Die eigenen Sichtweisen in Frage stellen“ 

Die documenta fifteen und der Postkolonialismus

Expertenprofil 1

Interview mit Aram Ziai, Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel

Die docu­men­ta fif­teen möch­te den Post­ko­lo­nia­lis­mus the­ma­ti­sie­ren und den Kul­tur­be­trieb zum Süden öff­nen. Kunst ist auch Aus­druck poli­ti­scher Par­ti­zi­pa­ti­on und bezieht sich auf die Gestal­tung gesell­schaft­li­cher Ent­wick­lun­gen und sozia­ler Bezie­hun­gen. Daher mag es nicht ver­wun­der­lich sein, dass auch die­se docu­men­ta-Aus­stel­lung mit dem Zeit­geist gehen muss.

Schon die docu­men­ta X (1997) beschäf­tig­te sich mit dem The­ma Post­ko­lo­nia­lis­mus. Der intel­lek­tu­el­le Anspruch, den die Fran­zö­sin Cathe­ri­ne David an die Aus­stel­lung stell­te und die gefor­der­te kri­ti­sche Aus­ein­an­der­set­zung mit den poli­ti­schen, gesell­schaft­li­chen, wirt­schaft­li­chen und kul­tu­rel­len Pro­ble­men der glo­ba­li­sier­ten Gegen­wart, lie­ßen vie­le Kri­ti­ker im Vor­feld um die Auto­no­mie der Kunst fürch­ten. Die Documenta11 (2002), die erst­mals einem Nicht­eu­ro­pä­er das Amt des Kura­tors über­trug, hat­te durch fünf Platt­for­men in ver­schie­de­nen Erd­tei­len ver­sucht, die euro­zen­tri­sche Sicht und die Gren­zen der Kunst zu über­win­den. Die Betrach­tung des Post­ko­lo­nia­lis­mus folgt den Ent­wick­lun­gen der Gesellschaft.

Auch ange­sichts der Ent­wick­lun­gen der docu­men­ta fif­teen und der Debat­ten um die aktu­el­le Aus­stel­lung möch­te unser Kul­tur- und Kunst-Por­tal Welt.Kunst.Kassel sich auf das The­ma Post­ko­lo­nia­lis­mus einlassen.

Es geht uns prin­zi­pi­ell dar­um, die docu­men­ta-Debat­te im his­to­ri­schen und sozi­al-poli­ti­schen Rah­men zu betrach­ten, um die Posi­tio­nen des Südens der Welt bes­ser ver­ste­hen zu kön­nen und eine kur­ze gesell­schafts­wis­sen­schaft­li­che Abhand­lung der Impul­se, die die Kunst post­ko­lo­nia­ler Län­der
leis­ten kann. Um die Ent­wick­lungs­po­li­tik der Län­der, die auf der docu­men­ta fif­teen ver­tre­ten sind, bes­ser ein­zu­ord­nen, möch­ten wir einen Bei­trag für ein bes­se­res Ver­ständ­nis der docu­men­ta-Kunst leisten.

2014 wur­de an der Uni­ver­si­tät Kas­sel der deutsch­land­weit ers­te poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Lehr­stuhl ein­ge­rich­tet, der sich post­ko­lo­nia­len Stu­di­en wid­met. Welt.Kunst.Kassel. führ­te ein Inter­view mit Prof. Dr. Aram Ziai, Pro­fes­sor für Ent­wick­lungs­po­li­tik und Post­ko­lo­nia­ler Studien.

____

W.K.K.: Sehr geehr­ter Prof. Dr. Ziai, erst­mal vie­len Dank, dass Sie sich Zeit für uns neh­men. Sie haben bestimmt die Debat­ten über die docu­men­ta fif­teen in den letz­ten Wochen ver­folgt. Wie sehen Sie als Exper­te für Post­ko­lo­nia­le Stu­di­en die Diskussionen?

Ziai: Gene­rell hat­te ich den Ein­druck, dass es hier und da ja auch schon dif­fe­ren­zier­te Sicht­wei­sen gab, aber die Mehr­heit der Bei­trä­ge schon der Ansicht war, es sei schon von Anfang an klar gewe­sen, dass Anti­se­mi­tis­mus The­ma sein wür­de. Nach dem Mot­to: wenn man Leu­te aus dem Süden ein­lädt, muss man sich nicht dar­über wun­dern. Das führt zu einem Kurz­schluss in meh­re­ren Hin­sich­ten. In einer Hin­sicht sagt man „Süden/postkoloniale Perspektiven=Antisemitismus“, was natür­lich in kei­ner Wei­se fun­diert ist, und auf der ande­ren Sei­te macht man aber kei­ne Dis­kus­si­on auf, um zu fra­gen, ob es viel­leicht unter­schied­li­che Defi­ni­tio­nen von Anti­se­mi­tis­mus gibt. 

Es wird davon aus­ge­gan­gen, Anti­se­mi­tis­mus sei über­all auf der Welt immer das Glei­che und man brau­che nicht über Defi­ni­tio­nen und Kon­tex­te zu reden. Ich glau­be, dass das ein Feh­ler ist, denn in der inter­na­tio­na­len Debat­te, zumin­dest über die Fra­ge „Isra­el-Paläs­ti­na“ und teil­wei­se über die Fra­ge „Sin­gu­la­ri­tät des Holo­causts“, wird ganz anders gere­det als in Deutsch­land, wo sehr schnell der Bogen zum Anti­se­mi­tis­mus geschla­gen wird. Das hat natür­lich mit der in der Deut­schen Geschich­te beding­ten kri­ti­schen, aus­führ­li­chen und wert­vol­len Aus­ein­an­der­set­zung mit Anti­se­mi­tis­mus zu tun. Aber nicht nur: Es hat eben auch damit zu tun, dass hier eine gro­ße Sen­si­bi­li­tät exis­tiert, die anders­wo als über­zo­gen wahr­ge­nom­men wird. 

Ins­be­son­de­re in Hin­blick auf die pau­scha­le Annah­me, BDS sei anti­se­mi­tisch. Die Mehr­heit der Wissenschaftler_innen auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne, die sich mit dem The­ma „Isra­el-Paläs­ti­na“ aus­ein­an­der­ge­setzt haben, unter­stützt BDS oder ist min­des­tens Sympathisant_in, denn wenn man sich mit dem israe­li­schen Besat­zungs­re­gime beschäf­tigt, kann man dies schwer mit den uni­ver­sel­len Men­schen­rech­ten, Völ­ker­recht oder Selbst­be­stim­mungs­recht in Ein­klang brin­gen. In Deutsch­land wird mehr auf nur eine Sei­te geschaut und Anti­se­mi­tis­mus auf der ande­ren Sei­te gese­hen. Meron Men­del, eine der wich­tigs­ten jüdi­schen Stim­men in Deutsch­land, hat im Tages­spie­gel sinn­ge­mäß gesagt: „Wenn Men­schen im Gaza­strei­fen leben, ist es nach­voll­zieh­bar, auf­grund der Erfah­run­gen, die sie dort gemacht haben, dass sie Isra­el hassen. 

Aber die Grenz­über­schrei­tung ist, vom Staat Isra­el auf die jüdi­schen Men­schen zu ver­all­ge­mei­nern.“ Da wür­de ich ihm bei­pflich­ten, das ist der Punkt, wo es anti­se­mi­tisch wird. Kein Ver­hal­ten des Staa­tes Isra­el kann recht­fer­ti­gen, dass man Juden belei­digt und angreift, weil sie Juden sind. Das Ban­ner „Peo­p­les’ Jus­ti­ce“ auf der docu­men­ta bedien­te auf jeden Fall anti­se­mi­ti­sche Kli­schees. Des­we­gen war es rich­tig, dass das Kunst­werk abge­hängt wur­de. Auch wenn das Künst­ler­kol­lek­tiv Taring Padi eine Isra­el-Kri­tik zei­gen woll­te, haben sie sich von einer Sym­bo­lik bedient, die nicht pass­te, die die das Ver­hält­nis „Täter/Opfer“ umkehrte.

____

W.K.K.: Das The­ma Anti­se­mi­tis­mus hat nun die Anfän­ge der docu­men­ta fif­teen geprägt. Den­noch hat­te die docu­men­ta gut ange­fan­gen, die Pres­se hat­te die Ansät­ze der Aus­stel­lung posi­tiv angenommen.

Ziai: Ja, ich fin­de es ganz wich­tig, dass die docu­men­ta-Fin­dungs­kom­mis­si­on über den eige­nen Tel­ler­rand hin­aus schau­en woll­te. Sie haben das Künst­ler­kol­lek­tiv ruan­grupa ein­ge­la­den und das hat dann ande­re Künst­ler­kol­lek­ti­ve aus dem Süden ange­spro­chen. Und das fin­de ich genau den rich­ti­gen Ansatz, wenn man die eige­nen Vor­stel­lun­gen und Prä­gun­gen hin­ter­fra­gen will. Ich unter­stüt­ze die­sen Per­spek­tiv­wech­sel.
Aber jetzt wird in der öffent­li­chen Debat­te zur docu­men­ta fast nur noch Anti­se­mi­tis­mus the­ma­ti­siert. Und es stimmt ja auch, dass sich in der jüdi­schen Figur mit SS-Schrift­zug Anti­se­mi­tis­mus mani­fes­tiert, aber das eigent­li­che The­ma des Bilds ist die Kri­tik an der Dik­ta­tur in Indo­ne­si­en und ihren Unter­stüt­zern im Wes­ten. Ich wüss­te wirk­lich ger­ne, wie vie­le der Kom­men­ta­to­ren die­ser docu­men­ta sich damit aus­ein­an­der­ge­setzt haben, wel­chen Bei­trag Deutsch­land zur Sta­bi­li­sie­rung des Suhar­to-Regimes geleis­tet hat­te. Kohl hat­te Suhar­to als „sei­nen Freund“ bezeich­net, obwohl er für das Mas­sa­ker an 500.000 bis eine Mil­li­on Kommunist_innen ver­ant­wort­lich war. Das wur­de in fast kei­nem Arti­kel erwähnt. Men­schen wur­den auf­grund ihrer poli­ti­schen Gesin­nung ermor­det, von einem Regime, wel­ches von Deutsch­land unter­stützt wur­de. Das muss man in dem Zusam­men­hang auch erwähnen.

Um ande­re Ansich­ten bes­ser zu ver­ste­hen, muss man sich also mit der Geschich­te beschäf­ti­gen. Erst 2014 wur­de an der Uni­ver­si­tät Kas­sel der deutsch­land­weit ers­te poli­tik­wis­sen­schaft­li­che Lehr­stuhl ein­ge­rich­tet, der sich post­ko­lo­nia­ler Stu­di­en wid­met. Wie­so erst so spät?
Ich muss ein biss­chen rela­ti­vie­ren und kon­tex­tua­li­sie­ren. Das war tat­säch­lich ein Novum und ich freue mich sehr, dass die Uni­ver­si­tät Kas­sel in die­sem Bereich eine Vor­rei­ter-Rol­le hat. Es gab aller­dings auch schon Vor­läu­fer, zum Bei­spiel hat­te die Uni Frank­furt eini­ge Jah­re eine Juni­or­pro­fes­sur für „Post­co­lo­ni­al and Gen­der Stu­dies“ und in der Sozio­lo­gie, den Geschichts- Kul­tur- und Lite­ra­tur­wis­sen­schaf­ten wur­den post­ko­lo­nia­le Stu­di­en schon frü­her gelehrt, z.B. von Leu­ten wie Shali­ni Ran­de­ria. Gene­rell geht es den post­ko­lo­nia­len Stu­di­en um das Fort­wir­ken kolo­nia­ler Struk­tu­ren auch nach der Unab­hän­gig­keit der ehe­ma­li­gen Kolonien.

____

W.K.K.: Es scheint also so, als ob Ihr Fach­ge­biet ein brei­tes Spek­trum an The­men erfas­sen wür­de. Mit wel­chen The­men genau beschäf­tigt sich Ihr Fach­ge­biet Ent­wick­lungs­po­li­tik und Post­ko­lo­nia­le Studien?

Ziai: Wir fra­gen danach, inwie­fern sich kolo­nia­le Mus­ter und Prak­ti­ken in der Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit oder eine all­ge­mei­ne Nor­d/­Süd-Asym­me­trie in der glo­ba­len poli­ti­schen Öko­no­mie immer noch wir­ken. Aber man kann sich auch fra­gen, wie sieht es aus in der Kon­flikt­for­schung, wie sieht es aus mit den US-ame­ri­ka­ni­schen Mili­tär­ba­sen, inwie­fern fin­den sie da neu-kolo­nia­le Ver­hält­nis­se. Die USA hat­te zum Bei­spiel im Irak und in Afgha­ni­stan Son­der­rech­te aus­ge­han­delt, damit ihre Sol­da­ten nicht unter die loka­le Recht­spre­chung fallen.

____

W.K.K.: Die Post­ko­lo­nia­len Stu­di­en im Anwen­dungs­ge­biet der Kunst­ge­schich­te fokus­sie­ren die Kon­struk­ti­on kul­tu­rel­ler Dif­fe­ren­zen und Hier­ar­chien in der visu­el­len Kul­tur von der Frü­hen Neu­zeit bis zur Gegen­wart. Wie stel­len sich visu­el­le Reprä­sen­ta­tio­nen des „Eige­nen“ und des „Ande­ren“ dar?

Ziai: Im Bereich der Kunst kann man sich fra­gen: Inwie­weit spie­geln sich euro­päi­sche Kli­schees, Ste­reo­ty­pen von „lazy nati­ve“ oder der exo­ti­schen, ori­en­ta­li­schen Welt, in Bil­dern wider. In der Lite­ra­tur war es genau­so. Iko­nen der Post­ko­lo­nia­len Stu­di­en waren ursprüng­lich mit der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft beschäf­tigt. Edward Said hat bei­spiels­wei­se fran­zö­si­sche und bri­ti­sche Roma­ne ana­ly­siert und fest­ge­stellt, dass die Kon­struk­ti­on des Ori­ents jahr­hun­der­te­lang immer die­sel­ben Ste­reo­ty­pen bedien­te, die mit der empi­ri­schen Rea­li­tät Asi­ens gar nichts zu tun hat­ten, son­dern mit der Pro­jek­ti­on Euro­pas, wie man sich die Men­schen dort vor­stellt. Die eige­ne Iden­ti­tät wur­de in Abgren­zung zu den als rück­stän­dig gedach­ten Ande­ren defi­niert und somit das Recht zu erobern, zu ver­wal­ten und zu orga­ni­sie­ren beansprucht.

____

W.K.K.: Die Fas­zi­na­ti­on des Exo­ti­schen in der Kunst hat eine lan­ge Geschich­te und ent­wi­ckel­te sich von einem extrem hier­ar­chi­schen Ver­ständ­nis gegen­über dem „Frem­den“ ande­rer Kon­ti­nen­te. Begrif­fe wie Exo­tis­mus, Ori­en­ta­lis­mus und Pri­mi­ti­vis­mus zum ande­ren aber auch das „kolo­nia­le Unbe­wuss­te“ wer­den immer noch wenig the­ma­ti­siert sowie der Euro­zen­tris­mus der Kunst­ge­schich­te. Das post­ko­lo­nia­le Zeit­al­ter bemüht sich nun um eine Syn­the­se im Uni­ver­sa­lis­mus der Akzep­tanz als „poli­ti­cal cor­rect­ness“. Bei vie­len Aus­stel­lun­gen geht es nicht mehr nur dar­um, Wis­sen und Ver­ständ­nis für die Drit­te Welt zu ver­brei­ten, son­dern die Künst­ler fer­ner Regio­nen gleich­be­rech­tigt zu ver­tre­ten.
Post­ko­lo­nia­le Fra­ge­stel­lun­gen bedeu­ten für die heu­ti­ge Kunst­ge­schich­te eine Grund­re­fle­xi­on, eine Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Geschich­te und den Prin­zi­pi­en, von denen man lan­ge Zeit aus­ge­gan­gen war. Auch die Kunst­ge­schich­te ist bis in die Gegen­wart eng mit kolo­nia­lis­ti­schen Ord­nungs­mus­tern, Wer­tun­gen und Reprä­sen­ta­ti­ons­for­men ver­knüpft. Wie kön­nen wir die­se Kli­schees, Vor­ur­tei­le und Denk­wei­se, die uns jahr­hun­der­te­lang beglei­tet und geprägt hat, bear­bei­ten und überwinden?

Ziai: Ich glau­be, dass eine Kunst­aus­stel­lung wie die docu­men­ta einen rich­ti­gen und wich­ti­gen Bei­trag leis­tet, indem man die eige­nen Sicht­wei­sen in Fra­ge stellt und kon­tras­tiert mit der Per­spek­ti­ve der inter­na­tio­na­len Künst­ler und Künst­le­rin­nen. Es ist eine unglaub­lich tol­le Gele­gen­heit, sich die kri­ti­schen, oft poli­ti­schen Kunst­wer­ke hier in Kas­sel anschau­en zu kön­nen und den Per­spek­tiv­wech­sel nach­zu­voll­zie­hen. Das Kunst­werk auf der Karls­wie­se „Return to Sen­der“ bringt wie­der ins Bewusst­sein, dass Elek­tro­schrott aus Euro­pa als Müll­kip­pe in ande­ren Län­dern lan­det, dass Müll und alte Klei­der nach Afri­ka expor­tiert wer­den. Und es ist wich­tig, die Men­schen in die­ser glo­ba­li­sier­ten Welt deut­lich dar­auf auf­merk­sam zu machen, was alles mit ihrem Kon­sum zu tun hat, denn oft sehen wir die Arbeit auf den Kaf­fee- und Bana­nen-Plan­ta­gen nicht Wir sehen den Pro­duk­ten nicht an, wel­che Unge­rech­tig­kei­ten oder Gewalt­ver­hält­nis­se mit ihnen ver­bun­den sind.

____

W.K.K.: Beim Alt­klei­der­ge­schäft zum Bei­spiel haben wir den­noch den Ein­druck zu hel­fen, wir möch­ten auch Gutes tun und wir machen uns kei­ne wei­te­ren Gedan­ken, wie das die loka­le Wirt­schaft dort schä­di­gen könn­te. Neh­men wir die Zusam­men­hän­ge nicht wahr oder wer­den wir in unse­ren Denk­wei­sen beeinflusst?

Ziai: Gene­rell fin­de ich den Impuls, ande­ren hel­fen zu wol­len, unein­ge­schränkt begrü­ßungs­wert. Aller­dings muss man genau hin­schau­en, wie sinn­voll es ist oder ob es nur eine gut gemein­te Ges­te ist, die aber viel­leicht auch ande­re Kon­se­quen­zen hat. Bei Klei­der­samm­lung muss man genau hin­schau­en, wie dies die loka­le Klei­der­in­dus­trie lahm­le­gen kann.

____

W.K.K.: Es gibt vie­le Ent­wick­lungs­pro­jek­te und trotz­dem bekommt man den Ein­druck, dass sie wenig bringen.

Ziai: Ja, das ist auch eine Fra­ge, der wir im Fach­ge­biet nach­ge­hen. Ent­wick­lungs­po­li­tik ist nicht ein­fach nach dem Prin­zip „wir möch­ten hel­fen“ ent­stan­den, son­dern sie war schon immer, von Anfang an, an außen­wirt­schaft­li­che und geo­po­li­ti­sche Moti­ve gekop­pelt. Ent­wick­lungs­po­li­tik hat sich aus dem Kolo­nia­lis­mus her­aus­ge­bil­det. In die­sem Pro­gramm war auch klar, dass man nicht nur den Armen hel­fen woll­te, son­dern auch Geschäf­te machen woll­te. Man brauch­te den Zugriff auf die Roh­stof­fe, auf die frem­den Märk­te, und es wur­de kein Wider­spruch dar­in gese­hen, dass man gleich­zei­tig den Armen hel­fen, aber auch gewinn­brin­gen­de Geschäf­te machen konn­te. Es ging auch dar­um, die Aus­brei­tung des Kom­mu­nis­mus zu ver­hin­dern, dort wo es star­ke sozia­lis­ti­sche Bewe­gun­gen gab und die größ­te Befürch­tung war, dass die vie­len Staa­ten, die nach dem Kolo­nia­lis­mus unab­hän­gig wur­den, nun alle kom­mu­nis­tisch wer­den könn­ten. Vor die­sem Hin­ter­grund hat man die­sen Län­dern „hel­fen“ wol­len. Und die­se Grund­an­nah­me ist bis heu­te nicht zur Dis­kus­si­on gestellt wor­den. Die Art der Aus­beu­tung ist anders gewor­den: Man muss natür­lich schon dif­fe­ren­zie­ren, aber es gibt immer noch einen mas­si­ven Res­sour­cen- und Reicht­um­trans­fer aus den armen Län­dern in die rei­chen Län­der. Es geht um gewal­ti­ge Sum­men, die sich aus irre­gu­lä­ren Finanz­trans­fers auf Schwei­zer Kon­ten, Schul­den­dienst und Gewinn­rück­füh­run­gen mul­ti­na­tio­na­ler Unter­neh­men zusam­men set­zen. Selbst die „Offi­ci­al Deve­lo­p­ment Assis­tance“, die offi­zi­el­le Ent­wick­lungs­hil­fe, geht nur zum Teil in den Süden, wäh­rend ein gro­ßer Teil für den Nor­den für Exper­ten und Ver­wal­tung aus­ge­ge­ben wird. Mitt­ler­wei­le stel­len die Rück­über­wei­sun­gen von Migran­ten zu ihren Fami­li­en in den eige­nen Län­dern eine wich­ti­ge, weit grö­ße­re Finanz­quel­le für die loka­le Wirt­schaft im Süden dar.

____

W.K.K.:Nicht nur in den poli­ti­schen Theo­rien oder in der Phi­lo­so­phie, son­dern auch in der Kunst geht es fast aus­schließ­lich um euro­päi­sche und nord­ame­ri­ka­ni­sche Posi­tio­nen. Bei­trä­ge, die nicht aus Euro­pa oder Nord­ame­ri­ka stam­men, wer­den oft igno­riert oder nicht rich­tig gewür­digt. Es geht auch um ein kri­ti­sches Bild der eige­nen Geschich­te: Wir sol­len viel­leicht noch ler­nen, die­sen Euro­zen­tris­mus infra­ge zu stel­len. Auch Sie ver­su­chen, Wis­sen­schaft aus einer ande­ren Per­spek­ti­ve zu betrei­ben. Wel­che Inhal­te müs­sen genau hin­ter­fragt werden?

Ziai: Gene­rell muss die Vor­stel­lung hin­ter­fragt wer­den, dass wich­ti­ge Bei­trä­ge zur Wis­sen­schaft nur aus Euro­pa und den euro­päi­schen Sied­lungs­ko­lo­nien in Aus­tra­li­en und Neu­see­land kom­men. Die­se ver­meint­lich „ent­wi­ckel­ten“ Gesell­schaf­ten gel­ten auch als pri­mä­re Objek­te sozi­al­wis­sen­schaft­li­cher For­schung, wäh­rend die Aus­ein­an­der­set­zung mit Gesell­schaf­ten in Afri­ka, Asi­en und Latein­ame­ri­ka oft in die Unter­dis­zi­pli­nen Ent­wick­lungs­so­zio­lo­gie, ‑poli­tik und ‑öko­no­mie oder die Eth­no­lo­gie ver­scho­ben wird. In der Ent­wick­lungs­po­li­tik gilt das west­li­che Gesell­schafts­mo­dell oft genug immer noch als Vor­bild, obwohl es his­to­risch auf kolo­nia­ler Aus­plün­de­rung beruht und bis heu­te auf einer impe­ria­len Lebens­wei­se beruht (d.h. sie ist ange­wie­sen auf die Zufuhr bil­li­ger Roh­stof­fe und bil­li­ger Arbeits­kraft aus ande­ren Gesell­schaf­ten), die in kei­ner Wei­se nach­hal­tig ist.

____

W.K.K.: Es herrscht den­noch immer noch die Mei­nung, dass die heu­ti­gen gro­ßen Wirt­schafts­mäch­te nur des­we­gen groß gewor­den sind, weil die zivi­li­sier­te­ren Men­schen im Nor­den flei­ßi­ger und des­we­gen erfolg­rei­cher sind und einen bes­se­ren unter­neh­me­ri­schen Geist oder Initia­ti­ve haben, wäh­rend die Men­schen im Süden gelas­se­ner, aber auch unor­ga­ni­sier­ter und nicht in der Lage sind, sich sel­ber zu helfen.

Ziai: Ja, die­se Denk­wei­se herrscht heu­te immer noch, viel­leicht weni­ger als frü­her, aber auch bei Jugend­li­chen, die als Frei­wil­li­gen­dienst in den Süden gehen und davon über­zeugt sind, dass Euro­pa des­we­gen fort­schritt­lich und indus­tria­li­siert sei, weil die Euro­pä­er so flei­ßig waren. Viel­leicht waren die Euro­pä­er auch so flei­ßig, aber wenn man den Res­sour­cen-Trans­fer von 500 Jah­ren Kolo­nia­lis­mus errech­net, ohne das Gold und Sil­ber von Afri­ka und Latein-Ame­ri­ka in den Nor­den geflos­sen wäre, wäre die indus­tri­el­le Revo­lu­ti­on in Euro­pa nicht mög­lich gewe­sen. Die Tex­til­in­dus­trie in Eng­land konn­te wach­sen, weil die Tex­til­in­dus­trie in Indi­en, die in frü­he­ren Zei­ten sehr fort­schritt­lich war, wäh­rend der Kolo­ni­al­zeit dank der ent­spre­chen­den kolo­nia­len Gesetz­ge­bung zer­stört wurde.

____

W.K.K.: Folg­ten alle kolo­nia­len Mäch­te dem­sel­ben Mus­ter oder gab es Dif­fe­ren­zen in der Ver­hal­tens­wei­se und Ver­wal­tung der Kolonien?

Ziai: Man kann Dif­fe­ren­zen fest­stel­len, zum Bei­spiel zwi­schen dem fran­zö­si­schen und dem eng­li­schen Kolo­nia­lis­mus, zwi­schen Sied­lungs­ko­lo­nia­lis­mus, wo wei­ße Sied­ler erbit­tert gegen die Deko­lo­ni­sie­rung kämpf­ten, und ande­ren Kolo­nien, wo sie es leich­ter hat­ten. Man­che Situa­tio­nen wie in Nord­ame­ri­ka oder Aus­tra­li­en ziel­ten auf die Ver­drän­gung der indi­ge­nen Men­schen, die dort gelebt haben, bis hin zum Völ­ker­mord. Die docu­men­ta fif­teen the­ma­ti­siert auch die­se Aspekte.

____

W.K.K.: Deutsch­land war kei­ne so star­ke Kolo­ni­al­macht. Frank­reich zum Bei­spiel hat sich mit sei­ner kolo­nia­len Ver­gan­gen­heit sehr beschäf­tigt und wird immer noch mit dem The­ma kon­fron­tiert.
Hat Deutsch­land den Kolo­ni­al­ras­sis­mus nie auf­ge­ar­bei­tet? Geht Deutsch­land eine Auf­ar­bei­tung sei­ner kolo­nia­len Ver­gan­gen­heit aus dem Weg? Wie kann in der Gesell­schaft und in der Kunst das The­ma sen­si­bel ange­gan­gen werden?

Ziai: Ich den­ke, dass es im Wesent­li­chen zwei Grün­de gibt, war­um die Auf­ar­bei­tung des Kolo­nia­lis­mus noch am Anfang ist. Der eine Grund ist, dass Deutsch­land sei­ne Kolo­nien schon rela­tiv früh ver­lo­ren hat­te und die Wir­kung des Kolo­nia­lis­mus wei­ter zurück liegt als in Groß­bri­tan­ni­en oder Frankreich. 

Der ande­re Grund ist, dass der Natio­nal­so­zia­lis­mus und die damit ver­bun­de­nen Ver­bre­chen hier in Deutsch­land viel stär­ker im Zen­trum einer kri­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit der eige­nen Geschich­te waren, und ich bin immer noch davon über­zeugt, dass die­se Aus­ein­an­der­set­zung sehr wich­tig und wert­voll ist. Das ist eine Errun­gen­schaft, die erkämpft wor­den ist. Wäh­rend in Groß­bri­tan­ni­en oder Frank­reich die Akteu­re des Kolo­nia­lis­mus noch lan­ge an der Macht waren, hat man in Deutsch­land nach der Nie­der­la­ge im Zwei­ten Welt­krieg ver­sucht, mit der Ver­gan­gen­heit zu bre­chen. Es war ein lan­ger Kampf, die Ver­bre­chen des Natio­nal­so­zia­lis­mus anzuerkennen. 

Die­se zwei Grün­de sind dafür ver­ant­wort­lich, dass der Kolo­nia­lis­mus in der innen­po­li­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung in Deutsch­land eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le spielt. In den letz­ten zehn Jah­ren ist aber viel pas­siert, und jetzt wer­den auch hier Stim­men lau­ter, die fra­gen, wie kann es zum Bei­spiel sein, dass in deut­schen Schul­bü­chern als Anre­gung eine Dis­kus­si­on zwi­schen Pro und Con­tra des Kolo­nia­lis­mus steht. Nie­mand wür­de sich trau­en eine Dis­kus­si­on Pro und Con­tra des Natio­nal­so­zia­lis­mus anzuregen. 

Im Kolo­nia­lis­mus ist es nicht so: Noch vor eini­gen Jah­ren gab es Zei­tungs­ar­ti­kel, die behaup­te­ten, dass Kolo­nia­lis­mus gar nicht so schlecht war. Und wenn man sich das näher betrach­tet, heißt das nichts ande­res, als dass jahr­hun­der­te­lan­ge Unter­drü­ckung, Kolo­ni­al­ras­sis­mus, Ras­sen­ge­set­ze, Völ­ker­mor­de, Fol­ter, Skla­ve­rei, gar nicht so schlecht waren. Dass das in einer deut­schen Tages­zei­tung noch sag­bar ist, soll­te für einen Auf­schrei in der Gesell­schaft sor­gen, weil hier unter­schied­li­che Maß­stä­be zwi­schen den natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Ver­bre­chen und den Kolo­ni­al­ver­bre­chen ver­wen­det wer­den. Das gilt es zu ändern. Dabei geht es jedoch nicht um eine Opfer­kon­kur­renz, son­dern auf ein sich-ein­las­sen auf die Per­spek­ti­ve der ande­ren, von der eige­nen Per­spek­ti­ve oft über­se­he­nen Opfer, um „den Schmerz der Ande­ren zu begrei­fen“, wie Char­lot­te Wie­demann sagt.

____

W.K.K.: Sehr geehr­ter Prof. Dr. Ziai, wir bedan­ken uns für das Inter­view und das lehr­rei­che Gespräch.

[ Das Inter­view führ­te Son­ja Ros­se­ti­ni am 1. Juli 2022 ]

____

Prof. Dr. Aram Ziai
ist Lei­ter des Fach­ge­biets Ent­wick­lungs­po­li­tik und Post­ko­lo­nia­le Stu­di­en an der Uni­ver­si­tät Kas­sel, das 2014 als Hei­sen­berg-Pro­fes­sur der Deut­schen For­schungs­ge­mein­schaft ent­stan­den ist. Er hat in Aachen und Dub­lin stu­diert (MA in Sozio­lo­gie, Neben­fä­cher Geschich­te und Anglis­tik), in Ham­burg in Poli­tik­wis­sen­schaft pro­mo­viert und in Kas­sel in Poli­tik­wis­sen­schaft habi­li­tiert. Danach hat Ziai an den Uni­ver­si­tä­ten von Aachen, Ham­burg, Mag­de­burg, Kas­sel, Ams­ter­dam (UvA), Wien (IE), Bonn (ZEF), Accra (Legon) und Tehe­ran (UT) geforscht und gelehrt.

Facebook 
WhatsApp 
E‑Mail