Grimmwelt Kassel feiert 15 Jahre
Unesco-Weltdokumentenerbe

Die Ein­tra­gung der Hand­ex­em­pla­re der Kin­der- und Haus­mär­chen der Brü­der Grimm in die Lis­te des Welt­do­ku­men­ten­er­bes jährt sich am 17. Juni 2020 zum 15. Mal: Sie gehö­ren damit zum „Memo­ry of the World“ wie das hand­schrift­li­che Tage­buch der Anne Frank. Die Hand­ex­em­pla­re gewäh­ren einen fas­zi­nie­ren­den Ein­blick in die Ent­ste­hung des neben der Luther-Bibel bekann­tes­ten und welt­weit am meis­ten ver­brei­te­ten Werks in deut­scher Spra­che. Sie bil­den das Herz­stück der Dau­er­aus­stel­lung der Grimm­welt Kas­sel.
Am 17. Juni 2020 jährt sich die Ein­tra­gung der Hand­ex­em­pla­re der Kin­der- und Haus­mär­chen der Brü­der Grimm in die Lis­te des Welt­do­ku­men­ten­er­bes zum 15. Mal.

Welt­erbe Kin­der- und Haus­mär­chen | © Stadt Kassel 

Grimm­welt Kas­sel: 15 Jah­re UNESCO-Weltdokumentenerbe

Sie sind das Herz­stück der Dau­er­aus­stel­lung der Grimm­welt Kas­sel. Peter Stoh­ler, ehe­ma­li­ge Geschäfts­füh­rer und Pro­gramm­lei­ter der Grimm­welt: „Was die Kron­ju­we­len für Lon­don sind, sind die Hand­ex­em­pla­re der Kin­der- und Haus­mär­chen der Brü­der Grimm für Kas­sel. Seit 15 Jah­ren gehö­ren sie laut UNESCO in Paris zum Gedächt­nis der Mensch­heit – auf Eng­lisch: „Memo­ry of the World“ – und wer­den auf Deutsch als „Welt­do­ku­men­ten­er­be“ bezeich­net. Die Grimm’schen Hand­ex­em­pla­re gehö­ren genau­so zum Welt­do­ku­men­ten­er­be wie das hand­schrift­li­che Tage­buch der Anne Frank (Anne Frank Haus, Ams­ter­dam) oder das Archiv des Fil­me­ma­chers Ing­mar Berg­mann (Swe­dish Film Insti­tu­te, Stock­holm). Die Grimm­welt ist stolz dar­auf, seit ihrer Eröff­nung im Jahr 2015 fünf Hand­ex­em­pla­re in einer eigens gefer­tig­ten Vitri­ne zei­gen zu dür­fen – es sind bei Wei­tem die wert­volls­ten Expo­na­te in der Dauerausstellung.“

Es han­delt sich bei den Hand­ex­em­pla­ren um die bei­den Bän­de der ers­ten (1812) und der zwei­ten (1815) Auf­la­ge, wovon letz­te­re noch einen eige­nen Anmer­kungs­band erhiel­ten. Es war haupt­säch­lich Wil­helm Grimm, der in zahl­rei­chen Über­ar­bei­tun­gen den heu­te bekann­ten Stil der Kin­der- und Haus­mär­chen schuf. „Jacob und Wil­helm Grimm über­ar­bei­te­ten vie­le ihrer Wer­ke immer wie­der, selbst bereits gedruck­te Bücher. Sie lie­ßen des­halb die Kin­der- und Haus­mär­chen für ihre For­schungs­zwe­cke in Bän­den mit einem brei­ten Rand dru­cken, der Raum für hand­schrift­li­che Anmer­kun­gen ent­hielt. Auf die­sem kom­men­tier­ten, änder­ten und ergänz­ten sie den gedruck­ten Text für wei­te­re Auf­la­gen, hiel­ten aber auch die Namen der­je­ni­gen Per­so­nen fest, die ihnen die Mär­chen über­mit­telt hat­ten. Grau­sam­kei­ten wur­den gestri­chen, damit die Mär­chen kind­ge­rech­ter wur­den.“, erzählt Dr. Sabi­ne Schim­ma, Mit­ar­bei­te­rin im Bereich Ausstellungen/Publikationen der Grimm­welt Kassel.

Welt­erbe Kin­der- und Haus­mär­chen. Foto: Dani­el Rothen

Für For­scher ist beson­ders der Anmer­kungs­band von 1822 mit sei­nen hand­schrift­li­chen Rand­no­ti­zen inter­es­sant. “Die­se soge­nann­ten Hand­ex­em­pla­re geben nicht nur wert­vol­le Ein­bli­cke in die frü­he Redak­ti­ons­ge­schich­te der Mär­chen, sie bezeu­gen auch die unaus­ge­setz­ten For­schun­gen bei­der Brü­der zur Über­lie­fe­rung der Volks­poe­sie und las­sen dabei deren indi­vi­du­el­le Antei­le und For­schungs­schwer­punk­te sicht­bar wer­den. Schließ­lich sind die Ein­trä­ge zur Her­kunft der Mär­chen die wich­tigs­ten Hin­wei­se auf die in den Druck­fas­sun­gen nicht erwähn­ten Mär­chen­bei­trä­ger.”, so Prof. Dr. Hol­ger Erhardt, deut­scher Ger­ma­nist und Inha­ber der Pro­fes­sur “Werk und Wir­kung der Brü­der Grimm” an der Uni­ver­si­tät Kas­sel.
Kul­tur­ge­schicht­lich sind die­se Bän­de beson­ders wert­voll, weil die hand­schrift­li­chen Ein­tra­gun­gen den Ent­ste­hungs­pro­zess der Kin­der- und Haus­mär­chen doku­men­tie­ren, gel­ten die­se doch als ers­te sys­te­ma­tisch und wis­sen­schaft­lich auf­be­rei­te­te Mär­chen­samm­lung welt­weit. Das ist der Grund, wes­halb die UNESCO die Hand­ex­em­pla­re 2005 zum Welt­do­ku­men­ten­er­be erhob.

7 Fra­gen – 7 Antworten:

War­um haben die Grimms Kin­der- und Haus­mär­chen gesam­melt?
Mit den Kin­der- und Haus­mär­chen und auch der Sagen­samm­lung woll­ten sie zur Besin­nung auf natio­na­le Kul­tur und ihre Beson­der­hei­ten, beson­ders in der Zeit der napo­leo­ni­schen Feld­zü­ge, bei­tra­gen.

Was ist ein „Hand­ex­em­plar“?
Ein Hand­ex­em­plar ist ein Son­der­druck (gedruck­tes Buch) mit brei­tem Kor­rek­tur­rand. Auf die­sem tra­gen die Autoren bzw. Her­aus­ge­ber Ände­run­gen, Anmer­kun­gen und Ergän­zun­gen für die Über­ar­bei­tung ein. Es ist also eine Kom­bi­na­ti­on aus gedruck­tem und hand­ge­schrie­be­nem Wort. Die­se media­le Kom­bi­na­ti­on ist von Hand­schrif­ten abzu­gren­zen, nach denen bei uns immer wie­der gefragt wird, die wir aber nicht bie­ten.
Durch den Ver­such einer ori­gi­nal­ge­treu­en Wie­der­ga­be waren die Bücher anfangs nur schwer zu lesen. Wil­helm Grimm über­ar­bei­te­te immer wie­der, um Lite­ra­tur publi­kums­freund­li­cher zu machen, Wil­helm setz­te sich in die­sem Punkt gegen Jacob durch, der die Mär­chen unbe­ar­bei­tet las­sen woll­te.

Wie vie­le Hand­ex­em­pla­re gibt es?
In der Grimm­welt gibt es per­sön­li­che Arbeits­exem­pla­re der Erst­aus­ga­ben der bei­den Tei­le der Kin­der- und Haus­mär­chen 1812 und 1815 sowie der zwei­ten Aus­ga­be von 1819 und 1822 und dem dazu­ge­hö­ri­gen Anmer­kungs­band mit hand­schrift­li­chen Anmer­kun­gen und Ände­run­gen der Grimms.

Gibt es die Hand­schrif­ten noch, nach denen die Bücher her­aus­ge­ge­ben wur­den?
Ja. Die Brü­der haben die­se Schrif­ten Ende Okto­ber 1810 Cle­mens Bren­ta­no geschickt. Nach Bren­ta­nos Tod gin­gen die Schrif­ten an einen Abt, der sie an das elsäs­si­sche Trap­pis­ten­klos­ter Ölen­berg wei­ter­gab. Dort wur­den sie im Ers­ten Welt­krieg wie­der­ent­deckt.
1953 wur­den die Hand­schrif­ten in New York ver­stei­gert und von der Fon­da­ti­on Mar­tin Bod­mer in Colo­gny-Genf erwor­ben. Bod­mer (1899 – 1971) war Schwei­zer Pri­vat­ge­lehr­ter, Samm­ler und Mäzen. Sie befin­det sich heu­te in der von ihm gegrün­de­ten Biblio­the­ca Bod­me­ria­na in Colo­gny bei Genf.
Jacob Grimm hat­te mehr als 48 Tex­te der Kin­der- und Haus­mär­chen geschrie­ben (Zahl nicht mehr klar aus­zu­ma­chen), Wil­helm 14 und ver­schie­de­ne Gewährs­leu­te 7.

War­um wur­den die Hand­ex­em­pla­re von der UNESCO ins Welt­do­ku­men­ten­er­be auf­ge­nom­men?
„Die „Kin­der- und Haus­mär­chen der Brü­der Grimm“ sind neben der Luther-Bibel das bekann­tes­te und welt­weit am meis­ten ver­brei­te­te Buch deut­scher Spra­che. Sie sind zugleich die ers­te sys­te­ma­ti­sche Zusam­men­fas­sung und wis­sen­schaft­li­che Doku­men­ta­ti­on der münd­lich über­lie­fer­ten euro­päi­schen und ori­en­ta­li­schen Mär­chen­tra­di­tio­nen.
Die Grimm’schen Mär­chen wur­den in über 160 Spra­chen aller Erd­tei­le über­setzt. Sie glei­chen einem Hohl­spie­gel, der die durch meh­re­re Kul­tu­ren gepräg­ten Mär­chen­tra­di­tio­nen ein­fängt, in neu­er Form zusam­men­fasst, bün­delt und so zurück­strahlt, dass eine neue Tra­di­ti­on dar­aus erwächst und welt­wei­te Wir­kung ent­fal­tet.
Die Ein­zig­ar­tig­keit und glo­ba­le Strahl­kraft die­ser Samm­lung geht dar­auf zurück, dass die Brü­der Grimm über deut­sche und euro­päi­sche Bezü­ge hin­aus gin­gen und ein fast uni­ver­sel­les Mus­ter völ­ker­über­grei­fen­der Mär­chen­über­lie­fe­rung geschaf­fen haben.
Die bedeu­tends­te erhal­te­ne Quel­le für die Ent­ste­hungs- und Wir­kungs­ge­schich­te der Grimm’schen Mär­chen sind die Kas­se­ler Hand­ex­em­pla­re der Kin­der- und Haus­mär­chen mit zahl­rei­chen eigen­hän­di­gen Ergän­zun­gen und Noti­zen der Grimm-Brü­der.”
(Quel­le: Deut­sche UNESCO-Kom­mis­si­on, www.weltdokumentenerbe.de)

Weite­re Grün­de für Auf­nah­me
Weil sich an ihnen die Schritte/Genese der Mär­chen ab der ers­ten Aus­ga­be 1812/1815 bis zur Aus­ga­be „letz­ter Hand“ 1857 nach­voll­zie­hen las­sen. Beson­ders Wil­helm Grimm hat die Mär­chen immer wie­der über­ar­bei­tet.
Sie sind „Mate­ria­li­en zur Geschich­te der deut­schen Poe­sie“ (Hans-Georg Sche­de), die­se Bücher soll­ten so unver­fälscht wie mög­lich bewah­ren, was um 1800 als leben­dig fort­wir­ken­de volks­tüm­li­che Erzähl­tra­di­ti­on ver­lo­ren zu gehen schien. So ent­hält der ers­te Band der Kin­der- und Haus­mär­chen noch phi­lo­lo­gi­sche Anmerkungen.

Welt­erbe Kin­der- und Haus­mär­chen Detail © Stadt Kassel

Wel­che ver­gleich­ba­ren ande­ren Bücher sind dort auch ent­hal­ten?
Log­bü­cher von James Cook, die Gol­de­ne Bul­le und die Gutenberg-Bibel

Wie hoch ist die Auf­la­ge der Kin­der- und Haus­mär­chen?
Erst­auf­la­ge: 1. Bd. ca. 1.000 Exem­pla­re, 2. Bd.: 1.000 Exemplare

Kurz­bio­gra­phien:

Prof. Dr. Hol­ger Ehr­hardt (*1964 in Son­ne­berg) ist ein deut­scher Ger­ma­nist und Hoch­schul­leh­rer. Von 2012 bis 2018 war er Inha­ber einer Stif­tungs­pro­fes­sur für Werk und Wir­kung der Brü­der Grimm an der Uni­ver­si­tät Kas­sel, seit 2018 ist er dort außer­plan­mä­ßi­ger Pro­fes­sor für Ger­ma­nis­tik mit dem Lehr- und For­schungs­schwer­punkt Werk und Wir­kung der Brü­der Grimm.

Dr. Sabi­ne Schim­ma (*1969 in Sprem­berg) war Mit­ar­bei­te­rin im Bereich Ausstellungen/Publikationen der Grimm­welt Kas­sel. Zuvor arbei­te­te sie an der Bau­haus-Uni­ver­si­tät Wei­mar und als Kura­to­rin in der Klas­sik Stif­tung Weimar.

Peter Stoh­ler (*1967 in Belp (CH)), stu­dier­te Kunst- und Film­wis­sen­schaft und Kul­tur­ma­nage­ment in Ams­ter­dam, Basel, Lon­don und Zürich. Er war Kura­tor des Hau­ses für Kunst Uri in Alt­dorf (CH), Direk­tor des Cent­re pour l’Image Con­tem­po­rai­ne in Genf (CH) und des Kunst(Zeug)Haus Rap­pers­wil-Jona (CH). Von 2007 bis 2013 lei­te­te er die För­de­rung von Kul­tur­pro­jek­ten im Kan­ton Basel-Stadt. Von 2019 bis 2021 war er Geschäfts­füh­rer und Pro­gramm­lei­ter der Grimm­welt in Kas­sel.
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