Ausgerechnet Kassel

© Foto: docu­men­ta Archiv

Wie konn­te es 1955 zur erfolg­rei­chen Schöp­fung der bald dar­auf größ­ten und wich­tigs­ten
Kunst­aus­stel­lung der Welt kom­men, aus­ge­rech­net in der vom Krieg weit­ge­hend zer­stör­ten
Pro­vinz­stadt Kassel?

[ Von Harald Kim­pel ]

Im Jahr 1955 ereig­net sich in Kas­sel eine Bun­des­gar­ten­schau – die zwei­te der jun­gen Bun­des­re­pu­blik. Ihre Auf­ga­be ist es, aus den Rui­nen der schwer kriegs­zer­stör­ten Stadt neu­es Leben blühen zu las­sen. Auf das vom Wirt­schafts­wun­der des ers­ten Nach­kriegs­jahr­zehnts ver­nach­läs­sig­te wirt­schaft­li­che und kul­tu­rel­le Not­stands­ge­biet in geo­gra­fi­scher Rand­la­ge sol­len staat­li­che Finanz­mit­tel und überregionale Auf­merk­sam­keit gelenkt werden. 
1955
Ein ver­zö­ger­ter Wie­der­auf­bau und eine hohe Arbeits­lo­sen­ra­te bei gleich­zei­ti­gem Bevölkerungsrückgang sind nur eini­ge der Fak­to­ren jener Pro­blem­kon­stel­la­ti­on, die für die nord­hes­si­sche Stadt der­ar­ti­ge öffent­li­che Unterstützungsmaßnahmen erfor­der­lich machen. Mit der Pla­nung des bota­ni­schen Groß­ereig­nis­ses wird Her­mann Mat­tern betraut, Pro­fes­sor für Grünplanung an der Staat­li­chen Werk­aka­de­mie Kas­sel. Sei­ne Auf­ga­be ist es, das Gelän­de der Karl­saue – ins­be­son­de­re den Schutt­ab­hang zwi­schen Schö­ner Aus­sicht und Park – land­schafts­ar­chi­tek­to­nisch zu rekul­ti­vie­ren. Und wie bei allen ver­gleich­ba­ren gar­ten­ge­stal­te­ri­schen Unter­neh­mun­gen zuvor soll auch dies­mal Kunst ein­be­zo­gen werden.

Ich muss­te
aus Kas­sel
etwas machen,
um nicht
unterzugehen. 

An die­sem Punkt nun greift Arnold Bode ein. Er bie­tet sei­nem Aka­de­mie­kol­le­gen statt der üblichen skulp­tu­ra­len Ein­schieb­sel eine deut­lich umfas­sen­der ange­leg­te Alter­na­ti­ve an: sei­ne Visi­on einer Rah­men­ver­an­stal­tung von inter­na­tio­na­lem Rang und natio­na­lem Belang, mit der die mate­ri­el­len und geis­ti­gen Trümmer sei­ner Hei­mat­stadt in einer Art kul­tu­rel­ler Wie­der­auf­bau­leis­tung besei­tigt wer­den sol­len. Im aus­ge­brann­ten Muse­um Fri­de­ri­cia­num fin­det Bode den pas­sen­den Ort zur Rea­li­sie­rung jenes gro­ßen Plans, der Kas­sel schließ­lich zum tem­po­rä­ren Welt­zen­trum der zeit­ge­nös­si­schen Kunst machen sollte. 
Die defek­te Hülle des ers­ten öffent­lich zugäng­li­chen Muse­ums des euro­päi­schen Kon­ti­nents, in der nun nichts mehr fest­ge­legt und daher wie­der alles mög­lich ist, bie­tet das zeit­ge­mä­ße Ambi­en­te für eine umfas­sen­de Retro­spek­ti­ve der künstlerischen Moder­ne. Mit ihrem Zwang zur Impro­vi­sa­ti­on eig­net sich die notdürftig repa­rier­te Muse­ums­rui­ne zur sym­bo­li­schen Ver­deut­li­chung der Unbe­haust­heit von Mensch und Kunst im Nach­kriegs­deutsch­land. Hier sind alle mate­ri­el­len und atmo­sphä­ri­schen Vor­aus­set­zun­gen gege­ben, um eine Erfolgs­ge­schich­te in Gang zu set­zen, die sich von der Idee zur Insti­tu­ti­on, von der loka­len zur glo­ba­len Bedeu­tung, von der Not­lö­sung zum Mythos der Kunst­ver­mitt­lung des 20. und 21. Jahr­hun­derts ent­wi­ckeln sollte.
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