Interview mit
Andreas Hoffmann
zur
Zukunft der documenta
ist der Leitgedanke des neuen Geschäftsführers der documenta
Am Abend des 8. Mai 2023 hatte das documenta forum den neuen Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH, Andreas Hoffmann, dazu eingeladen, am Jour Fixe teilzunehmen und sich den Mitgliedern des Vereins vorzustellen. Das documenta forum e.V., das 1972 von Arnold Bode als Freundes- und Unterstützerskreis der documenta gegründet wurde und sich dazu verpflichtet, Bodes Ausstellungsidee zu wahren und zu deren Weiterentwicklung beizutragen, veranstaltet regelmäßig einen Jour Fixe, lädt Persönlichkeiten mit Bezug zur documenta ein und begleitet mit kulturpolitischen Stellungnahmen, Gesprächen und Veranstaltungen die aktuellen Diskussionen um Kunst und Kultur. Andreas Hoffmann hatte aus diesem Anlass einen Input mit dem Titel „12 Thesen zur Zukunft der documenta“ vorbereitet, als Ausgangsbasis für die Gesprächsrunde, die nach dieser Einleitung stattfand.
„Thesen“, also keine statischen Grundsätze von allgemeiner Geltung, sondern Aspekte, die als Diskussionsgrundlage für weitere Gespräche dienen können. Ansichten, die, in ihrer dialektischen Argumentation, einer Antithese gegenübergestellt werden können, um in der Synthese aller Positionen eine Erkenntnis höherer Art gewinnen zu können.
Hier zeigt sich, Andreas Hoffmann nahm das documenta forum, als „Forum“ ernst, indem er Dialog anbot, ein miteinander denken.
Welt.Kunst.Kassel. spürt im Interview ausgewählten Thesen nach und spricht mit Andreas Hoffmann über die Zukunft der documenta und seine Vorhaben als Geschäftsführung der documenta und Museum Fridericianum gGmbH.
W.K.K.: Herr Hoffmann, Sie sind seit dem 1. Mai neuer Geschäftsführer der documenta und Museum Fridericianum gGmbH. Die documenta als weltweit bedeutendste Ausstellung zeitgenössischer Kunst ist eine Akteurin des Wandels, sie beschäftigt sich mit zentralen Themen der Menschheit, lenkt die Aufmerksamkeit auf Krisen und Konflikte unserer Welt und stellt mittels der Kunst drängende Fragen, die ebenso notwendig sind wie die möglichen Antworten. Keine leichte Ausgangsposition, auch nicht für einen ehrgeizigen und optimistischen Geschäftsführer.
Aber wo steht die documenta, nach den Ereignissen der documenta fifteen, heute? Welche Pläne und Ziele hat nun die documenta und Museum Fridericianum gGmbH?
A.H.: Wir müssen die Ereignisse des vergangenen Sommers schonungslos aufarbeiten. Es geht um eine Weichenstellung für die Zukunft der documenta in Kassel.
Ohne Zweifel: Auf das Antisemitismus-Problem wurde zu spät reagiert, es wurde nicht optimal kommuniziert und es wurde nicht konsequent kontextualisiert. Während die künstlerische Leitung, das Künstler*Innen Kollektiv ruangrupa, seine Verantwortung für die Ausstellung dazu nutzte, kritische Kontextualisierungen oder weitere Entfernungen von Werken abzuwehren, vertrat die Geschäftsführung, so der Vorwurf, ein rein passives Verständnis ihrer Rolle, das der Letztverantwortung der öffentlichen Hand für die documenta nicht gerecht wurde. Die Documenta geriet immer weiter ins Rutschen. Meron Mendel warf als Antisemitismus-Berater hin, bevor er seine Arbeit begonnen hatte, Hito Steyerl zog sogar ihre Werke zurück.
Claudia Roth sprach von koordinierter Verantwortungslosigkeit, bei der plötzlich gar niemand mehr verantwortlich ist. Die zögerliche Reaktion der documenta auf Fälle von Antisemitismus war für viele jüdische Bürger*innen und Organisationen verstörend.
Für die Gesellschafter, den Aufsichtsrat und mich als neuen Geschäftsführer und das Team der documenta gilt es, Konsequenzen aus den Antisemitismusvorfällen zu ziehen. Es geht um eine Weichenstellung für die Zukunft der documenta in Kassel und ganz konkret um 4 Punkte:
- Erstens um die Verständigung auf Standards im Umgang mit der Kunstfreiheit und ihren Grenzen;
- Zweitens um den Umgang mit jeglicher gruppenspezifischen Form der Menschenfeindlichkeit wie Antisemitismus, Rassismus und Antiziganismus, die auf keiner documenta auch nur ansatzweise einen Platz finden dürfen;
- Drittens um die Anpassung der Organisations- und Gremienstrukturen sowie
- Viertens um die Festlegung der Rahmenbedingungen, unter denen die Künstlerische Leitung der documenta 16 ihre kuratorische Verantwortung wahrnimmt und um die Rolle, die die Geschäftsführung in Zukunft einnehmen muss.
Seit Ende Januar und Anfang Februar 2023 stehen uns für die konkrete Aufarbeitung der Antisemitismusvorfälle des vergangenen Sommers zwei lang erwartete Gutachten zur Verfügung, die uns in den Wirren der documenta fifteen gefehlt haben.
Das ist zum einen das von Kulturstaatsministerin Claudia Roth Ende Januar veröffentlichte Gutachten des Berliner Verfassungsrechtlers Christoph Möllers zum Thema Kunstfreiheit, das ausgehend von der documenta fifteen juristisch klären sollte, wie weit die Kunstfreiheit reicht.
Das ist zum anderen der seit Anfang Februar vorliegende Abschlussbericht der wissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen unter der Leitung von Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, die vom Aufsichtsrat und den Gesellschaftern der documenta Ende Juli 2022 eingesetzt worden war, der klären soll, welche organisatorischen Konsequenzen aus dem Skandal des vergangenen Sommers zu ziehen sind.
Beide Gutachten sind für die documenta von immenser Bedeutung. Beide bilden wichtige Bausteine für die von mir zu koordinierende Organisationsuntersuchung der documenta zu den Strukturen, Zuständigkeiten, Verantwortlichkeiten und Abläufen, die zu einer vollkommenen Neuaufstellung der Organisation führen wird. Wir haben die Unternehmensberatung, die uns dabei begleitet, vor 14 Tagen bereits ausgesucht und die Organisationsuntersuchung hat bereits begonnen.
Ich bin überzeugt, dass auf diese Weise ein dauerhafter Schaden von der documenta abgewendet werden und die documenta zugleich Modellcharakter für den Umgang mit jeglicher Form von gruppenspezifischer Menschenfeindlichkeit in Kunst und Kultur erhalten kann.
____
W.K.K.: Wird der Geschäftsführer der documenta, wie im Expertenbericht angedeutet, nun Eingriffe in die Arbeit der künstlerischen Leitung nehmen?
A.H.: Christoph Möllers hat in seinem Gutachten für Kulturstaatsministerin Roth eine Trennung von künstlerischer Leitung und Verwaltungsleitung in Kulturinstitutionen als mögliche Lösung für den Spagat der Wahrung der Kunstfreiheit bei gleichzeitiger Wahrung der Kontrolle durch die öffentliche Hand skizziert. Der Abschlussbericht sieht jetzt in der Rolle des Geschäftsführers eine „Letztverantwortung der öffentlichen Hand“. Die Sorge in der Kunstszene ist groß, dass der Geschäftsführer der documenta damit zum staatlichen Oberaufseher für die Kuratoren wird. Ich glaube, diese Sorge ist unbegründet.
Sowohl das Gutachten von Christoph Möllers als auch der Abschlussbericht machen eines ganz klar: Es gibt den künstlerischen Bereich, die künstlerische Leitung, die von der Kunstfreiheit profitiert. Und es gibt staatlicherseits die Geschäftsführung, die diese Kunstfreiheit nicht genießt. Es ist gut, diese Bereiche zu trennen.
Für jede*n Kurator*In künftiger documenta Ausstellungen ist die Kunstfreiheit sichergestellt, sie ist gerade mit Blick auf die Ereignisse des Dritten Reiches (Berufsverbote für Künstler, die Aktion Entartete Kunst) eine ganz wesentliche Errungenschaft unserer Gesellschaft und verfassungsrechtlich geschützt.
Aber es gibt auch die Verwaltung, die davon nicht profitiert. Und die damit auch einen gewissen Gegenpart zur künstlerischen Leitung bilden kann und muss. Das ist ein gutes, wohlabgewogenes Mit- und Gegeneinander.
Die „Letztverantwortung“ der staatlichen Kulturverwaltung gibt es, um Grundrechte zu sichern – und zu diesem Pflichtenkanon gehört der Einsatz gegen Antisemitismus und Rassismus. Dieses Gegengewicht muss der Geschäftsführer oder die Geschäftsführerin im Zweifelsfall einnehmen und durchsetzen – natürlich in einem intensiven Austausch der unterschiedlichen Positionen, die beide Seiten vertreten müssen und sollen. Beschrieben wird also eine sehr aktive, kommunikationsorientierte Rolle der Documenta-Geschäftsführung, die sogar ihre Pflichten verletzt, wenn sie ihrer Aufgabe zum Schutz vor Diskriminierung nicht nachkommt. Dieses aktive Verständnis der Geschäftsführung ist für die documenta neu.
Die aktuelle Entscheidung der Staatsanwaltschaft Kassel, die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung bei der documenta abzulehnen, zeigt die Problematik im Kampf gegen Antisemitismus und Rassismus im Feld der Kunst, die von der Kunst- und Meinungsfreiheit profitiert. Da wird in Rechnung gestellt, dass die Kunstwerke mit antisemitischen Codes vorher bereits in anderen Teilen der Welt gezeigt wurden, und da wird in Rechnung gestellt, dass die Geschäftsführung der documenta keine Vorabkontrolle der Werke vorgenommen hat und ein Tatvorsetz fehlt.
____
W.K.K.: Über die Bilanz und die Zukunft der Kunstschau wird jedenfalls intensiv gestritten. Vor welchen Problemen und Herausforderungen steht die documenta und wie möchten Sie diesen begegnen?
A.H.: Unterschiedliche Symposien und Tagungen haben nach dem Abschluss der documenta fifteen versucht, zur Versachlichung der Diskussion beizutragen. Zum Beispiel die Formate der Frankfurter University of Applied Sciences, das Hamburger Institut für Sozialforschung, das Jüdische Museum in Frankfurt und die HFBK in Hamburg, die mit Reza Afisina und Iswanto Hartono zwei der Kuratoren aus dem Kurator*Innen Kollektiv ruangrupa in einer geteilten DAAD-Gastprofessur beschäftigt, haben versucht, Dialogräume zu schaffen.
Alle genannten Formate zeigen dabei auch, wie tief die Gräben und Verletzungen bei den Betroffenen sind, die sich Antisemitismus, Rassismus und Zensur vorgeworfen haben und wie groß auch die Verunsicherung bei vielen Mitdiskutant*Innen und in der Gesellschaft ist.
Zwei fundamentale Positionen stehen einander noch immer gegenüber: „Nie wieder Holocaust“ und „Nie wieder Kolonialismus“. Ein echter Dialog rund um die sehr wichtigen Fragen des Antisemitismus, des Rassismus und des Postkolonialismus ist nach wie vor schwierig.
Man darf nicht vergessen, dass die Erfahrungen der Vergangenheit auf allen Seiten schwer wiegen, hier die Erfahrung der Schoa und der Ermordung von 6 Millionen Juden, dort die Erfahrungen der „Nakba“ von Besatzung, Kolonialisierung, Unterdrückung und Zensur. Vielleicht ist schon viel gewonnen, wenn den verschiedenen Positionen Diskussionsräume, Podien und Foren geboten werden, um ihre Sichtweisen, ihre Verletzungen und Ängste zu artikulieren. Vielleicht ist schon viel gewonnen, wenn die verschiedenen Seiten einander zuhören und abweichende Positionen akzeptieren.
Nathan Sznaider hat in diesem Zusammenhang von allen Seiten mehr Ambiguitätstoleranz gefordert. Das Konzept geht auf die österreichisch-amerikanische Psychologin und Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik zurück und beschreibt die menschliche Fähigkeit, Widersprüche aushalten zu können.
Diese Fähigkeit hat es auf der documenta fifteen nicht gegeben. Wie beim „Squash-Spiel“ schnellten die Vorwürfe des Antisemitismus und Rassismus hin- und her. Dabei sollte es doch gerade dort um Weltoffenheit – ergo um Ambiguitätstoleranz – gehen.
Gerade im Feld der Kunst und Kultur müssen streitbare Positionen sichtbar bleiben können. Insbesondere eine Organisation wie die documenta muss auch weiterhin offen für die Schaffung von Diskursräumen bleiben.
____
W.K.K.: Die Antisemitismus-Debatte hat dem Ruf der documenta sehr geschadet. Schon in 2021 hatte die Ausstellung „documenta: Kunst und Politik“ im Deutschen Historischen Museum (DHM) sich unter anderem mit dem Kunsthistoriker Werner Haftmann beschäftigt, der nach dem Zweiten Weltkrieg mitverantwortlich für die drei ersten Ausgaben der documenta war und zeigte ihn nach neuen Recherchen als Nazi und Kriegsverbrecher. Muss die Geschichte der documenta neu geschrieben werden?
A.H.: Wir müssen die Aufarbeitung der documenta Geschichte unbedingt fortsetzen und systematischer aufstellen. In diesem Zusammenhang wird auch die Aufarbeitung der eigenen Geschichte eine weiterhin prägende Aufgabe für die Zukunft der documenta sein. Das documenta Archiv hat bereits die Ausstellung zu den Ursprüngen der documenta und Werner Haftmann im Deutschen Historischen Museum unterstützt und jüngst eine kritische Ausstellung zu Emil Nolde geschlossen. Das documenta Institut beteiligt sich im Forschungsprojekt zur Aufarbeitung der documenta fifteen Antisemitismus und postkoloniale Debatten am Beispiel der documenta fifteen und beschäftigt eine Wissenschaftliche Stelle, die ausschließlich zu den „kontaminierten“ Ursprüngen der documenta und der Person Haftmanns arbeitet. All diese Bestrebungen müssen ausgebaut werden, sie haben nicht nur große Bedeutung für die Zukunft der documenta selbst, sondern sie sind aber auch wesentlich für die gesamtgesellschaftliche Situation und zunehmende Polarisierungen.
____
W.K.K.: Wie fanden Sie persönlich die documenta fifteen?
A.H.: Wären die Antisemitismusvorfälle nicht gewesen, wäre die documenta fifteen vielleicht als eine der wegweisendsten documenta Ausstellungen überhaupt gewertet worden. Die Antisemitismusvorfälle des vergangenen Sommers lassen sich nicht wegdiskutieren. Sie liegen wie ein Schleier über dem vergangenen Sommer. Antisemitismus hat auf der documenta keinen Platz.
Und dennoch gilt: Die documenta fifteen mit ihrem Motto „Make Friends, not art“ hat mich in großes Staunen versetzt. Ruangrupa hat mit Lumbung, dem Bild der indonesischen Reisscheune zur Aufbewahrung von Ressourcen und ihrer gerechten Verteilung ein starkes Bild für einen weit in die Zukunft weisenden Blick aus der Perspektive des Globalen Südens auf Themen wie Kollektivität, Partizipation, Nachhaltigkeit, Solidarität und den gemeinsamen Aufbau von Ressourcen gefunden. Da gab es mit Nongkrong, einer Form des gemeinsamen Abhängens ein neues Konzept, um Zeit und Wissen zu teilen. Da gab es starke Akzente im Vermittlungsbereich, mit dem in ein Fridskul verwandelten Fridericianum, mit den Sobat-Sobat, der Möglichkeit sich die documenta in Begleitung gemeinsam auf Augenhöhe zu erschließen, da gab es die „ruru-Kids“, einen herausragend gestalteten Entdeckungsraum für Kleinkinder und Eltern.
Auch die Ergebnisse der Besucher*Innen‑Evaluation der documenta fifteen von Prof. Dr. Joanna Ożga und Prof. i.R. Dr. Gerd-Michael Hellstern von der Hochschule Fulda, die auch im documenta forum bereits vorgestellt worden sind, zeigen dieselbe Ambivalenz. Die Debatte um das Banner „People’s Justice“ hat das Publikum zwar geprägt, aber es sind hauptsächlich die Praktiken von „lumbung“ und „Vielfalt der Welt“, die in den Köpfen der überwiegend sehr zufrieden nach Hause zurückgekehrten Menschen in Erinnerung geblieben sind.
____
W.K.K.: Claudia Roth forderte mehr Einfluss des Bundes bei der documenta und meinte, dass die finanzielle Beteiligung auch eine inhaltliche bedingt. Wie sind ihre Vorstellungen zur Einbindung des Bundes in Zukunft?
A.H.: Nach dem Antisemitismusvorkommnissen bei der documenta fifteen hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth Konsequenzen für die Struktur der ausrichtenden documenta und Museum Fridericianum gGmbH und ihrer Gremien gefordert. Eine finanzielle Förderung des Bunds soll zukünftig mit einer unmittelbaren Einbindung in die Strukturen der documenta zwingend verbunden werden.
Im Abschlussbericht der fachwissenschaftlichen Begleitung der documenta fifteen wird an der Ausgestaltung des Aufsichtsrats bemängelt, dass er gegenwärtig nur aus Vertreter*Innen des Landes Hessen und der Stadt Kassel besteht. Laut Satzung sind mindestens zwei Plätze für Vertreter*Innen der Kulturstiftung des Bundes vorgesehen, die aber seit 2018 (aufgrund begrenzter Einflussnahmemöglichkeiten) nicht mehr besetzt sind und somit eine zwar nicht personenidentische, aber funktionsidentische Zusammensetzung aufweist, die die kritische und kontrollierende Funktion des Gremiums unterläuft.
Die konkrete Einbindung der Kulturstiftung des Bundes in die zukünftige Struktur der documenta soll Gegenstand der von den Gesellschaftern und vom Aufsichtsrat initiierten Organisationsuntersuchung sein. Ob und aus welcher Position heraus die Kulturstiftung des Bundes an einer zukünftigen Förderung der documenta mitwirkt, wird schon in den kommenden Wochen auf verschiedenen Ebenen Gegenstand intensiver Beratungen sein.
Dazu passt gut, dass der Abschlussbericht der fachwissenschaftlichen Begleitung mehr Expertise aus Kunst und Kultur im Aufsichtsrat fordert. Wir brauchen beides, eine starke lokale Verankerung in der Stadt Kassel und im Land Hessen, darüber hinaus aber auch nationale und internationale Expertise, die der Bedeutung der documenta als Kunstinstitution von weltweiter Bedeutung gerecht wird.
____
W.K.K.: Nach der documenta ist vor der documenta. Wie laufen nun die Vorbereitungen für die kommende documenta 16, die vom 12. Juni bis zum 19. September 2027 stattfinden soll?
A.H.: Mit Bracha Lichtenberg Ettinger, Gong Yan, Ranjit Hoskoté, Simon Njami, Kathrin Rhomberg und María Inés Rodríguez hat der Aufsichtsrat in seiner Sitzung am 30.3.2023 die Findungskommission der documenta 16 mit sechs ausgewiesene internationale Expert*Innen der zeitgenössischen Kunst gebildet. Damit geht die documenta einen wichtigen Schritt in Richtung documenta 16. Wie sie wissen, hat die Findungskommission die Aufgabe, wegweisende Persönlichkeiten der zeitgenössischen Kunst einzuladen, sich für die künstlerische Leitung der documenta 16 zu bewerben, und aus den präsentierten Konzepten das vielversprechendste Format auszuwählen. Die Berufung der Künstlerischen Leitung ist für Ende 2023 / Anfang 2024 angestrebt. Ich bin gemeinsam mit den Gesellschaftern und dem Aufsichtsrat sehr froh darüber, dass wir sechs herausragende Expertinnen und Experten aus aller Welt gewinnen konnten, die sowohl mit ihren unterschiedlichen künstlerischen, kuratorischen und kulturtheoretischen Hintergründen als auch als Persönlichkeiten gemeinsam für die Modernität, die Internationalität und die Vielfalt der documenta stehen. Die Findungskommission hat nun ausreichend Zeit, die besten und innovativsten Konzepte für Kassel zu gewinnen.
____
W.K.K.: Was wünschen Sie sich für die Zukunft der documenta?
A.H.: Die documenta muss mutig bleiben, wir brauchen Widerspruch und Provokation.
Alle documenta-Ausstellungen waren wichtige Seismographen zentraler Diskurse und Herausforderungen unserer Gesellschaft im Spiegel der Kunst. Wie beim Blick in eine Glaskugel und wie in einem Brennglas ist es dabei oft gelungen, in fast visionärer Weise aktuellste Fragen und Themen, die unsere Gesellschaft bewegen, zu fokussieren. Ich bin sicher, auch die documenta 16 wird sich an den existentiellen Krisen unserer Gegenwart und dem Kollabieren unserer Lebenswelten reiben. Sie wird uns, da bin ich ganz sicher, neue ungeahnte Probleme bereiten. Jede documenta ist anders. Keine documenta verfolgt die Agenda der vorhergegangenen Ausgabe. Die documenta erfindet sich jedes Mal neu.
____
[ Das Interview führten: Sonja Rossettini + Helmut Plate ]
Andreas Hoffmann freut sich auf die kommende documenta 16, auf seine neuen Aufgaben und die Herausforderungen.
Er könnte uns bei unserem Interview mit detaillierten Kenntnissen der Geschichte und Lage der documenta und mit klaren und strukturierten Antworten überzeugen. Er war nicht nur sehr gut vorbereitet und im Thema, sondern punktete auch mit Sympathie und Offenheit. Insbesondere freuen wir uns darüber, dass Andreas Hoffmann die Bedeutung der Kunstfreiheit betont hat und diese nicht einschränken möchte. Er betonte auch seine Skepsis gegenüber Versuchen, die Strukturen der documenta zu ändern und neue, zusätzliche Gremien zu schaffen, und versicherte, dass die Angst, die documenta könnte Kassel verlassen, völlig unbegründet sei, weil Kassel idealer Nährboden der documenta sei und die documenta zur Identität der Region beigetragen habe. Ziel von Andreas Hoffmann ist es, das Ansehen der documenta nicht nur lokal, sondern auch global zu stärken und Partnerschaften mit nationalen und internationalen Organisationen zu pflegen.
Gut oder böse, schwarz oder weiß, Freund oder Feind: So sehen viele Menschen die Welt. Dass die Dinge oft weniger eindeutig sind, halten sie nur schwer aus und das macht sie anfällig für Dogmatismus, radikales Denken und Verhärtung bis zum Fanatismus.Insbesondere glaubt Andreas Hoffmann an die hochaktuelle Bedeutung der Ambiguitätstoleranz, die er mehrfach betonte und die nicht nur die Kunstwelt, sondern unser ganzes Zusammenleben mit anderen Menschen betrifft.
Kunst ist per Definition nicht eindeutig: Ein Kunstwerk hat selten eine eindeutige Aussage und es kommen immer andere Dimensionen oder Interpretationen, nicht zuletzt die des Betrachters, hinzu. Mit dem Wissen über Ambiguitätstoleranz lässt sich einiges im Zusammenleben erklären und besser machen. Vielleicht ist genau dies die eigentliche Aufgabe der documenta als Institution, und zwar nicht nur im Hinblick auf die zeitgenössische Kunst. Bei der Ambiguitätstoleranz müssen wir ansetzen, um die Chance zu nutzen, die es uns ermöglicht, auch in der Herangehensweise an alle anderen Disziplinen einen Qualitätssprung zu machen. Und das heißt lernen.