DAS LEID ANERKENNEN
DIE FOTOGRAFIN HELENA SCHÄTZLE
Menschen das Mitfühlen wieder nahebringen, diesem Wunsch folgt die Fotografin und Bildjournalistin Helena Schätzle. Die Kasselerin engagiert sich in internationalen Projekten für mehr soziale Verantwortung und Menschlichkeit und sagt: »Ich mache in meiner Arbeit nichts anderes als hinzuschauen.« Ihre Bilder bringen auf eindrucksvolle Weise das Dunkelste und das Hellste in Menschen zusammen. Sie erzählen von Gewalt, Verwüstung, Flucht und Armut. Aber auch von Hoffnung, Mut, Liebe, und Vergebung.
VON SARAH ZIMMERMANN
Mehrmals reist sie zwischen 2008 und 2012 durch Osteuropa, tastet sich Kilometer für Kilometer vor oder vielmehr zurück in die Vergangenheit des Großvaters und in ein bedrückendes Kapitel deutscher Geschichte. Ihr Großvater, der zu diesem Zeitpunkt noch lebt, sei als stiller Begleiter immer dabei gewesen. »Er ist diese Reise wie in einem inneren Prozess mit mir mitgegangen, während ich sie real gemacht habe.« In intensiven Gesprächen befragt sie Frauen und Männer unterschiedlicher Regionen, Generationen und Konfessionen zu ihren Lebenserinnerungen und persönlichen Erfahrungen. Die Erzählungen von früher verknüpft sie anschließend mit historischen Original-Aufnahmen und Bildern von heute: Landschaften, Porträts. »An dem Projekt gab es auch Kritik: „Wie kannst du deutsche Soldaten neben jüdische Überlebende stellen und das eins zu eins abbilden?“ Ja, meine Arbeit stellt mich immer wieder vor moralische Fragen. Ich finde es wichtig, ein Verständnis dafür zu schaffen, dass Krieg immer nur Leid verursacht – auf allen Seiten und auch in den nachfolgenden Generationen.«
Für Helena Schätzle eröffnen sich über den Weg der Fotografie neue Perspektiven auf gesellschaftlich relevante Themen. »Man müsste eigentlich die ganze Zeit was tun, und ist als Einzelperson total überfordert. Natürlich ist das reine Fotografieren nicht genug. So schauen wir in verschiedenen Projekten immer, was wir über die Fotografie hinausgehend tun können.« Wir, das sind Menschenrechtsorganisationen, Sozialarbeiter*innen und Ehrenamtliche, mit denen sie immer wieder zusammenarbeitet. Zahlreiche Projekte sind so bereits entstanden, viele davon in Indien, wo die heute 36-Jährige einige Jahre lebte. Gräueltaten an Dalit hat sie dokumentiert, den „Alltag“ von Ehepaaren, die als Kinder miteinander verheiratet wurden, Mädchen und Frauen, die im häuslichen Umfeld Gewalt erfahren haben.
2006 lernt sie am Strand von Mumbai Meena kennen, mit der sie bis heute eine enge Freundschaft und ein gemeinsames Buchprojekt verbindet: TO MEENA, CHOWPATTY BEACH, MUMBAI, INDIA. Das Buch fächert in Fotografien und kurzen Texten Seite für Seite Meenas unglaubliche Lebensgeschichte auf.
Ein Leben, das geprägt ist von Gewalt, Verlust, Vertreibung und Armut – und dem täglichen Kampf um Bleiberecht am berühmt-berüchtigten Chowpatty Beach von Mumbai. Dort, wo Touristen und die indische Mittelschicht ausgelassen feiern, während hinter der nächsten Strandkurve tausende Obdachlose um ihr Überleben kämpfen. Ihr Quartier ein Provisorium zu nennen, wäre schon übertrieben: zwischen Decken und Plastikplanen kocht Meena an der Feuerstelle, spielen die Kinder mit allem, was sich zum Spielzeug umfunktionieren lässt. Aus unserer europäischen Sicht würden wir sagen: Sie haben nichts. Doch auch dieses Nichts reicht. Meena sei sehr stark und lebensfroh, begegne allen Schwierigkeiten mit einem Lächeln, beschreibt Helena Schätzle ihre Freundin. »Ihr Blick auf die Welt ist der einer Künstlerin und einer Spirituellen. Nach jedem Rückschlag steht sie wieder auf und findet einen neuen Weg, in diesem Umfeld zu überleben, das sie ihr Zuhause nennt. Besitz ist ihr nicht wichtig. Sie braucht nicht mehr als den Himmel über sich, die Wellen vor sich und das Lachen ihrer Kinder und Enkelkinder um sich.« Um sich und ihre Familie durchzubringen, verkauft sie Zeichnungen und Gedichte und setzt sich als eine der wenigen Gebildeten am Strand für die Rechte von Obdachlosen ein. Mit dem Erlös des Buchverkaufes will sie ihren Enkeln Zugang zu besserer Bildung ermöglichen.
Es geht mir immer darum, Themen aufzuzeigen, Denkanstöße zu geben und mich mit sozial relevanten Inhalten zu beschäftigen, die aber nicht in der Ferne liegen müssen«, sagt Helena Schätzle. »Es ist auch ein bisschen Zufall, dass ich so viel in Indien gearbeitet habe. Die Projekte über Gewalt an Mädchen und Frauen hätte ich auch in Deutschland machen können.«
Anders als einige ihrer Kolleginnen und Kollegen rückt sie nicht plakativ das Leid und Elend der Opfer in den Fokus. Das Unmittelbare und sehr Würdevolle ihrer Bilder hat auch viel mit der Haltung zu tun, mit der sie den Menschen begegnet, und die auf Vertrauen und Wärme basiert. »Meine Bilder sind sehr nah. Ich mache keine Street-Photography und stehe mit dem Tele-Objektiv heimlich an einer Straßenecke. Ich will die Menschen und ihre Geschichten wirklich kennenlernen.«
Man müsste eigentlich die ganze Zeit was tun, und ist als Einzelperson total überfordert. Natürlich ist das reine Fotografieren nicht genug. So schauen wir in verschiedenen Projekten immer, was wir über die Fotografie hinausgehend tun können.
Die so entstehenden Fotografien sind das Ergebnis intensiver Beziehungsarbeit, während der ihr die Menschen tiefe Einblicke in ihre Biografien und ihre Innenwelt erlauben. Die Intention sei der Schlüssel, so Schätzle. »Die Menschen, die ich fotografiere, wissen ja, weshalb ich sie fotografiere. Dass ich ein Projekt mache zu einem bestimmten Thema. Das Wichtigste ist, ihnen auf Augenhöhe und mit Respekt zu begegnen. Es gibt Situationen, in denen ist es einfach nicht angebracht zu fotografieren. Auch dafür habe ich ein gutes Gefühl entwickelt.«
Es geht mir immer darum, Themen aufzuzeigen, Denkanstöße zu geben und mich mit sozial relevanten Themen zu beschäftigen, die aber nicht in der Ferne liegen müssen.
Wenn sie Elias Feinzilberg in Jerusalem besucht, dann breitet er seine Arme zur Begrüßung weit aus. Mit allem, was an Kraft und Freude in seiner 102-jährigen Stimme liegt, ruft er ihr entgegen: . הלנ ה ‚אות ך אוהב אני . Helena, ich liebe dich! Eine Begegnung zwischen einer Deutschen, deren Großvater im Krieg gewesen ist, und einem Polen, der seine gesamte Familie im Holocaust verloren und selbst mehrere Konzentrationslager überlebt hat. Eine Begegnung, die heikel, beklemmend oder kühl sein kann. Diese ist es nicht. Für das Projekt LEBEN NACH DEM ÜBERLEBEN, das zwischen 2014 und 2016 in Kooperation mit der Hilfsorganisation AMCHA entstand, begleitete Helena Schätzle über mehrere Monate hinweg Überlebende des Holocaust und ihre Familien in Israel. Die Unvoreingenommenheit und Herzlichkeit, mit der ihr die Überlebenden begegnet seien, habe sie selbst überrascht – und tief berührt: »Das ist schon wahre Größe.«
Es ist wichtig für die Menschen, dass jemand kommt und zuhört. Bei all diesen Projekten war und ist es das Wichtigste überhaupt: dass das Leid anerkannt wird.
Behutsam erkundet Helena Schätzle die Lebenswelten der Menschen, in denen die Spuren der Vergangenheit noch immer sehr präsent sind, und die auch in den nachfolgenden Generationen fortleben. Die intimen Porträts und Interviews, die im Nachklang zu einer Wanderausstellung in Buchform erschienen sind, dokumentieren, wie diese Spuren aussehen: wenn die Einsamkeit mit am Tisch sitzt und der Appetit nicht zurückkommt, wenn die Erinnerung nachts mit im Bett liegt und den Schlaf raubt. Sie zeigen aber auch Momente des Glücks und der Freude, tiefer Verbundenheit, Lebensbejahung und Liebe.
Manches Mal, sagt Helena Schätzle, sei auch sie an einen Punkt gekommen, an dem sie den Erzählungen nur mit Sprachlosigkeit begegnen konnte. »[…] ich weiß nicht, was ich sagen soll. „Es tut mir leid,“ ist so klein für das, was ich fühle«, schreibt sie im Nachwort zum Buch. Dann habe es oft geholfen, noch mehr ins Fühlen zu gehen, Empathie zu zeigen. »Es ist wichtig für die Menschen, dass jemand kommt und zuhört. Bei all diesen Projekten war und ist es das Wichtigste überhaupt: dass das Leid anerkannt wird.«
Reisen und Arbeiten, für Helena Schätzle bedingt das eine oft das andere. Ihr gehe es darum, Menschen an den Orten zu fotografieren, die wichtig für ihre Geschichten sind. Viele Jahre verbrachte sie deshalb kaum mehr als zwei Wochen an einem Platz. Neben den immer wieder berührenden und herzlichen Begegnungen bleiben ihr vor allem die schweren Schicksale der Menschen im Gedächtnis. Zuzugeben, dass man von all dem auch mal Abstand brauche, gelte in ihrem Metier fast als Tabu. »Meine Arbeit lebt eben genau davon, dass ich das nicht habe: professionelle Distanz. Wir haben alle die Verantwortung hinzuschauen. Wir haben aber auch die Verantwortung, gut und liebevoll mit uns selbst umzugehen. Ich halte eine Aufarbeitung im Sinne einer guten Selbstfürsorge für uns Fotografinnen und Fotografen für ganz wichtig.«
Meine Arbeit lebt eben genau davon, dass ich das nicht habe: professionelle Distanz. Wir haben alle die Verantwortung hinzuschauen. Wir haben aber auch die Verantwortung, gut und liebevoll mit uns selbst umzugehen. Ich halte eine Aufarbeitung im Sinne einer guten Selbstfürsorge für uns Fotografinnen und Fotografen für ganz wichtig.«
In den letzten Monaten war sie weniger unterwegs, hat viel Zeit in Kassel verbracht, mal Pause gemacht. Und eine bereits 2012 angestoßene Kampagne weiter ins Rollen gebracht: Zusammen mit der Kasseler Kunsthistorikerin und Autorin Antonia Heyn hat Helena Schätzle begonnen, Geschichten von Menschen zu protokollieren, die Rassismus, Anfeindung und Antisemitismus erfahren haben. In ihren Gesprächen mit Betroffenen stellen die beiden immer wieder fest, dass „alte“ Verletzungen und Erfahrungen weder geheilt noch überschrieben werden können, aber sich viele trotzdem, oder gerade deshalb, aus tiefer Überzeugung für eine offene und solidarische Gesellschaft einsetzen. So wie Sergej aus Kassel, der als Schüler wegen seiner russischen Herkunft ausgegrenzt wurde und in der Musik Halt fand. Oder Lülüfer aus Izmir, die an der Ägäis-Universität zu Afrotürken in der Türkei forscht und sich mit der Macht von Sprache auseinandersetzt. »Allein die vergangenen Monate haben gezeigt, zu was Menschen fähig sind«, sagt Helena Schätzle.
»Wir sind immer wieder geschockt zu erleben, dass es heutzutage Menschen gibt, die in solchen extremen Vorurteilen und Hass-Kategorien denken. Wir wollen diesen Kreislauf durchbrechen.« Das so entstandene Projekt CROSSING NARRATIVES vernetzt in Bild‑, Video- und Text-Miniaturen diese Geschichten zu einer vielstimmigen, globalen Mutmach-Mindmap. Helena Schätzles Arbeiten zeigen, dass überall auf der Welt Grausames passiert. Dass Menschen verletzend, egoistisch, herzlos und brutal sein können. Was ihre Arbeiten aber auch und vor allem zeigen: dass immer wieder die Kraft durchbricht, Wut und Hass zu überwinden und sich dem Leben in Liebe zuzuwenden. Nicht einfach so. Nicht einfach. Doch manchmal möglich. »Menschen wie Elias, Meena und die vielen anderen lassen uns eben nicht nur in dieser Hilflosigkeit zurück, sondern sind auch ein Beispiel für das, was möglich ist: für die Liebe und Stärke in Menschen. Wie wunderbar wäre diese Welt. Wenn wir dort hinkommen könnten, in dieses Miteinander, in diese Liebe.«
Wir sind immer wieder geschockt zu erleben, dass es heutzutage Menschen gibt, die in solchen extremen Vorurteilen und Hass-Kategorien denken. Wir wollen diesen Kreislauf durchbrechen.
Helena Schätzle
Helena Schätzle wurde 1983 in Markdorf am Bodensee geboren. Sie studierte Visuelle Kommunikation an der Kunsthochschule Kassel und Fotojournalismus an der Fachhochschule Hannover.
Diverse Ausstellungen im In- und Ausland, Auftragsarbeiten u. a. für brand eins, GEO und ZEIT, eigene Bücher und Publikationen
Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Alfred Fried Award für das Friedensfoto 2016.
Als nächstes plant sie, Bildungsmaterial für den Einsatz in Schulen aufzubauen.
Vertreten durch die Bildagentur laif