„Die eigenen Sichtweisen in Frage stellen“
Die documenta fifteen und der Postkolonialismus
Interview mit Aram Ziai, Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel
Schon die documenta X (1997) beschäftigte sich mit dem Thema Postkolonialismus. Der intellektuelle Anspruch, den die Französin Catherine David an die Ausstellung stellte und die geforderte kritische Auseinandersetzung mit den politischen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Problemen der globalisierten Gegenwart, ließen viele Kritiker im Vorfeld um die Autonomie der Kunst fürchten. Die Documenta11 (2002), die erstmals einem Nichteuropäer das Amt des Kurators übertrug, hatte durch fünf Plattformen in verschiedenen Erdteilen versucht, die eurozentrische Sicht und die Grenzen der Kunst zu überwinden. Die Betrachtung des Postkolonialismus folgt den Entwicklungen der Gesellschaft.
Auch angesichts der Entwicklungen der documenta fifteen und der Debatten um die aktuelle Ausstellung möchte unser Kultur- und Kunst-Portal Welt.Kunst.Kassel sich auf das Thema Postkolonialismus einlassen.
Es geht uns prinzipiell darum, die documenta-Debatte im historischen und sozial-politischen Rahmen zu betrachten, um die Positionen des Südens der Welt besser verstehen zu können und eine kurze gesellschaftswissenschaftliche Abhandlung der Impulse, die die Kunst postkolonialer Länder
leisten kann. Um die Entwicklungspolitik der Länder, die auf der documenta fifteen vertreten sind, besser einzuordnen, möchten wir einen Beitrag für ein besseres Verständnis der documenta-Kunst leisten.
2014 wurde an der Universität Kassel der deutschlandweit erste politikwissenschaftliche Lehrstuhl eingerichtet, der sich postkolonialen Studien widmet. Welt.Kunst.Kassel. führte ein Interview mit Prof. Dr. Aram Ziai, Professor für Entwicklungspolitik und Postkolonialer Studien.
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W.K.K.: Sehr geehrter Prof. Dr. Ziai, erstmal vielen Dank, dass Sie sich Zeit für uns nehmen. Sie haben bestimmt die Debatten über die documenta fifteen in den letzten Wochen verfolgt. Wie sehen Sie als Experte für Postkoloniale Studien die Diskussionen?
Ziai: Generell hatte ich den Eindruck, dass es hier und da ja auch schon differenzierte Sichtweisen gab, aber die Mehrheit der Beiträge schon der Ansicht war, es sei schon von Anfang an klar gewesen, dass Antisemitismus Thema sein würde. Nach dem Motto: wenn man Leute aus dem Süden einlädt, muss man sich nicht darüber wundern. Das führt zu einem Kurzschluss in mehreren Hinsichten. In einer Hinsicht sagt man „Süden/postkoloniale Perspektiven=Antisemitismus“, was natürlich in keiner Weise fundiert ist, und auf der anderen Seite macht man aber keine Diskussion auf, um zu fragen, ob es vielleicht unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus gibt.
Es wird davon ausgegangen, Antisemitismus sei überall auf der Welt immer das Gleiche und man brauche nicht über Definitionen und Kontexte zu reden. Ich glaube, dass das ein Fehler ist, denn in der internationalen Debatte, zumindest über die Frage „Israel-Palästina“ und teilweise über die Frage „Singularität des Holocausts“, wird ganz anders geredet als in Deutschland, wo sehr schnell der Bogen zum Antisemitismus geschlagen wird. Das hat natürlich mit der in der Deutschen Geschichte bedingten kritischen, ausführlichen und wertvollen Auseinandersetzung mit Antisemitismus zu tun. Aber nicht nur: Es hat eben auch damit zu tun, dass hier eine große Sensibilität existiert, die anderswo als überzogen wahrgenommen wird.
Insbesondere in Hinblick auf die pauschale Annahme, BDS sei antisemitisch. Die Mehrheit der Wissenschaftler_innen auf internationaler Ebene, die sich mit dem Thema „Israel-Palästina“ auseinandergesetzt haben, unterstützt BDS oder ist mindestens Sympathisant_in, denn wenn man sich mit dem israelischen Besatzungsregime beschäftigt, kann man dies schwer mit den universellen Menschenrechten, Völkerrecht oder Selbstbestimmungsrecht in Einklang bringen. In Deutschland wird mehr auf nur eine Seite geschaut und Antisemitismus auf der anderen Seite gesehen. Meron Mendel, eine der wichtigsten jüdischen Stimmen in Deutschland, hat im Tagesspiegel sinngemäß gesagt: „Wenn Menschen im Gazastreifen leben, ist es nachvollziehbar, aufgrund der Erfahrungen, die sie dort gemacht haben, dass sie Israel hassen.
Aber die Grenzüberschreitung ist, vom Staat Israel auf die jüdischen Menschen zu verallgemeinern.“ Da würde ich ihm beipflichten, das ist der Punkt, wo es antisemitisch wird. Kein Verhalten des Staates Israel kann rechtfertigen, dass man Juden beleidigt und angreift, weil sie Juden sind. Das Banner „Peoples’ Justice“ auf der documenta bediente auf jeden Fall antisemitische Klischees. Deswegen war es richtig, dass das Kunstwerk abgehängt wurde. Auch wenn das Künstlerkollektiv Taring Padi eine Israel-Kritik zeigen wollte, haben sie sich von einer Symbolik bedient, die nicht passte, die die das Verhältnis „Täter/Opfer“ umkehrte.
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W.K.K.: Das Thema Antisemitismus hat nun die Anfänge der documenta fifteen geprägt. Dennoch hatte die documenta gut angefangen, die Presse hatte die Ansätze der Ausstellung positiv angenommen.
Ziai: Ja, ich finde es ganz wichtig, dass die documenta-Findungskommission über den eigenen Tellerrand hinaus schauen wollte. Sie haben das Künstlerkollektiv ruangrupa eingeladen und das hat dann andere Künstlerkollektive aus dem Süden angesprochen. Und das finde ich genau den richtigen Ansatz, wenn man die eigenen Vorstellungen und Prägungen hinterfragen will. Ich unterstütze diesen Perspektivwechsel.
Aber jetzt wird in der öffentlichen Debatte zur documenta fast nur noch Antisemitismus thematisiert. Und es stimmt ja auch, dass sich in der jüdischen Figur mit SS-Schriftzug Antisemitismus manifestiert, aber das eigentliche Thema des Bilds ist die Kritik an der Diktatur in Indonesien und ihren Unterstützern im Westen. Ich wüsste wirklich gerne, wie viele der Kommentatoren dieser documenta sich damit auseinandergesetzt haben, welchen Beitrag Deutschland zur Stabilisierung des Suharto-Regimes geleistet hatte. Kohl hatte Suharto als „seinen Freund“ bezeichnet, obwohl er für das Massaker an 500.000 bis eine Million Kommunist_innen verantwortlich war. Das wurde in fast keinem Artikel erwähnt. Menschen wurden aufgrund ihrer politischen Gesinnung ermordet, von einem Regime, welches von Deutschland unterstützt wurde. Das muss man in dem Zusammenhang auch erwähnen.
Um andere Ansichten besser zu verstehen, muss man sich also mit der Geschichte beschäftigen. Erst 2014 wurde an der Universität Kassel der deutschlandweit erste politikwissenschaftliche Lehrstuhl eingerichtet, der sich postkolonialer Studien widmet. Wieso erst so spät?
Ich muss ein bisschen relativieren und kontextualisieren. Das war tatsächlich ein Novum und ich freue mich sehr, dass die Universität Kassel in diesem Bereich eine Vorreiter-Rolle hat. Es gab allerdings auch schon Vorläufer, zum Beispiel hatte die Uni Frankfurt einige Jahre eine Juniorprofessur für „Postcolonial and Gender Studies“ und in der Soziologie, den Geschichts- Kultur- und Literaturwissenschaften wurden postkoloniale Studien schon früher gelehrt, z.B. von Leuten wie Shalini Randeria. Generell geht es den postkolonialen Studien um das Fortwirken kolonialer Strukturen auch nach der Unabhängigkeit der ehemaligen Kolonien.
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W.K.K.: Es scheint also so, als ob Ihr Fachgebiet ein breites Spektrum an Themen erfassen würde. Mit welchen Themen genau beschäftigt sich Ihr Fachgebiet Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien?
Ziai: Wir fragen danach, inwiefern sich koloniale Muster und Praktiken in der Entwicklungszusammenarbeit oder eine allgemeine Nord/Süd-Asymmetrie in der globalen politischen Ökonomie immer noch wirken. Aber man kann sich auch fragen, wie sieht es aus in der Konfliktforschung, wie sieht es aus mit den US-amerikanischen Militärbasen, inwiefern finden sie da neu-koloniale Verhältnisse. Die USA hatte zum Beispiel im Irak und in Afghanistan Sonderrechte ausgehandelt, damit ihre Soldaten nicht unter die lokale Rechtsprechung fallen.
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W.K.K.: Die Postkolonialen Studien im Anwendungsgebiet der Kunstgeschichte fokussieren die Konstruktion kultureller Differenzen und Hierarchien in der visuellen Kultur von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Wie stellen sich visuelle Repräsentationen des „Eigenen“ und des „Anderen“ dar?
Ziai: Im Bereich der Kunst kann man sich fragen: Inwieweit spiegeln sich europäische Klischees, Stereotypen von „lazy native“ oder der exotischen, orientalischen Welt, in Bildern wider. In der Literatur war es genauso. Ikonen der Postkolonialen Studien waren ursprünglich mit der Literaturwissenschaft beschäftigt. Edward Said hat beispielsweise französische und britische Romane analysiert und festgestellt, dass die Konstruktion des Orients jahrhundertelang immer dieselben Stereotypen bediente, die mit der empirischen Realität Asiens gar nichts zu tun hatten, sondern mit der Projektion Europas, wie man sich die Menschen dort vorstellt. Die eigene Identität wurde in Abgrenzung zu den als rückständig gedachten Anderen definiert und somit das Recht zu erobern, zu verwalten und zu organisieren beansprucht.
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W.K.K.: Die Faszination des Exotischen in der Kunst hat eine lange Geschichte und entwickelte sich von einem extrem hierarchischen Verständnis gegenüber dem „Fremden“ anderer Kontinente. Begriffe wie Exotismus, Orientalismus und Primitivismus zum anderen aber auch das „koloniale Unbewusste“ werden immer noch wenig thematisiert sowie der Eurozentrismus der Kunstgeschichte. Das postkoloniale Zeitalter bemüht sich nun um eine Synthese im Universalismus der Akzeptanz als „political correctness“. Bei vielen Ausstellungen geht es nicht mehr nur darum, Wissen und Verständnis für die Dritte Welt zu verbreiten, sondern die Künstler ferner Regionen gleichberechtigt zu vertreten.
Postkoloniale Fragestellungen bedeuten für die heutige Kunstgeschichte eine Grundreflexion, eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte und den Prinzipien, von denen man lange Zeit ausgegangen war. Auch die Kunstgeschichte ist bis in die Gegenwart eng mit kolonialistischen Ordnungsmustern, Wertungen und Repräsentationsformen verknüpft. Wie können wir diese Klischees, Vorurteile und Denkweise, die uns jahrhundertelang begleitet und geprägt hat, bearbeiten und überwinden?
Ziai: Ich glaube, dass eine Kunstausstellung wie die documenta einen richtigen und wichtigen Beitrag leistet, indem man die eigenen Sichtweisen in Frage stellt und kontrastiert mit der Perspektive der internationalen Künstler und Künstlerinnen. Es ist eine unglaublich tolle Gelegenheit, sich die kritischen, oft politischen Kunstwerke hier in Kassel anschauen zu können und den Perspektivwechsel nachzuvollziehen. Das Kunstwerk auf der Karlswiese „Return to Sender“ bringt wieder ins Bewusstsein, dass Elektroschrott aus Europa als Müllkippe in anderen Ländern landet, dass Müll und alte Kleider nach Afrika exportiert werden. Und es ist wichtig, die Menschen in dieser globalisierten Welt deutlich darauf aufmerksam zu machen, was alles mit ihrem Konsum zu tun hat, denn oft sehen wir die Arbeit auf den Kaffee- und Bananen-Plantagen nicht Wir sehen den Produkten nicht an, welche Ungerechtigkeiten oder Gewaltverhältnisse mit ihnen verbunden sind.
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W.K.K.: Beim Altkleidergeschäft zum Beispiel haben wir dennoch den Eindruck zu helfen, wir möchten auch Gutes tun und wir machen uns keine weiteren Gedanken, wie das die lokale Wirtschaft dort schädigen könnte. Nehmen wir die Zusammenhänge nicht wahr oder werden wir in unseren Denkweisen beeinflusst?
Ziai: Generell finde ich den Impuls, anderen helfen zu wollen, uneingeschränkt begrüßungswert. Allerdings muss man genau hinschauen, wie sinnvoll es ist oder ob es nur eine gut gemeinte Geste ist, die aber vielleicht auch andere Konsequenzen hat. Bei Kleidersammlung muss man genau hinschauen, wie dies die lokale Kleiderindustrie lahmlegen kann.
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W.K.K.: Es gibt viele Entwicklungsprojekte und trotzdem bekommt man den Eindruck, dass sie wenig bringen.
Ziai: Ja, das ist auch eine Frage, der wir im Fachgebiet nachgehen. Entwicklungspolitik ist nicht einfach nach dem Prinzip „wir möchten helfen“ entstanden, sondern sie war schon immer, von Anfang an, an außenwirtschaftliche und geopolitische Motive gekoppelt. Entwicklungspolitik hat sich aus dem Kolonialismus herausgebildet. In diesem Programm war auch klar, dass man nicht nur den Armen helfen wollte, sondern auch Geschäfte machen wollte. Man brauchte den Zugriff auf die Rohstoffe, auf die fremden Märkte, und es wurde kein Widerspruch darin gesehen, dass man gleichzeitig den Armen helfen, aber auch gewinnbringende Geschäfte machen konnte. Es ging auch darum, die Ausbreitung des Kommunismus zu verhindern, dort wo es starke sozialistische Bewegungen gab und die größte Befürchtung war, dass die vielen Staaten, die nach dem Kolonialismus unabhängig wurden, nun alle kommunistisch werden könnten. Vor diesem Hintergrund hat man diesen Ländern „helfen“ wollen. Und diese Grundannahme ist bis heute nicht zur Diskussion gestellt worden. Die Art der Ausbeutung ist anders geworden: Man muss natürlich schon differenzieren, aber es gibt immer noch einen massiven Ressourcen- und Reichtumtransfer aus den armen Ländern in die reichen Länder. Es geht um gewaltige Summen, die sich aus irregulären Finanztransfers auf Schweizer Konten, Schuldendienst und Gewinnrückführungen multinationaler Unternehmen zusammen setzen. Selbst die „Official Development Assistance“, die offizielle Entwicklungshilfe, geht nur zum Teil in den Süden, während ein großer Teil für den Norden für Experten und Verwaltung ausgegeben wird. Mittlerweile stellen die Rücküberweisungen von Migranten zu ihren Familien in den eigenen Ländern eine wichtige, weit größere Finanzquelle für die lokale Wirtschaft im Süden dar.
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W.K.K.:Nicht nur in den politischen Theorien oder in der Philosophie, sondern auch in der Kunst geht es fast ausschließlich um europäische und nordamerikanische Positionen. Beiträge, die nicht aus Europa oder Nordamerika stammen, werden oft ignoriert oder nicht richtig gewürdigt. Es geht auch um ein kritisches Bild der eigenen Geschichte: Wir sollen vielleicht noch lernen, diesen Eurozentrismus infrage zu stellen. Auch Sie versuchen, Wissenschaft aus einer anderen Perspektive zu betreiben. Welche Inhalte müssen genau hinterfragt werden?
Ziai: Generell muss die Vorstellung hinterfragt werden, dass wichtige Beiträge zur Wissenschaft nur aus Europa und den europäischen Siedlungskolonien in Australien und Neuseeland kommen. Diese vermeintlich „entwickelten“ Gesellschaften gelten auch als primäre Objekte sozialwissenschaftlicher Forschung, während die Auseinandersetzung mit Gesellschaften in Afrika, Asien und Lateinamerika oft in die Unterdisziplinen Entwicklungssoziologie, ‑politik und ‑ökonomie oder die Ethnologie verschoben wird. In der Entwicklungspolitik gilt das westliche Gesellschaftsmodell oft genug immer noch als Vorbild, obwohl es historisch auf kolonialer Ausplünderung beruht und bis heute auf einer imperialen Lebensweise beruht (d.h. sie ist angewiesen auf die Zufuhr billiger Rohstoffe und billiger Arbeitskraft aus anderen Gesellschaften), die in keiner Weise nachhaltig ist.
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W.K.K.: Es herrscht dennoch immer noch die Meinung, dass die heutigen großen Wirtschaftsmächte nur deswegen groß geworden sind, weil die zivilisierteren Menschen im Norden fleißiger und deswegen erfolgreicher sind und einen besseren unternehmerischen Geist oder Initiative haben, während die Menschen im Süden gelassener, aber auch unorganisierter und nicht in der Lage sind, sich selber zu helfen.
Ziai: Ja, diese Denkweise herrscht heute immer noch, vielleicht weniger als früher, aber auch bei Jugendlichen, die als Freiwilligendienst in den Süden gehen und davon überzeugt sind, dass Europa deswegen fortschrittlich und industrialisiert sei, weil die Europäer so fleißig waren. Vielleicht waren die Europäer auch so fleißig, aber wenn man den Ressourcen-Transfer von 500 Jahren Kolonialismus errechnet, ohne das Gold und Silber von Afrika und Latein-Amerika in den Norden geflossen wäre, wäre die industrielle Revolution in Europa nicht möglich gewesen. Die Textilindustrie in England konnte wachsen, weil die Textilindustrie in Indien, die in früheren Zeiten sehr fortschrittlich war, während der Kolonialzeit dank der entsprechenden kolonialen Gesetzgebung zerstört wurde.
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W.K.K.: Folgten alle kolonialen Mächte demselben Muster oder gab es Differenzen in der Verhaltensweise und Verwaltung der Kolonien?
Ziai: Man kann Differenzen feststellen, zum Beispiel zwischen dem französischen und dem englischen Kolonialismus, zwischen Siedlungskolonialismus, wo weiße Siedler erbittert gegen die Dekolonisierung kämpften, und anderen Kolonien, wo sie es leichter hatten. Manche Situationen wie in Nordamerika oder Australien zielten auf die Verdrängung der indigenen Menschen, die dort gelebt haben, bis hin zum Völkermord. Die documenta fifteen thematisiert auch diese Aspekte.
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W.K.K.: Deutschland war keine so starke Kolonialmacht. Frankreich zum Beispiel hat sich mit seiner kolonialen Vergangenheit sehr beschäftigt und wird immer noch mit dem Thema konfrontiert.
Hat Deutschland den Kolonialrassismus nie aufgearbeitet? Geht Deutschland eine Aufarbeitung seiner kolonialen Vergangenheit aus dem Weg? Wie kann in der Gesellschaft und in der Kunst das Thema sensibel angegangen werden?
Ziai: Ich denke, dass es im Wesentlichen zwei Gründe gibt, warum die Aufarbeitung des Kolonialismus noch am Anfang ist. Der eine Grund ist, dass Deutschland seine Kolonien schon relativ früh verloren hatte und die Wirkung des Kolonialismus weiter zurück liegt als in Großbritannien oder Frankreich.
Der andere Grund ist, dass der Nationalsozialismus und die damit verbundenen Verbrechen hier in Deutschland viel stärker im Zentrum einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte waren, und ich bin immer noch davon überzeugt, dass diese Auseinandersetzung sehr wichtig und wertvoll ist. Das ist eine Errungenschaft, die erkämpft worden ist. Während in Großbritannien oder Frankreich die Akteure des Kolonialismus noch lange an der Macht waren, hat man in Deutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg versucht, mit der Vergangenheit zu brechen. Es war ein langer Kampf, die Verbrechen des Nationalsozialismus anzuerkennen.
Diese zwei Gründe sind dafür verantwortlich, dass der Kolonialismus in der innenpolitischen Auseinandersetzung in Deutschland eine untergeordnete Rolle spielt. In den letzten zehn Jahren ist aber viel passiert, und jetzt werden auch hier Stimmen lauter, die fragen, wie kann es zum Beispiel sein, dass in deutschen Schulbüchern als Anregung eine Diskussion zwischen Pro und Contra des Kolonialismus steht. Niemand würde sich trauen eine Diskussion Pro und Contra des Nationalsozialismus anzuregen.
Im Kolonialismus ist es nicht so: Noch vor einigen Jahren gab es Zeitungsartikel, die behaupteten, dass Kolonialismus gar nicht so schlecht war. Und wenn man sich das näher betrachtet, heißt das nichts anderes, als dass jahrhundertelange Unterdrückung, Kolonialrassismus, Rassengesetze, Völkermorde, Folter, Sklaverei, gar nicht so schlecht waren. Dass das in einer deutschen Tageszeitung noch sagbar ist, sollte für einen Aufschrei in der Gesellschaft sorgen, weil hier unterschiedliche Maßstäbe zwischen den nationalsozialistischen Verbrechen und den Kolonialverbrechen verwendet werden. Das gilt es zu ändern. Dabei geht es jedoch nicht um eine Opferkonkurrenz, sondern auf ein sich-einlassen auf die Perspektive der anderen, von der eigenen Perspektive oft übersehenen Opfer, um „den Schmerz der Anderen zu begreifen“, wie Charlotte Wiedemann sagt.
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W.K.K.: Sehr geehrter Prof. Dr. Ziai, wir bedanken uns für das Interview und das lehrreiche Gespräch.
[ Das Interview führte Sonja Rossetini am 1. Juli 2022 ]
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Prof. Dr. Aram Ziai
ist Leiter des Fachgebiets Entwicklungspolitik und Postkoloniale Studien an der Universität Kassel, das 2014 als Heisenberg-Professur der Deutschen Forschungsgemeinschaft entstanden ist. Er hat in Aachen und Dublin studiert (MA in Soziologie, Nebenfächer Geschichte und Anglistik), in Hamburg in Politikwissenschaft promoviert und in Kassel in Politikwissenschaft habilitiert. Danach hat Ziai an den Universitäten von Aachen, Hamburg, Magdeburg, Kassel, Amsterdam (UvA), Wien (IE), Bonn (ZEF), Accra (Legon) und Teheran (UT) geforscht und gelehrt.