein Prozess, über den wir gemeinsam nachdenken sollten. Unser kuratorischer Ansatz ist kein klassischer autoritärer Ansatz, der die volle Kontrolle über die Elemente der Arbeit bei der Schaffung der Ausstellung ausübt. Wir ziehen es vor, zusammenzuarbeiten.
Die Künstler*innen sollen das weiterführen können, was Teil ihres bisherigen kreativen Prozesses war, um es dann in den Kasseler Kontext zu übersetzen – und zwar nicht auf extraktive, sondern auf regenerative Weise. Wir sind in einer ständigen Diskussion mit den Künstler*innen über ihre Ethik, Politik, ihre Prozesse und Arbeitsweisen.
Oft laden unsere Kooperationspartner*innen weitere Partner*innen ein. Wir vertrauen bei diesem Prozess absolut auf unsere Partner*innen und dies kann zu Werken führen, die uns manchmal selbst überraschen. Entscheidungen werden gemeinsam in der Versammlung diskutiert und getroffen. In dieser Kollektivität liegt unser kuratorischer Ansatz, und im lumbung trägt das Kollektiv die Verantwortung.
Wir verstehen dies als ein politisches Unterfangen, bei dem kollektives Handeln, Entscheiden und Verwalten als Alternative zu autoritären Arbeitsformen fungieren. Es ist also eine Dezentralisierung der künstlerischen Leitung. Mit allen, mit denen wir zusammenarbeiten und die in diesem Prozess beteiligt sind, haben wir versucht, die Rolle der künstlerischen Leitung auf der documenta fifteen zu dezentralisieren.
Unsere Ergebnisse werden, wie der Strom an Besucher*innen bis jetzt zeigt, von Tausenden von Besuchenden geschätzt. Dieser Erfolg wäre uns ohne unser Experimentieren mit einem demokratischeren Prozess bei der Realisierung der Ausstellung nicht möglich gewesen. Wir wissen, dass dies ein Risiko ist, wir sind es aber bewusst eingegangen, da unserer Auffassung nach Fehler immer auch Lernmomente in sich bergen können. Bei Abwägung aller Umstände war das Abhängen des Großbildes People’s Justice für uns der einzig richtige Schritt. Bei den vielen Herausforderungen, mit denen wir in den Monaten vor der Eröffnung konfrontiert waren, möchten wir darauf hinweisen, dass mit ihnen auch eine Flut unbegründeter Anschuldigungen und Angriffe verbunden war – was zweifellos zu einer Atmosphäre führte, in der am Ende nicht die lumbung-Werte, insbesondere das wechselseitige Lernen mit Respekt voreinander, praktiziert wurden, sondern ein Impuls zum Verhör, zum Ausschluss und zur Zensur. Wir möchten diese Gelegenheit nutzen, um die breitere Öffentlichkeit darüber zu informieren, dass wir, ruangrupa, das Künstlerische Team, zusammen mit unseren Partner*innen, Künstler*innen und Teammitgliedern, die für die documenta fifteen arbeiten, infolge dieses Klimas bis heute auf mehreren Ebenen Belästigungen erleben, physisch und digital.
Wir sehen es als eine große Hausaufgabe für die Geschäftsführung und auch für uns, dass wir bis zum Ende dieser 100 Tage die Sicherheit aller Beteiligten gewährleisten. Lassen Sie mich bitte auch noch Folgendes sagen: Die Anschuldigungen gegen uns sind falsch, hätte man Gesprächen ausreichend Raum und Zeit gegeben, zwischen uns, den Künstler*innen und Teammitgliedern, hätte der Geist der Gleichberechtigung aufrecht erhalten werden können.
Dialog und Vertrauen sollte, im Sinne der We need to talk!-Reihe, den Vorrang gegenüber Konfrontation und Misstrauen erhalten, um zu einem produktiven und offenen Diskurs über Antisemitismus und Rassismus in Kunst und Gesellschaft zu kommen. Denn auch das möchte ich klarstellen: Es gibt keinen stillen Boykott gegen Israelis und oder Juden. Tatsächlich zeigt die documenta fifteen sowohl israelische als auch jüdische Künstler*innen, die hier ihrem Wunsch gemäß nicht namentlich genannt werden.
Wir haben unsere Rolle hier nie so verstanden, dass wir nationale Vertretungen einbringen oder die Auswahl auf der Basis ethnischer oder religiöser Identitäten treffen. Die meisten von uns arbeiten und entwickeln das lumbung-Konzept und seine Praxis, gerade weil wir das Arbeitssystem und die Politik des Nationalstaats in Frage stellen.
Künstler*innen arbeiten daran, sich von nationalen, staatlichen, ethnischen und religiösen Bindungen und Identitäten zu lösen und sie weigern sich, mit ihnen in Verbindung gebracht zu werden.
Diejenigen von uns, die auf der documenta fifteen ausstellen, darunter ruangrupa, kommen aus Kontexten, in denen es oft zu Zensur kommt. Es war von Anfang an unsere Absicht, die Meinungsfreiheit durch die documenta fifteen zu feiern. Das ist nicht nur für die lumbung- und die documenta-Community wichtig, sondern für alle Kämpfe weltweit, die kritische Stimmen gegen staatliche Gewalt und Kapitalismus unterstützen, die wiederum die Klimakrise ausgelöst haben, die gleichzeitig eine Bedrohung für und auch in Deutschland darstellt.
Wir verstehen, dass sich diese Meinungsfreiheit trotz dieser Überzeugung nicht auf Dinge erstrecken sollte, die beleidigend oder aufrührerisch oder aufhetzend sind.
Daher hoffen wir aufrichtig, dass alles, was nach der Zensur, dem Verstummen von Stimmen und der Reproduktion von Traumata aussieht, mit denen wir täglich konfrontiert sind, nicht passiert. Obwohl wir aus unseren Fehlern lernen wollen, ist es wichtig, sich daran zu erinnern, dass wir auch hier sind, um unsere Perspektiven, Erfahrungen und unser Wissen zu teilen. Lassen Sie mich abschließend sagen, dass es hier nicht darum geht, dass der globale Süden dem globalen Norden fremd ist oder von ihm getrennt. Seit Jahrhunderten leben Europäer*innen Seite an Seite mit dem sogenannten globalen Süden, von der Kolonialzeit über die Ära der Expansion des Kapitalismus bis heute. Eine falsche Gegenüberstellung, die die documenta fifteen als Ausstellung sieht, die nur die Stimmen des globalen Südens repräsentiert, würde die Ideen und Diskussionen, die wir innerhalb des lumbung und in der Ausstellung aufgeworfen haben, verkürzt darstellen.
Mit der lumbung-Methode hoffen wir auf weitere Gespräche darüber, wie wir alle lernen zu teilen und mit Menschen aus unterschiedlichen, aber miteinander verbundenen Kosmologien zusammenleben können. Wir hoffen, dass wir dieses große Potenzial bis zum Ende der 100-tägigen Ausstellung, auch vor allem in der Zeit danach, ausschöpfen können. Danke.
29.06.2022
Die früheren Kasseler Oberbürgermeister Hans Eichel, Wolfram Bremeier, Bertram Hilgen und der amtierende Oberbürgermeister Christian Geselle haben gerade eine gemeinsame Erklärung in der aktuellen documenta-Debatte abgegeben. Hier der Wortlaut:
Stadt Kassel (https://www.facebook.com/stadtkassel/)
1. Die Unterzeichner bekennen sich zu den Prinzipien, die die documenta in den vergangenen Jahrzehnten zur weltweit bedeutendsten Ausstellung moderner Kunst gemacht haben: Völlige Unabhängigkeit von politischem Einfluss, Garantie der künstlerischen Freiheit, Globalität als Ziel und Anspruch.
24.06.2022
Statement von Taring Padi zum Abbau des Banners „People’s Justice“
Pressemeldung documenta fifteen
Wir bedauern zutiefst, in welchem Ausmaß die Bildsprache unserer Arbeit People’s Justice so viele Menschen beleidigt hat. Wir entschuldigen uns bei allen Zuschauer*innen und Mitarbeiter*innen der documenta fifteen, der Öffentlichkeit in Deutschland und insbesondere der jüdischen Gemeinde. Wir haben aus unserem Fehler gelernt und erkennen jetzt, dass unsere Bildsprache im historischen Kontext Deutschlands eine spezifische Bedeutung bekommen hat. Daher haben wir das Banner zusammen mit der documenta fifteen entfernt.
Als Kollektiv von Künstler*innen, die Rassismus jeglicher Art verurteilen, sind wir schockiert und traurig über die mediale Berichterstattung, die uns als antisemitisch bezeichnet. Mit Nachdruck möchten wir unseren Respekt für alle Menschen bekräftigen, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit, Race, Religion, Gender oder ihrer Sexualität. Zum besseren Verständnis unserer Bildsprache wollen wir auf den inhaltlichen Bezug zur indonesischen Geschichte und Entstehung unseres Kunstwerks eingehen.
Das acht mal zwölf Meter große Banner People’s Justice wurde 2002 in Yogyakarta, Indonesien, von zahlreichen Mitgliedern unseres Kollektivs gemeinsam erstellt. Das Bild entstand vor dem Hintergrund der schwierigen Lebensbedingungen, die wir unter einer Militärdiktatur erfahren hatten, in der Gewalt, Ausbeutung und Zensur an der Tagesordnung waren. Wie viele unsere Kunstwerke versucht das Banner, die komplexen Machtverhältnisse aufzudecken, die hinter diesen Ungerechtigkeiten stehen. Insbesondere geht es um den Massenmord an mehr als 500.000 Menschen in Indonesien im Jahr 1965, der bis heute nicht aufgearbeitet wurde.
In der Zeit des Kalten Krieges, nach dem antikommunistischen Krieg in Korea und während des Krieges in Vietnam, wurde der Staatsstreich Suhartos und die anschließende Einsetzung seines Regimes von vielen Ländern unterstützt. Verschiedene westliche Demokratien, darunter unser ehemaliger Kolonialherr, bevorzugten – offen oder heimlich – ein Militärregime statt einer jungen demokratischen Republik, die enge Beziehungen zu anderen sozialistischen und kommunistischen Ländern in der Region aufgebaut hatte. Die CIA und andere Geheimdienste lieferten angeblich Waffen und Informationen.
Das Banner People’s Justice inszeniert diese inneren und äußeren Machtverhältnisse in einer bildhaften Szene und versucht, die komplexen historischen Umstände durch eine Bildsprache einzufangen, die ebenso verstörend ist wie die Realität der Gewalt selbst. Es ist wahr, dass die Form der Darstellung aus Enttäuschung, Frustration und Wut politisierter Kunststudent*innen stammt, die kurz zuvor viele ihrer Freunde in den Straßenkämpfen von 1998 verloren hatten – einem Aufstand, der schließlich zum Rücktritt des Diktators führte.
Die von uns verwendete Bildsprache ist jedoch nie aus Hass gegen eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe entstanden, sondern als Kritik an Militarismus und staatlicher Gewalt gedacht. Wir bedauern, dass wir eine mögliche Beteiligung der Regierung des Staates Israel so völlig unangemessen dargestellt haben – und entschuldigen uns aufrichtig dafür. Antisemitismus hat weder in unseren Gefühlen noch in unseren Gedanken einen Platz.
Wir sind zur documenta fifteen gekommen, um die globalen Bemühungen zu unterstützen, sich mit dem kolonialen Erbe auseinanderzusetzen. Wir begrüßen den Mut der documenta fifteen und die Vision von ruangrupa, dieses Erbe zu hinterfragen, das zu staatlich unterstütztem Autoritarismus und Gewalt geführt hat. Wir sind überzeugt, dass ein offener und ehrlicher Dialog der beste Ansatz ist, um Lösungen zu finden und gemeinsam zu handeln. In den letzten Tagen kamen viele Besucher*innen in unsere Ausstellung im Hallenbad Ost, um unsere Kunstwerke zu sehen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Viele von ihnen haben sich die Zeit genommen, mit uns zu sprechen und sowohl ihre Wertschätzung als auch ihre Kritik zu übermitteln, und wir hoffen, dass dies so bleibt.
23.06.2022
ruangrupa und das Künstlerische Team über den Abbau von „People’s Justice“
Pressemeldung documenta fifteen
Trotz teils heftiger Kontroversen im Vorfeld eröffnete die documenta fifteen mit einer Woche voller Freude, Hoffnung und Austausch und einer einzigartigen Atmosphäre in der ganzen Stadt Kassel. Unser Dank gilt dem gesamten Team der documenta, der lumbung-Community und allen, die uns seit vergangener Woche besucht und damit zum Gelingen unserer kollektiven Arbeiten und des kollektiven Prozesses beigetragen haben. Wir danken auch den zahlreichen Menschen, die uns willkommen geheißen haben und der documenta fifteen mit offenen Augen und Herzen begegnet sind. Dies gilt insbesondere für all die wunderbaren Menschen, die diese Ausstellung in unterschiedlichen Funktionen möglich machen, von den Ticketverkäufer*innen bis zu den Aufsichten.
Umso größer ist unser Bedauern darüber, dass all dieses Engagement und die großartigen Kunstwerke nun durch die Ereignisse um Taring Padis Arbeit People’s Justice (2002), die sich seit Montag, 20. Juni 2022 entwickelten, überschattet sind. Die Arbeit wurde infolgedessen verdeckt und einen Tag später auf Anraten des Aufsichtsrats, in Absprache mit der Geschäftsführung der documenta, abgenommen. Tatsache ist, dass wir es versäumt haben, die Darstellung, die klassische antisemitische Stereotype transportiert, in der Arbeit zu erkennen. Das war unser Fehler. Im Austausch mit Taring Padi unterstützen wir die Entscheidung, die Arbeit abzunehmen, auch in Anbetracht der Prinzipien und Werte Taring Padis: stets in engem Austausch mit Bürger*innen und mit Respekt für ethnische und religiöse Unterschiede zu arbeiten.
Wir entschuldigen uns für die Enttäuschung, Scham, Frustration und das Entsetzen, die diese Stereotype bei den Besucher*innen und dem gesamten Team, das hart daran gearbeitet hat, die documenta fifteen Wirklichkeit werden zu lassen, auslösten. Wir entschuldigen uns auch für den Schmerz und die Angst bei allen, die die Arbeit vor Ort oder in den Medien gesehen haben, und bei all jenen, die uns in den vergangenen Monaten in den Medien und bei der documenta gegen ungerechtfertigte Vorwürfe und Anschuldigungen verteidigt haben.
Die Bildsprache knüpft, wie wir jetzt in Gänze verstehen, nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden. Es ist ein Schock, nicht nur, aber insbesondere für die jüdische Gemeinde in Kassel und in ganz Deutschland, die wir als unsere Verbündeten betrachten und die immer noch unter dem Trauma der Vergangenheit und mit anhaltender Diskriminierung, Vorurteilen und Ausgrenzung leben. Es ist auch ein Schock für unsere Freund*innen, Nachbar*innen und Kolleg*innen, für die der Kampf gegen alle Formen von Unterdrückung und Rassismus ein existenzielles Element ihrer politischen, sozialen und künstlerischen Vision ist.
Wir nutzen den Anlass, um uns über die grausame Geschichte des Antisemitismus weiterzubilden und sind schockiert, dass diese Darstellung in das betreffende Werk Eingang gefunden hat. Dieses kollektiv geschaffene Banner verweist auf die rechtlich und gesellschaftlich unaufgearbeitete dunkle Geschichte Indonesiens seit 1965 während der Ära der „Neuen Ordnung“ (Orde Baru).
Wir möchten diesen Moment dazu nutzen, unsere Hoffnung auszudrücken, dass all die in die documenta fifteen investierte Arbeit nicht umsonst war, genauso wenig wie die Arbeit aller, die uns unterstützt und mit uns zusammengearbeitet haben. Die documenta fifteen ist so viel mehr.
Wir sind sehr dankbar für die konstruktive Kritik und Solidarität, die wir von vielen Menschen in Kassel, in Deutschland, von Institutionen und Partner*innen erfahren haben. Wir möchten aber gleichzeitig darauf hinweisen, dass viele der Angriffe gegen uns nicht in ehrlicher Absicht erfolgt sind. Wir haben den Eindruck, dass viele der Vorwürfe gegen uns erhoben wurden, ohne dass zuvor der Versuch unternommen wurde, in einen offenen Austausch und in einen Prozess des voneinander Lernens einzutreten.
Wir sind hier um zu bleiben und entschlossen, die Ausstellung trotz der Schwierigkeiten fortzusetzen. Wir stehen für offene, ehrliche Gespräche und kollektives Lernen bereit. Wir tun dies als Menschen mit Fehlern, Unzulänglichkeiten, Stärke und Courage und möchten alle, die bereit sind, uns auf Augenhöhe begegnen, zu einem kritischen und fruchtbaren Dialog einladen.
Wir möchten das Gespräch mit allen fortsetzen, die uns unterstützt und an uns geglaubt haben. Wir möchten auch mit der Öffentlichkeit, den Besucher*innen und lokalen Graswurzelbewegungen, denen unsere Arbeit etwas bedeutet, im Austausch bleiben.
23.06.2022
Weitere Maßnahmen durch die Geschäftsführung der documenta gGmbH initiiert
Pressemeldung documenta fifteen
ruangrupa, das Künstlerischen Team und die Künstler*innen hatten der documenta zugesichert, dass es auf der documenta keinen Raum für Antisemitismus geben wird. Ich hatte gesagt, dass wir umgehend eingreifen, wenn im Rahmen der komplexen Struktur mit so vielen Beteiligten doch antisemitische Inhalte entdeckt würden. Das habe ich nun getan, um weiteren Schaden von der laufenden documenta fifteen und allen kommenden documenta Ausstellungen abzuwenden.
Sofort nach Bekanntwerden der antisemitischen Figurenmotive auf dem Banner People’s Justice (2002) habe ich am Montag ruangrupa und Taring Padi die Grenzüberschreitung aufgezeigt, die in dieser verletzenden Darstellung liegt. Als Sofortmaßnahme wurde das Wandbild zunächst verdeckt und in Abstimmung mit dem documenta Aufsichtsrat am nächsten Tag abgebaut.
Ich stehe nach wie vor dafür, dass unsere freiheitlich demokratische Gesellschaft der Kunst den notwendigen Freiraum gibt. Aber dies kann und darf nicht antisemitische Darstellungen rechtfertigen. Daher habe ich umgehend weitere Maßnahmen eingeleitet. Die Verantwortlichen werden binnen kurzer Frist Stellung nehmen müssen, wie es zu der mangelhaften Kontrolle des Banners und dem Verstoß gegen die getroffene Vereinbarung kommen konnte.
Aufgrund der möglichen Versäumnisse der Verantwortlichen lassen wir nun die auf 30.000 m² an 32 Standorten ausgedehnte Ausstellung auf weitere kritische Werke hin begutachten. Es ist möglich, dass dafür einzelne Ausstellungsteile kurzzeitig geschlossen werden. ruangrupa habe ich aufgefordert, ihre kuratorische Aufgabe und die Rolle als künstlerische Leitung in diesem Prozess wahrzunehmen. Unterstützt werden sie von anerkannten Expert*innen wie Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank in Frankfurt, und mit ausgewiesener rechtlicher Expertise. Eindeutig antisemitische Darstellungen werden deinstalliert, bei strittigen Positionen eine angemessene Debatte geführt. Außerdem behalten wir uns das Recht vor, einzelne Künstler*innen auszuladen. Dabei wird auch beachtet, dass sich die Ausstellung nach dem Konzept von ruangrupa ständig weiterentwickelt.
Schließlich werden wir den angekündigten Dialog nächste Woche, am Mittwoch, 29. Juni 2022, um 18.30 Uhr in der UK 14 mit einem gemeinsam mit der Bildungsstätte Anne Frank ausgerichteten Podiumsgespräch aufnehmen. Dies soll auch der Auftakt sein zu weiteren Gesprächen. Darüber hinaus wird die Bildungsstätte Anne Frank in Zusammenarbeit mit weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren einen Begegnungs- und Informationsstand auf dem Friedrichsplatz etablieren, an dem Besucher*innen, aber auch Künstler*innen in einen Dialog zu Fragen des Antisemitismus und Rassismus kommen können.
Von Anfang an ist für die documenta als internationale Kunstausstellung die absolute Freiheit der künstlerischen Leitung und Kurator*innen konstitutiv. Die Aufgaben der Geschäftsführung liegen in der Organisation der Ausstellung. Ich bin nicht für das künstlerische Programm zuständig, sondern dafür, dem künstlerischen Team den technischen Freiraum für die Umsetzung zu geben. Die Auswahl von Künstler*innenpositionen, Projekten und Arbeiten zählt dabei zu den Kernaufgaben der Künstlerischen Leitung, auf die alle Kuratorinnen und Kuratoren der vergangenen documenta Ausstellungen bestanden haben und immer bestehen werden. Es ist nicht die Zuständigkeit der Geschäftsführung, die Werke vorab in Augenschein zu nehmen und freizugeben. Das würde der Kunstfreiheit der documenta ebenso widersprechen wie die Freigabe durch ein Expert*innengremium.
Die Entscheidung für das indonesische Künstler*innenkollektiv ruangrupa ist von einer international und national besetzten Findungskommission getroffen worden. Die Nominierung wurde als große Chance wahrgenommen, in einen Dialog mit dem Globalen Süden einzutreten. ruangrupa sind mit einem völlig neuartigen kuratorischen Konzept angetreten. Sie haben einen ergebnisoffenen Prozess gestartet, der eine weltweite Netzwerkbildung aus Künstler*innen und Kollektiven vorsieht. Dieses Netzwerk ist mittlerweile auf mehr als 1.500 Personen angewachsen. ruangrupa begreifen sich nicht als klassische Kurator*innen, die die alleinige Verantwortung für die Auswahl der Arbeiten oder deren Verortung im Raum tragen. Auch sie sind Teil des weltumspannenden Netzwerkes, deren leitende Motive Nachhaltigkeit, Solidarität, Ressourcenteilung, Teilhabe und Gemeinwohlorientierung sind. Dies hat eine zum Nachdenken anregende, fröhliche und einladende documenta fifteen hervorgebracht, „ein Bild einer Welt, die aus vielen Welten, besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus“, wie die internationale Findungskommission schreibt.
Die Kehrseite dieses offenen Prozesses ist, dass die unterschiedlichen kulturellen Erfahrungsräume aller Beteiligten in Kombination mit der kollektiven Entscheidungsfindung sowie der corona-bedingten, rein digitalen Vorbereitung auch zu Missverständnissen und Fehlentwicklungen geführt haben, die ruangrupa im laufenden Prozess nicht komplett steuerte und damit auch nicht auflöste. Die Künstler*innen und ihre Werke trafen erst sehr spät in Kassel ein. All dies hat leider zur öffentlichen Präsentation der Arbeit People’s Justice von Taring Padi geführt, die eine nicht zu tolerierende antisemitische Bildsprache aufweist. Davon haben sich auch die gGmbH und ich mich persönlich ausdrücklich distanziert.
Das betreffende Banner gehörte zu einer Fülle von Arbeiten von Taring Padi, die verspätet per Schiffscontainer in Kassel eintrafen. Erst beim Aufhängen wurde bemerkt, dass das zwanzig Jahre alte Banner, welches aus vier Einzelteilen besteht, so beschädigt war, dass es von einer externen Firma für die Befestigung verstärkt werden musste. Aus diesem Grund wurde die Arbeit nicht bis zum Mittwoch, sondern erst am Freitagnachmittag aufgehängt. Weil es ein sehr detailreiches Bild ist, sind die antisemitischen Figuren erst nach Ende des eng getakteten Eröffnungswochenendes aufgefallen.
Es ist nicht angezeigt, die gesamte Ausstellung mit ihren tausenden von Werken und Projekten unter Generalverdacht zu stellen: Die documenta fifteen liefert Denkanstöße und setzt Impulse für Solidarität und Gemeinschaft, was vom Publikum positiv wahrgenommen wird. Dies sollte bei aller Kritik weiterhin entsprechend gewürdigt werden.
23.06.2022
Findungskommission der documenta fifteen zur Deinstallation von „People’s Justice“
Pressemeldung documenta fifteen
„Als Mitglieder der Findungskommission für die Künstlerische Leitung der documenta fifteen stehen wir zu unserer Auswahl von ruangrupa, die diesjährige Ausgabe dieser historischen Ausstellung in Kassel zu kuratieren. Wir haben den Prozess der Entwicklung der documenta fifteen aus der Ferne verfolgt. Die Ausstellungen und Veranstaltungen, an denen wir während der Vorbesichtigungs- und Eröffnungstage teilnahmen, übertrafen all unsere Erwartungen.
Insgesamt fanden wir die Präsentationen generös, zum Nachdenken anregend, lebendig und einladend. Die documenta fifteen bietet ein Bild einer Welt, die aus vielen Welten besteht, ohne Hierarchie oder Universalismus. Wir möchten den Kurator*innen sowie allen lumbung member als auch dem gesamten documenta Team zu ihren herausragenden Leistungen gratulieren. Sie zeigen uns eine Vision von kollektiver Kunst und wie eine künftige, öffentliche Rolle der Kunst aussehen könnte.
Wir sind daher mehr als erschüttert über die Entdeckung von Karikaturen, die nicht anders als antisemitisch gelesen werden können. Wir sehen einen Unterschied zwischen Kritik am israelischen Staat und Antisemitismus, aber Bilder, die auf Nazi-Karikaturen verweisen, dürfen keinen Raum in dieser Ausstellung haben. Wir verstehen die Verletzungen, die sie verursacht haben. Wir unterstützen daher die Entscheidung der Künstler*innen, von Dr. Sabine Schormann und ihrem Team sowie des Aufsichtsrates, das Werk People’s Justice von Taring Padi vom Friedrichsplatz zu entfernen.
Das Erbe des europäischen Kolonialismus und die anhaltende Matrix globaler Machtverhältnisse sind Themen, die fast alle Lebewesen dieses Planeten berühren. Diese Zusammenhänge und gemeinsame Anliegen kommen in Westeuropa erst allmählich an und wir sind davon überzeugt, dass diese documenta einen bedeutenden Schritt dahingehend macht, ihnen im kulturellen Bereich Gestalt zu geben. Wir möchten daher unseren Respekt für das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi und seinen langjährigen Kampf gegen die Unterdrückung und Diktatur während der Suharto-Jahre in Indonesien zum Ausdruck bringen.
Wenn wir an die öffentliche Debatte appellieren können, dann ist es, allen 1.500 Künstler*innen dieser vielschichtigen und kraftvollen Ausstellung Gehör zu leisten. Wir ermutigen alle, darauf zu schauen, was ruangrupa, das Künstlerische Team und deren Partner*innen zusammengestellt haben. Sie werden den Klang einer Welt hören, die sich über die Zeitzonen der Welt hinweg erhebt – eine Welt, die sagt, dass gegenwärtige Macht- und Beziehungssysteme nicht die Zukunft des Planeten bestimmen sollten. Klimakollaps und soziale Ungleichheit sind inakzeptabel, und es gibt in der Tat Wege, diese Last gemeinsam zu tragen. Das ist es, was uns die documenta fifteen bedeutet, und wir hoffen, dass sie dies auch für viele andere bedeuten kann.
Ein solch vielstimmiger Prozess der Wahrheitsfindung und Aussöhnung wird weder einfach noch ohne Fehler verlaufen. Es ist ein seltenes und ehrgeiziges Unterfangen in dieser Größenordnung, und wir sprechen der Stadt Kassel und dem Land Hessen unsere Wertschätzung und unseren Respekt aus, für ihre Offenheit, für diesen paradigmatischen Perspektivwechsel. Wir möchten auch Dr. Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH und ihrem Team danken für die Ermöglichung dieses gewaltigen Unterfangens mit herausragenden Ergebnissen trotz einer globalen Pandemie. Nicht zuletzt möchten wir ruangrupa, dem Künstlerischen Team der documenta fifteen und allen daran beteiligten Kollektiven und Einzelpersonen unsere bedingungslose Unterstützung aussprechen für die Fortsetzung dieses nicht-hierarchischen Pluriversums, zu dem sie uns alle einladen, um zu sehen und hören, zu diskutieren und daran teil zu haben.“
Amar Kanwar, Charles Esche, Elvira Dyangani Ose, Frances Morris, Gabi Ngcobo, Jochen Volz, Philippe Pirotte, Ute Meta Bauer
21.06.2022
Statement von Dr. Sabine Schormann zur Deinstallation des Banners „People’s Justice“ von Taring Padi
Pressemeldung documenta fifteen
Gemeinsam mit ruangrupa, dem Artistic Team und den beteiligten Künstler*innen haben wir versichert, dass auf der documenta fifteen keine antisemitischen Inhalte zu sehen sein werden – andernfalls würden wir umgehend einschreiten. Dieses Versprechen haben wir leider nicht gehalten. Das hätte nicht passieren dürfen.
Als die antisemitische Bildsprache auf dem Banner People’s Justice von Taring Padi entdeckt wurde, habe ich sofort das Gespräch mit allen Beteiligten gesucht. Gemeinsam haben wir als erste Maßnahme die Entscheidung getroffen, das Wandbild zu verdecken und eine Erläuterung zu den Entstehungsumständen des Werkes in Indonesien zu geben. Allen Beteiligten, das möchte ich nochmal ausdrücklich betonen, tat und tut es außerordentlich leid, Grenzen überschritten und Gefühle verletzt zu haben. Ausdrücklich entschuldigen wir uns auch dafür, dass die antisemitischen Darstellungen nicht vor der Hängung der Arbeit erkannt wurden.
Der Aufsichtsrat hat mich heute Vormittag darin bestärkt, das Wandbild im nächsten Schritt abzuhängen. Antisemitische Darstellungen dürfen in Deutschland, auch in einer weltweit ausgerichteten Kunstausstellung keinen Platz haben. Dies gilt ausdrücklich auch bei allem Verständnis für die Belange des Globalen Südens und die dort verwendete Bildsprache. Mit Respekt für die Unterschiedlichkeit der kulturellen Erfahrungsräume wird der mit der documenta fifteen begonnene Dialog weitergeführt.
20.06.2022
Oberbürgermeister Christian Geselle bezieht Stellung — Kunstwerk mit offenbar antisemitischen Abbildungen wird komplett verhüllt
Pressemeldung Stadt Kassel
Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle, Aufsichtsratsvorsitzender der documenta gGmbH, hat nach Bekanntwerden der ganz offensichtlichen antisemitischen Abbildungen auf dem am Friedrichsplatz gezeigten Protestbanners des indonesischen Kollektivs Taring Padi deutlich Stellung bezogen.
„Ich habe heute Morgen über die im Nachrichtendienst Twitter kursierenden Fotos und damit verbundenen Vorwürfe des Antisemitismus Kenntnis erlangt. Daraufhin habe ich umgehend die documenta-Geschäftsführung um Aufklärung sowie um Einleitung notwendiger Maßnahmen gebeten. Gleichzeitig werden die Gesellschafter der documenta zu einer Sitzung zusammenkommen.
Antisemitismus darf auf der documenta keinen Platz haben. Das ist so und bleibt auch so. Bei der Abbildung auf dem Kunstwerk, das nach meiner derzeitigen Kenntnis erst am Samstag auf dem Friedrichsplatz installiert wurde, handelt es sich um einen ganz offensichtlichen antisemitischen Verstoß, der nicht von der Hand zu weisen ist.
Ich erwarte von der künstlerischen Leitung — die sich ebenfalls klar gegen Antisemitismus, Rassismus und jegliche Art von Diskriminierung positioniert hat — hier verantwortungsvoll zu reagieren. Allerdings warne ich gleichzeitig davor, jetzt die documenta fifteen unter Generalverdacht zu stellen. In den Preview Days, die vergangene Woche von Mittwoch bis Freitag für Fachpublikum und Medien stattgefunden haben, waren keine antisemitischen Kunstwerke vorher feststellbar.“
Geschäftsführung und künstlerische Leitung der documenta fifteen haben gemeinsam mit der Künstlergruppe Taring Padi beschlossen, das Kunstwerk komplett zu verdecken.
20.06.2022
Presseinformation zur Verdeckung einer Arbeit von Taring Padi auf der documenta fifteen
Pressemeldung documenta fifteen
Aufgrund einer Figurendarstellung in der Arbeit People’s Justice (2002) des Kollektivs Taring Padi, die antisemitische Lesarten bietet, hat sich das Kollektiv gemeinsam mit der Geschäftsführung und der Künstlerischen Leitung entschieden, die betreffende Arbeit am Friedrichsplatz zu verdecken und eine Erklärung dazu zu installieren.
Taring Padi äußert sich dazu wie folgt:
„Die Banner-Installation People’s Justice (2002) ist Teil einer Kampagne gegen Militarismus und die Gewalt, die wir während der 32-jährigen Militärdiktatur Suhartos in Indonesien erlebt haben und deren Erbe, das sich bis heute auswirkt. Die Darstellung von Militärfiguren auf dem Banner ist Ausdruck dieser Erfahrungen. Alle auf dem Banner abgebildeten Figuren nehmen Bezug auf eine im politischen Kontext Indonesiens verbreitete Symbolik, z.B. für die korrupte Verwaltung, die militärischen Generäle und ihre Soldaten, die als Schwein, Hund und Ratte symbolisiert werden, um ein ausbeuterisches kapitalistisches System und militärische Gewalt zu kritisieren. Das Banner wurde erstmals 2002 auf dem South Australia Art Festival in Adelaide ausgestellt. Seitdem wurde das Banner an vielen verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten gezeigt, insbesondere bei gesellschaftspolitischen Veranstaltungen, darunter: Jakarta Street Art Festival (2004), die retrospektive Ausstellung von Taring Padi in Yogyakarta (2018) und die Polyphonic Southeast Asia Art Ausstellung in Nanjing, China (2019).
Taring Padi ist ein progressives Kollektiv, das sich für die Unterstützung und den Respekt von Vielfalt einsetzt. Unsere Arbeiten enthalten keine Inhalte, die darauf abzielen, irgendwelche Bevölkerungsgruppen auf negative Weise darzustellen. Die Figuren, Zeichen, Karikaturen und andere visuellen Vokabeln in den Werken sind kulturspezifisch auf unsere eigenen Erfahrungen bezogen.
Die Ausstellung von People’s Justice auf dem Friedrichsplatz ist die erste Präsentation des Banners in einem europäischen und deutschen Kontext. Sie steht in keiner Weise mit Antisemitismus in Verbindung. Wir sind traurig darüber, dass Details dieses Banners anders verstanden werden als ihr ursprünglicher Zweck. Wir entschuldigen uns für die in diesem Zusammenhang entstandenen Verletzungen. Als Zeichen des Respekts und mit großem Bedauern decken wir die entsprechende Arbeit ab, die in diesem speziellen Kontext in Deutschland als beleidigend empfunden wird. Das Werk wird nun zu einem Denkmal der Trauer über die Unmöglichkeit des Dialogs in diesem Moment. Wir hoffen, dass dieses Denkmal nun der Ausgangspunkt für einen neuen Dialog sein kann.“
Sabine Schormann, Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH dazu: „Die Geschäftsführung der documenta ist keine Instanz, die sich die künstlerischen Exponate vorab zur Prüfung vorlegen lassen kann und darf das auch nicht sein. Das Banner wurde am vergangenen Freitagnachmittag am Friedrichsplatz installiert, nachdem notwendige Reparaturen an der 20 Jahre alten Arbeit durchgeführt wurden. Ich möchte noch einmal ausdrücklich darauf hinweisen, dass das Werk nicht für Kassel, nicht für die documenta fifteen konzipiert wurde, sondern im Kontext der politischen Protestbewegung Indonesiens entstanden ist und dort wie an anderen außereuropäischen Orten gezeigt wurde. Dies ist das erste Mal, dass die Arbeit in Deutschland und in Europa gezeigt wird. Alle Beteiligten bedauern, dass auf diese Weise Gefühle verletzt wurden. Gemeinsam haben wir beschlossen, das Banner zu verdecken. Ergänzend holen wir weitere externe Expertise ein.“
04.05.2022
Gesprächsreihe „We need to talk! Art – Freedom – Solidarity“ ausgesetzt
News documenta fifteen
Die documenta hat, auch nach Rücksprache mit verschiedenen Teilnehmer*innen, entschieden, die für den 8., 15. und 22. Mai 2022 geplante Veranstaltungsreihe We need to talk! Art – Freedom – Solidarity auszusetzen.
Die documenta wird zunächst die Ausstellung beginnen und für sich sprechen lassen, um die Diskussion dann auf dieser Basis sachgerecht fortzusetzen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint das Ziel, das die documenta mit der Gesprächsreihe erreichen wollte, nämlich im Vorfeld der documenta fifteen einen multiperspektivischen Dialog jenseits institutioneller Rahmen zu eröffnen, nur schwer umsetzbar. Der documenta ist es wichtig, den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen. Die bisherigen Ansätze sollen als verändertes Format vor Ort in Kassel während der documenta fifteen weiterentwickelt werden. Das gibt auch Gelegenheit, auf Bedenken eingehen zu können, die in den vergangenen Tagen öffentlich wurden.
Der Dank der documenta gilt den Podiumsteilnehmer*innen für ihre Bereitschaft, an der geplanten Veranstaltungsreihe We need to talk! Art – Freedom – Solidarity mitzuwirken.
14.04.2022
Stellungnahme zur aktuellen Berichterstattung über die Antisemitismus-Vorwürfe
News documenta fifteen
Aufgrund der aktuellen Presseberichterstattung, in der Zitate der Generaldirektorin der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Dr. Sabine Schormann, unvollständig wiedergegeben und unzutreffend interpretiert werden, besteht Anlass zu folgenden Klarstellungen in Hinblick auf die Haltung der documenta und ihrer Generaldirektorin:
Jede Form von Antisemitismus oder antisemitischen Äußerungen, seien sie direkt oder indirekt, werden von der documenta abgelehnt und nicht toleriert. Eine gruppenbezogene oder individuelle Menschenfeindlichkeit oder Diskriminierung gegenüber jüdischen Personen ist für die documenta nicht akzeptabel. Hierzu hatte sich die documenta u.a. in zwei Statements bereits Anfang des Jahres eindeutig positioniert. Diese richteten sich auch gegen jede Form von Rassismus.
Soweit BDS-Anhänger*innen antisemitische Positionen vertreten, wird dies von der documenta nicht geschützt. Die documenta darf kein Forum bzw. keine Plattform sein, Antisemitismus zu verbreiten oder zu tolerieren. Die documenta redet nicht, wie behauptet, Antisemitismus als mögliche Nebenfolge des Rechts auf Kunst- und Meinungsfreiheit herunter. Zu einer solchen Aussage gibt es keinen Anlass. Die documenta blendet auch nicht aus, dass es verstärkt Antisemitismus gibt. Diese Entwicklung hat die Generaldirektorin ausdrücklich als „entsetzlich“ bezeichnet.
Als internationale Kunstveranstaltung muss die documenta als wichtige Plattform des internationalen kulturellen Austauschs in einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft – ihrem Bildungsauftrag gemäß – die Rahmenbedingungen für multiperspektivische, differenzierte und kritische Diskussionen bieten. Dabei dürfen die Grenzen zum Antisemitismus und Rassismus nicht überschritten werden.
Dieser Raum soll mit der Gesprächsreihe We need to talk! Art – Freedom – Solidarity, deren Konzeption und Teilnehmer*innen inzwischen bekannt sind, ermöglicht werden.